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Die Eindringlinge in Bjerkebakk, die Elisa fast entdeckt hätten, hatten einen Ziertisch zerstört. Das hatte so laut geklirrt. Jemand hatte offenbar versucht, sich darauf zu setzen. Ansonsten hatten sie keine besondere Unordnung gemacht und sie hatten ihren Geldbeutel nicht gefunden. Der Brief jedoch lag auseinander gefaltet und offen auf dem Sofa, auf der einen Kekspackung. Verdammt. Elisa faltete ihn ordentlich zusammen und steckte ihn mit dem Bild in den Umschlag. Ihr Brief zum vierzehnten Geburtstag. Der Elisa zum Durchbrennen veranlasst hatte. Cillia hatte ihn nur wenige Tage vor ihrem Tod geschrieben. Elisa hatte ihn ganz unten in einer von Cillias Kommodenschubladen entdeckt. Sie hatte nicht schnüffeln wollen. Sie war einfach in Cillias Zimmer gegangen, um sich aufs Bett zu legen. Um Cillias Geruch wahrzunehmen. Cillias Geruch, der noch immer im Bettzeug hing. Den scharfen Geruch des großen weichen Morgenmantels aus rosa Frottee. Cillias Zimmer war das einzige Zimmer, das noch immer es selbst war. Die übrige Wohnung war langsam aber sicher geleert worden. Staub und Spinnweben sammelten sich zusammen mit Schmutz in den Ecken. Dreckige Fenster, dreckige Kleider, dreckige Erinnerungen und verrußte Bilder. Ich habe heute Geburtstag, trallerallera. Ich will mir gratulieren, trallerallera. Es war einige Tage vor Elisas vierzehntem Geburtstag gewesen. Es war kein Wunder, dass sie Cillias Geruch wahrnehmen wollte. Nur das wollte sie. Nur deshalb war sie in Cillias Zimmer gegangen. Weil sie sich so nach ihr sehnte. Im Zimmer war alles unberührt. Die große grüne Tagesdecke auf dem Bett. Die Fotos von einer Reise in die Pyrenäen. Spanische Berge. Die Vogeltapete an der Wand. Das war Cillia. Das war sie und es war doch nicht sie, denn sie war nicht da. Sie war nicht da, sie war nicht da. Ein Spukzimmer. Und die Vorhänge flatterten noch immer, seit sie gegangen war, obwohl es jetzt viele Stunden, viele Tage her war. Über eine Woche. Elisa hatte sich auf Cillias Bett gelegt und starrte die Decke an, und dabei fiel ihr Blick auf die Kommode. Und dann hatte sie eben hineingeschaut.

– Was suchst du da, Elisa?

– Nichts.

– Suchst du ein Geburtstagsgeschenk?

– Nein, tu ich nicht.

Nein, das tat sie wirklich nicht. Aber dann fand sie trotzdem eins. Den Briefumschlag. Den Brief. Die Fahrkarten nach Bjerkebakk. Ich möchte, dass wir dorthin zurückkehren. Alle drei. Deine Mutter, du und ich. Erinnerst du dich an das weiße Haus? Ich lege ein Bild bei. Ich weiß nicht, ob das hilft. Aber es hatte geholfen, es war das Einzige gewesen, das half. Wenn auch nicht so, wie Cillia sich das vorgestellt hatte. Sie waren nicht zusammen gefahren. Nicht alle drei und auch nicht die beiden, die noch übrig waren. Elisa fuhr allein, an dem Tag, an dem sie vierzehn wurde. Sie hatte sich aus dem Haus geschlichen. Während ihre Mutter auf dem Sofa lag und sich ›Beverly Hills‹ anschaute. Während Siri Margrete im Klassenzimmer saß und sich darüber aufregte, dass manche sich einfach frei nahmen.

– Fehlt Elisa jetzt nicht schon ziemlich lange, Frau Evensen?

– Elisa hat es im Moment nicht leicht, Siri Margrete.

– Sicher nicht. Aber fehlt sie jetzt nicht schon ziemlich lange?

Elisa Bjerkebakk war von zu Hause weggelaufen. Willst du wissen, warum wir so sind, wie wir sind, Elisa? Wenn Cillia auch nur ein halbes Jahr früher gefragt hätte, dann hätte Elisa durchaus nein sagen können. Wir wollen nicht immer alles wissen und manchmal ist die Kindheit, die wir uns ausgedacht haben, besser als die wirkliche, von der wir nichts wissen. Aber im letzten halben Jahr hatte manches sich geändert. Elisa konnte nicht sagen, was diese Veränderungen ausgelöst hatte. Sie war auch früher schon böse auf ihre Mutter gewesen. Aber sie hatte nie zuvor Stiefel angezogen, um auf dem Gang herumzutrampeln, wenn Cillia geflüstert hatte: – Mama schläft auf dem Sofa. Sie hatte noch nie Rezepte zerrissen, Medikamente versteckt oder nur für sich allein gekocht. Und als sie das machte, hatte sie nicht einmal ein schlechtes Gewissen dabei. Es gefiel ihr. Elisa freute sich über das Gesicht ihrer Mutter in der Küchentür, als sie den letzten Rest Spaghettisoße in den Mülleimer kippte. Sie freute sich darüber, dass die Mutter klein und verwirrt aussah, im grauen Morgenrock und mit Wülsten unter den Augen.

– Hast du ... wollen wir ... Mittagessen?

Dass sie nicht einmal einen vollständigen Satz formulieren konnte. Alles! Alles an der Mutter ging Elisa inzwischen auf die Nerven.

– Ich weiß nicht, was du willst, aber ich habe gegessen, Mama.

– Ach.

– Du kannst dir ja selber was kochen, wenn du willst.

