Читать книгу Jojo-Herz - Hilde Hagerup - Страница 4
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ОглавлениеElisa hatte einen Stein im Bauch, als sie erwachte. Sogar im Schlaf wusste sie, dass etwas nicht stimmte. Sie fuhr aus dem Schlaf hoch, obwohl nichts Unerwartetes geschehen war. Es hatte im Zimmer keine plötzlichen Bewegungen gegeben, keine Katze war auf die Decke gesprungen, niemand hatte sie unter den Zehen gekitzelt. Das Rollo war dicht geschlossen. Die Sonne hatte ihr also nicht ins Gesicht geschienen. Zuerst war sie verwirrt, begriff nicht, was los war, wusste nicht, warum ihr Kissen schweißnass war. Sie begriff nicht, wieso das Laken von der Matratze gerissen worden war, wie das hatte passieren können, registrierte aber, dass es sich zusammen mit dem Schlafanzug am Fußende zusammengeknüllt hatte. Den Schlafanzug hatte sie sich also auch vom Leib gerissen, und dabei war es gar nicht warm im Zimmer, sie schlief nämlich bei offenem Fenster. Das hatte sie immer schon gemacht. Für einen Moment blieb sie mit geschlossenen Augen liegen und spürte, wie der Wind über ihr Gesicht strich. Sie versuchte, mit dem Bauch zu atmen. Versuchte sich zu sagen, es sei ein Traum gewesen. Es kommt doch vor, dass wir aus Träumen erwachen, an die wir uns nicht erinnern können, das war ihr schon häufiger passiert, als Kind hatte sie oft blinde Albträume gehabt. Ab und zu träumte sie, dass sie von Männern mit Gewehren verfolgt wurde. Mehr passierte nicht. Sie lief umher und wurde von Männern mit Gewehren verfolgt, das hatte sie geträumt, als sie noch klein war, bestimmt hatte sie so etwas in den Fernsehnachrichten gesehen. Oft konnte sie sich nicht einmal an so viel erinnern, oft hatte sie nur ein Gefühl; das war immer wieder passiert, vor allem, als sie schon zur Schule ging. Ihre Großmutter kam dann herein und wollte sie trösten. Die Großmutter hatte sie weinen gehört, aber Elisa konnte nicht erklären, was so schlimm war, sie konnte sich doch nicht erinnern, und die Großmutter hatte dann von blinden Albträumen gesprochen. Wahrscheinlich war das jetzt wieder passiert, Elisa hatte einen blinden Albtraum gehabt. So musste es sein. Für einen Moment fühlte sie sich fast entspannt. Sie streckte die Beine aus, spürte die kalte Decke an ihren Waden, fragte sich, ob sie die Augen öffnen und das Rollo hochziehen sollte, fragte sich, was wohl für Wetter war, dachte, bei gutem Wetter könne sie vielleicht eine Runde laufen, versuchte sich zu erinnern, ob Sonntag oder Montag war, versuchte festzustellen, ob sie Hunger hatte und was sie zum Frühstück essen wollte. Doch dann hörte sie eine Stimme.
»Hol dich der Teufel, Martin!«
Elisa setzte sich auf und wusste plötzlich, was das Problem war. Cillia war tot. Sie keuchte. Cillia war tot. Was sich am Fußende zu einem Klumpen aufgerollt hatte, war nicht das Laken. Sondern die große weiße Decke, die Elisa am Vorabend vom Sofa genommen hatte. Sie hatte nicht die Bettdecke an ihrem Körper gespürt, sondern den Schlafsack, und vor dem Fenster befand sich kein Rollo, denn sie hatte nicht in ihrem eigenen Zimmer geschlafen. Elisa war von zu Hause durchgebrannt. Den ganzen langen Weg von der Wohnung in der Stadt über die Berge, am Fjord entlang, zu einem Haus mit einem Namen aus einem Brief, den sie auswendig wusste. Bjerkebakk. Wenn sie dieses Wort nur hörte, krampfte sich in ihrem Brustkasten alles zusammen. Als sei es kein Wort, sondern eine Brotkruste, die sie so schnell verschlungen hatte, dass sie innerlich davon zerkratzt wurde. So weh tat es. Bjerkebakk. Ich bin sicher, dass Frida das auch so sehen würde. Was denn sehen? Das wollte Elisa jetzt herausfinden. Aber schon bestand die Gefahr, entdeckt zu werden.
