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Kapitel 3
ОглавлениеDie Jungmädchen-Zeit
Mit 10 Jahren begann sie die Jungmädchenzeit. Ich als Einzelkind freute mich darauf. Mutter war nicht gerade begeistert; für die Uniform, Weste, Hemd, schwarzes Halstuch, schwarzen Rock, Turnhemd und -Hose mussten Punkte unserer Kleiderkarte abgegeben werden. Das passte ihr nicht. „Mal sehen, ob Opa nicht eine alte Hose liegen hat für den Rock, das wird wohl genügen“ sagte sie. Opas Hose war nicht ganz schwarz, hatte feine silbergraue Streifen. Das passte mir nun wieder nicht. Aber was half's, die Schneiderin nähte mir aus eben dieser Hose einen Uniformrock.
Bei den „Aufmärschen“, die zum Glück nicht oft stattfanden und die ich sowieso nicht liebte, musste ich in der Mitte gehen des Rockes wegen. Dabei musste man schon eine gute Brille haben, um die feinen Silberstreifen zu sehen.
Abgesehen von den Aufmärschen fühlte ich mich wohl in meiner Gruppe. Unsere Führerin war reizend, immer fröhlich und gut gelaunt. Wir sangen viel mit ihr, machten Fahrtenspiele, viel Gymnastik, Ballspiele wie Völkerball, und Leichtathletiksport. Manchmal marschierten alle Gruppen zum Kino. Dort wurden uns Filme wie „Hitlerjunge Quex“, „ Horst Wessel“, dessen Lied „Die Fahne hoch“ immer der Nationalhymne „Deutschland, Deutschland über alles“ folgte, „Kadetten“ gezeigt, Besetzung Berlins von Napoleon I, oder „Junge Adler“, das Leben in einem Fliegerhorst, wo Jungens von achtzehn Jahren das Segelfliegen lernten. Natürlich waren das Filme, die uns begeisterten, und das war wohl auch der Zweck der Sache.
Zum Sportfest zu Beginn des Sommers wurde viel trainiert: laufen, Hochsprung, Weitsprung waren nicht gerade meine Stärke; ich war viel zu klein. Aber werfen konnte ich gut, und ich holte mir damit einige Punkte. Auf dem Sportplatz lernten wir, eiligst unsere Uniform auszuziehen und diese geordnet auf unseren Platz zu legen. Unsere Führerin hatte eine Stoppuhr in der Hand! Ebenso schnell musste nach dem Sport dann das Anziehen geschehen, ein wahrer Drill. Nicht alle waren geschickt und flink. Natürlich wurde uns unterwiesen, jeden Tag eine gute Tat zu tun! D.h. die Einkaufstasche einer älteren Dame zu tragen, immer höflich zu sein, mit „Heil Hitler“ zu grüßen. In meiner Gruppe wurde der „Hitler“ weggelassen; wir begrüßten uns mit „Heil“. Zu unserem Glück hat das kein nationalsozialistischer Fanatiker beobachtet.
Es gab in meiner Stadt mehrere Gruppen von Jungmädchen (bis vierzehn Jahre): eine der Gruppen spielte Theater. Diese führte im Sommer in den Wallanlagen immer ein Märchen der Gebrüder Grimm auf, wie z.B. „König Drosselbart“. Das war gekonnt.
Eine andere Gruppe war die Singschar. Die besten Stimmen sangen dort unter der Leitung einer sehr musikalischen und ausgezeichneten Oberschülerin (vier Jahre älter als ich). Ihre à-Capella-Konzerte waren immer wieder schön, und sie sangen vor einem begeisterten Publikum. Als die Mutter einer meiner Kameradinnen ein Baby bekam, studierten wir ein Wiegenlied ein und sangen dann vor ihrer Haustür. A‘s Mutter ließ sich nicht blicken. So zogen wir enttäuscht ab.
Eine ganz besonders schöne Erinnerung sind für mich unsere Bastelnachmittage: die Väter von vielen kinderreichen Familien waren an der Front, etliche waren gefallen, Weihnachtsgeschenke gab es kaum zu kaufen, also bastelten wir. Ein Brauereibesitzer, dessen Tochter auch Jungmädchen-Führerin war, stellte uns einen Kellerraum zur Verfügung. Die etwas älteren Mädchen sägten mit Laubsägen Teile aus für Babyklappern aus Sperrholz aus. Die Teile mussten abgeschmirgelt werden. Dann zeichneten wir Muster darauf mit Stricknadeln, die wir in die Glut des eisernen Ofens hielten, bis sie glühend rot waren. Ich fand, das duftete schön nach verbranntem Holz. In die Klappern hinein kamen getrocknete Linsen oder Erbsen.
Natürlich sangen wir bei der Arbeit und übten neue Weihnachtslieder ein wie das Lied von Hans Baumann „Hohe Nacht der klaren Sterne“. Mir hatte man Bauklötze zugeteilt, die auch abgeschmirgelt werden mussten. Daran hatte ich lange zu tun, und ich schwitzte nicht wenig. Anschließend malte ich sie an in verschiedenen Farben, und dann polierte ich sie mit Wachskerzenresten.
Mutti, die nun wirklich wenig Zeit hatte, da sie zu der Zeit täglich in der Munitionsfabrik arbeitete, nähte mir einen Beutel für die Bauklötze. Alle Arbeiten der verschiedenen Gruppen wurden im Schaufenster eines Kaufhauses, das Haus mit dem Storchennest, ausgestellt, bevor die Geschenke verteilt wurden. Natürlich waren wir sehr stolz.
Nach knapp zwei Tagen mussten wir betrübt feststellen, dass jemand nachts einen Backstein ins Schaufenster geworfen hatte. All unsere schönen Sachen, die wir mit so viel Mühe angefertigt hatten, waren bedeckt von Glassplittern und Staub. Die Erwachsenen schwiegen, es gab keine Aufklärung...
Als der Krieg immer schlimmere Formen annahm für uns Deutsche, mussten wir anstatt zu „marschieren“ aus Unterhemden Gefallener lange breite Streifen schneiden. Anscheinend fehlte es an Verbandmaterial in den Lazaretten. Muttis Scheren waren am Ende stumpf.
Und als die ersten Flüchtlingstransporte auf unserem Bahnhof eintrafen, wurden wir dorthin geschickt, um Brötchen zu verteilen und heißen Kakao. Mir taten die armen Menschen in den Viehwagons sehr leid. Sie sahen übermüdet aus, waren verschmutzt von der langen Fahrt, Kinder schrien, und wir erhielten kaum ein dankbares Lächeln.
Mit der immer näher rückenden Front lösten sich die Gruppen auf; jeder hatte ja mit sich selbst zu tun.
Ich bin dankbar für die knapp zwei Jahre bei den „Jung-Mädchen“, nicht BDM, sonst wäre ich in meiner Einsamkeit wohl trübsinnig geworden.