»Martin, das ist einfach eine blödsinnige Idee!«
Die Stimme kam von der anderen Seite der Haustür. Elisa warf sich über das Sofaende und versuchte, sich ihren Schlafanzug zu schnappen, während sie gleichzeitig nach einem Versteck Ausschau hielt. Sie hatte in einem Wohnzimmer geschlafen. Alle Möbel waren mit großen weißen Baumwolltüchern bedeckt und das Einzige, was sie vor Elisas Eintreffen gestört hatte, war der Staub. So geht es in einem Haus, das allein steht. Alles wird ein wenig grau. Bekommt eine neue Farbe. Eine, die dort hineingeht, kann mit einem Finger oder einem Stöckchen ihren Namen auf die Möbel schreiben. Es ist also doch keine Farbe, sondern nur Staub, und niemand weiß, woher er kommt, denn er stellt sich selbst dann ein, wenn die Fenster geschlossen sind. Vielleicht kommt er vom Haus. Vielleicht erneuert sich nicht nur bei Menschen die Haut mit der Zeit, sondern auch bei Häusern.
»Das ist doch nicht gefährlich, Johanne.«
Das war eine andere Stimme. Elisa merkte, dass ihr warm wurde. Sie machte sich an ihrer Schlafanzugjacke zu schaffen und stieg in ihre Jeans. Es gab hier kein Versteck. Sie war gefangen. Sie würde entdeckt werden. Sie würde entdeckt werden, in Jeans und Schlafanzugjacke und mit Schweißperlen auf der Stirn. Obwohl es gar nicht heiß war. Obwohl sie über die Luft im Zimmer höchstens sagen könnte, dass sie trocken war.
Elisa rollte ihren Schlafsack auf und stellte sich die anderen vor. Die Mädchen aus ihrer Klasse. Siri Margrete und die anderen. Sie dachte daran, was sie wohl sagen würden, wie sie Blicke wechseln würden, wenn sie es sagten:
– Ach, Elisa, ich hab gehört, du bist gestern von zu Hause durchgebrannt?
– Hast dich aber schnell wieder eingefunden.
– Und das ist nur gut so.
– Wir haben uns fast schon ein bisschen Sorgen um dich gemacht, verstehst du, Elisa.
– Aber immerhin hast du dich vor dem Sport drücken können.
– Es war also nicht der totale Reinfall.
Verdammt. Verdammt, verdammt, verdammt. Elisa wischte sich mit dem Handrücken die Stirn ab. Ihr Blick glitt zu dem offenen Fenster hinüber. Wie weit es wohl bis nach unten war? Sie wusste, dass das Wohnzimmer im Erdgeschoss lag, aber darunter gab es noch einen Keller. Sie hatte am Abend zuvor eine Treppe hochgehen müssen, hatte sich aber nicht gemerkt, wie hoch die gewesen war. Sie war im Dunkeln hier eingetroffen. Am späten Abend. Normalerweise hätte sie sich überlegt, wie gefährlich das war. Ob es gefährlich war.
– Hast du Angst, Elisa?
– Hast du Angst, du könntest den Ball ins Gesicht kriegen?
– Hast du Angst, dein Gesicht unter Wasser zu halten?
– Hast du Angst, es könnte brennen?
– Hast du Angst, den Verstand zu verlieren?
Normalerweise hätte sie sich überlegt, was alles passieren könnte, sie könnte sich ein Bein brechen, sie könnte sich am Fensterrahmen verletzen. Aber Cillia war tot und Elisa war von zu Hause durchgebrannt. Nichts war noch so, wie es immer gewesen war. Als jemand auf der anderen Seite der Wohnzimmertür die Klinke anfasste, konnte Elisa nicht einmal mehr überlegen, wer das wohl sein mochte. Sie warf Schlafsack und Proviantbeutel aus dem Fenster und sprang hinterher. Als glaube sie, das sei noch immer ein Traum. Als glaube sie, sich bei einem Sprung im Traum unmöglich verletzen zu können.
Es hatte damit angefangen, dass Elisa sich nicht erinnern konnte. Genauer gesagt, es hatte viel früher angefangen, vielleicht sogar vor ihrer Geburt, ehe irgendwer auch nur an sie gedacht hatte. Aber erst, als Elisa entdeckt hatte, dass sie sich an nichts erinnerte, wusste sie, dass etwas nicht stimmte. Alle erinnern sich. Alle haben irgendeine Erinnerung an die Zeit, als sie noch klein waren. Sie erinnern sich an irgendeinen Blödsinn. An Dinge, die eigentlich gar keine Bedeutung haben. An irgendein Missverständnis.
– Ich habe geglaubt, dass in der Abstellkammer Comicfiguren wohnen.
– Ich habe an einen Mann geglaubt, der Lakritzkönig hieß.
– Ich hatte einen roten Ball, der war mein Auto.
Solche Dinge. Kleine Erinnerungsfetzen, die nur dann etwas bedeuten, wenn man keine hat. Elisa hatte keine. Elisas Erinnerung setzte erst ein, als sie mit fünf Jahren zusammen mit ihrer Mutter in Cillias Wohnung in der Stadt gezogen war. Elisas erste Erinnerung war die Bahnfahrt. Hinten im Abteil hatte es ein Gestell mit einem Wasserbehälter gegeben und daneben waren Pappbecher befestigt. Elisa hatte einen herausnehmen und als Hut benutzen wollen. Die Mutter hatte nein gesagt. Die Mutter hatte gesagt, die Becher seien zum Trinken da. Und Elisa müsse brav sitzen bleiben und die Hände auf den Schoß legen. Elisa war brav sitzen geblieben. Lange. Sie wusste noch, dass sie aus dem Fenster geschaut hatte. Das Fenster war schmutzig gewesen. Das Glas war mit kleinen braunen Flecken übersät. So, als habe jemand eine Tasse braune Farbe gegen die Aussicht geschleudert. An allem war der Regen schuld. Der Zug wurde jede Woche gewaschen, aber niemand putzte die Zugfenster von außen. Trotzdem konnte man sich darin spiegeln. Elisa hatte sich im Zugfenster gespiegelt, während es auf der anderen Seite langsam dunkel geworden war, während Häuser und Bäume vorüberjagten. Und Felder. Große flache Felder und Wiesen, deren Gras sich grau färbte, als es dunkel wurde. Elisas Spiegelbild war die ganze Zeit da gewesen, war deutlicher geworden, als es auf der anderen Seite dunkler wurde. Ihre Haare hatte dieselbe Farbe wie draußen das Gras. Ihre Mutter nannte diese Farbe rotblond, aber Elisa wusste, dass es in Wirklichkeit grau war. Sie war hässlich. Elisa hatte ein hässliches Gesicht. Ihre Nase war viel zu spitz. Ihr Kinn zu breit. Und dann hatte sie diese Säcke unter den Augen. Elisa hatte große schwere Tränensäcke unter den Augen. Als habe der Sandmann ihr im Schlaf Würstchen unter die Haut geschoben. Das war einfach so. Die Frauen in Elisas Familie hatten alle solche Tränensäcke. Trotzdem sah Elisa gern zu, wie ihr Gesicht in der Fensterscheibe immer deutlicher wurde, je mehr sich draußen die Dunkelheit vertiefte. Sie hatte das noch nie gesehen. Ein Gesicht, das sich in einem Zugfenster spiegelte.
Und dann hatte sie den Vogel entdeckt. Während der Fensterspiegel sich immer deutlicher vor der Dunkelheit draußen abzeichnete, waren Elisas große schwere Augenbrauen lebendig geworden. Wie ein Vogel. Elisa hatte einen lebendigen Vogel auf der Stirn. Das war ihre erste und früheste Erinnerung. Und dann der Schlag. Die Hand ihrer Mutter in ihrem Gesicht. Wie danach ihre Haut gebrannt hatte. Ein prickelndes Brennen in Elisas Stirn. Als habe jemand sie mit Stecknadeln gestochen. Als liefen ihr hunderttausend Ameisen übers Gesicht.
Cillia erwartete sie auf dem Bahnsteig. Sie stand in der Dunkelheit und trug einen großen rosa Schal um den Hals. Wortlos kam sie auf Elisa zu, zog sie an sich, presste sie an ihre Hüfte, strich ihr über die Haare, viele Male. Mein Mädchen, meine Kleine. Die Mutter stand daneben, mit leerem Blick, ohne zu lächeln, ohne zu weinen, ohne auch nur mit der Wimper zu zucken.
– Was hast du denn da in der Hand, Prinzessin?, hatte Cillia gefragt.
– Das ist ein Hut, sagte Elisa und setzte sich den Becher auf den Kopf.
– Ich hatte das doch verboten.
Das war die Stimme der Mutter. Hannahs Stimme, die ganz leer war. Sie hatte keinen Tonfall, war nicht heiser. Sie klang gar nicht wie Mutters Stimme, sondern wie die Stimme einer Radiosprecherin.
– Die Becher sind zum Trinken da, sagte die Mutter.
– Sie wollte nicht auf mich hören. Sie hört überhaupt nie auf mich, Cillia.
– Ich wollte doch nur einen Hut, sagte Elisa.
– Sie muss auf mich hören, sagte die Mutter.
Da. Da war nun doch ein Zittern. Da war doch etwas in der Stimme. Cillia hatte keine Antwort gegeben. Sie hatte sich gebückt, hatte sich über Elisa gebeugt, hatte ihr behutsam die Wange und die Stirn gestreichelt, die noch immer gerötet waren.
– Sie soll auf mich hören. Die Mutter ließ nicht locker. Zitter zitter zitter in der Stimme. Als säße der Mutter ein kleiner Motor am Gaumen.
– Aber, aber, sagte Cillia.
Elisa hatte gemerkt, dass sie einen Kloß im Hals bekam. Sie hatte sich doch nur einen Hut gewünscht. Sie hatte einfach einen Hut haben wollen. Und es hatte noch andere Kinder gegeben, im Abteil waren noch andere Kinder gewesen, die sich schon längst Becher geholt hatten. Der Schaffner war vorübergegangen, ohne ein Wort zu sagen.
– Aber, aber, sagte Cillia und streichelte Elisas rote Wange. – Ich finde, das ist ein schöner Hut.
Eine heiße Welle war durch Elisas Bauch geschwappt. Das hier war Cillia. Das hier war Elisas Großmutter, die Mama ihrer Mutter, und der gefiel der Hut. Ein schöner Hut. Ich kann gut verstehen, dass du dir so einen Hut gewünscht hast. Das ist doch ganz normal. Ich kann das sehr gut verstehen. Ich hätte mir sicher auch so einen geholt, wenn ich dabei gewesen wäre, wenn ich mit in der Bahn gesessen hätte. Ich kann dir sagen, dann hätte ich auch so einen Hut haben wollen. Das war der Anfang gewesen. So hatte alles angefangen, in Elisas Erinnerung.
– Zitter, sagte die Mutter.
– Danke, sagte Elisa.
Cillia hatte ihr zugezwinkert. Das Nächste, woran Elisa sich erinnerte, hatte sie sich vielleicht nur ausgedacht. Sie bildete sich ein, dass Cillia ihr etwas ins Ohr geflüstert hatte:
Jetzt wird alles so schön. Elisa. Bei mir wirst du dich wohlfühlen. Hörst du? Hörst du, was ich sage? Denk daran! Wir werden es uns schön gemütlich machen, Elisa. Und alles tun, was du willst. Und alles essen, was du gern magst. Und nicht mehr an das denken, was passiert ist. Glaubst du, du schaffst es, die ganze Zeit einfach nur froh, froh, froh zu sein? Wenn du dir Mühe gibst? Wenn du dir ganz große Mühe gibst? Wollen wir das so machen?
Danach hatte Cillia sich aufgerichtet, sich zur Mutter umgedreht, vorsichtig die Arme um sie gelegt und sie an sich gedrückt. Ganz lange. Die Mama der Mama. Und die Mutter war in Tränen ausgebrochen.
Ganz plötzlich. Einfach so, von nirgendwoher. Vielleicht von einem Motor im Hals aus. Cillia drückte sie lange an sich. Dann nahm sie beide an die Hände. Eine Hand für jede, die Koffer kamen hinterher. Die Koffer hatten Räder und lange Schlaufen, die sie sich um die Handgelenke legen konnten.
– Jetzt gehen wir nach Hause, sagte Cillia.
Hannah weinte auf dem ganzen Weg zum Auto. Auf dem Bahnsteig roch es nach Pipi. Es war spät und dunkel. Elisa dachte daran, dass doch eigentlich nicht die Mutter weinen sollte. Nicht die Mutter war auf den Vogel in ihrem Gesicht geschlagen worden, nur weil sie sich einen Hut wünschte.