– Ach.

– Ich gehe jetzt jedenfalls ins Kino.

– Ach.

Später hatte Cillia sie getadelt und gefragt, ob Elisa wirklich geglaubt habe, Hannah könne sich selber etwas kochen? Sollten sie sich denn nicht umeinander kümmern? Waren sie vielleicht keine Familie? Aber Elisa bereute nicht einmal, als sie ausgeschimpft wurde, sie bereute nicht einmal, als sich in ihrer Brust alles zusammenklumpte, weil Cillia böse auf sie war. Das verwirrte Gesicht ihrer Mutter wog das alles auf. Gleich nach Cillias Tod und nur eine Woche nach dieser Szene hatte Elisa den Brief gefunden. Willst du wissen, warum wir so sind, wie wir sind, Elisa? Erst, als Elisa den Brief gelesen hatte, wusste sie, dass sie genau das wissen wollte. Warum sind wir so, wie wir sind? Welchen guten Grund hat eine Mutter, wenn sie beschließt, nicht mehr Mutter zu sein? Wenn sie sich neun Jahre lang aufs Sofa legt und fragt: hast du ... wollen wir ... Mittagessen, wenn sie nicht gerade ›Beverly Hills‹, ›Glamour‹ oder Wiederholungen von ›Falcon Crest‹ sieht? Cillia war tot. Elisa und ihre Mutter waren ganz allein und Elisa wusste, wenn sie nicht eines Tages ins Wohnzimmer gehen und ihrer Mutter ins Gesicht schlagen wollte, dann musste sie in Erfahrung bringen, was passiert war. 21. Mai 1990. Elisa musste nach Bjerkebakk fahren. Und jetzt war sie hier. Ohne schlechtes Gewissen. Ohne auch nur einen Stich in der Brust, wenn sie an den Zettel dachte, den sie auf dem Küchentisch hinterlegt hatte.

Liebe Mama,

ich bin weggefahren, um Atem zu holen.

Such nicht nach mir.

Bis bald.

Elisa

Das Einzige, was Elisa etwas ausmachte, war die Vorstellung, dass sie vielleicht entdeckt werden würde. Was, wenn ich entdeckt werde? Was, wenn sie mich hier finden, ehe ich suchen kann, ehe ich die finde, die Frida heißt? Das war der einzige Gedanke, der Elisas Herz so heftig schlagen ließ, dass sie dachte, sie habe gar kein echtes Herz in der Brust sitzen, sondern ein Jojo. Manchmal musste sie kotzen. Manchmal musste Elisa über sich selber kotzen. Sie beugte sich über den zerbrochenen Ziertisch und entdeckte daneben auf dem Boden ein kleines Fernglas. Ein Fernglas mit einem braunen Lederriemen, damit man es um den Hals hängen konnte. Offenbar hatten die Eindringlinge es verloren. Was hatten sie sich ansehen wollen? Sie selber vielleicht? Die im Wohnzimmer schlafende Elisa? Sie hob das Fernglas hoch und hielt es einen Moment lang in der Hand. Danach hängte sie es sich um den Hals und riss dann die Decke von dem zerbrochenen Tisch. Die war aus dem gleichen Stoff wie die, die sie am Vorabend vom Sofa genommen hatte. Aus dicker weißer Baumwolle. Eine kleine graue Wolke stieg auf, als sie die Tischdecke wegzog. Die Wolke bestand nicht nur aus Staub. Sondern auch aus Glas. Der Tisch war von einer Glasplatte bedeckt gewesen, die jetzt zerbrochen war. Die Fotos, die auf der Glasplatte gestanden hatten, waren unversehrt. Elisa zitterte. Nicht nur an den Händen. Sie zitterte am ganzen Leib. Als habe sie sich plötzlich aus einem dünnen Mädchen in eine Puppe aus Seidenpapier verwandelt. Langsam fing sie an, mit zitternden blutigen Handrücken die Glassplitter von den Fotos zu wischen.

Und ihre Mutter. Ihre Mutter, die immer müde gewesen war, so müde. Und Cillia. Cillia, die immer fröhlich gewesen war, so fröhlich. Und Elisa. Elisa, die gar nichts empfunden hatte. Gar nichts, gar nichts. Nichts in den Augen, nichts im Bauch. Und auch nichts im Kopf. Wie eine Postkarte. So war das gewesen. Genauso flach wie das Bild auf einer Postkarte.

– Kannst du nicht von damals erzählen, als ich klein war, Cillia?

– Was soll ich denn erzählen?

– Egal was. Hatte ich zum Beispiel ein Tier?

– Ja, das hattest du.

– Was für ein Tier?

– Welches Tier magst du am liebsten?

– Katzen.

– Da hast du’s. Du hattest ein Kätzchen.

– Und das hieß Wuschel?

– Ja.

– Cillia!

– Was ist los?

– Nicht lügen, Cillia.

– Elisa, das darfst du nicht sagen.

– Hatte ich eine Katze oder hatte ich keine?

– Du ... ehrlich gesagt, ich finde, du quengelst, meine Liebe. Ich weiß es nicht mehr. Schon möglich, dass du eine Katze hattest. Spielt es denn eine so große Rolle, ob du eine Katze hattest oder nicht?

– Ja.

– Du hattest eine Katze.

– Ganz sicher?

– Ja.

– Und hieß die Wuschel?

– Das weiß ich nicht mehr, mein Herzchen.

Neben dem Wohnzimmer führte eine Tür in eine große offene Küche mit einem riesigen Herd und eisernen Töpfen unter der Decke. Dorthin ging Elisa mit den Bildern. Sie setzte sich an den großen länglichen Holztisch.

– Hier habe ich einmal gesessen und Kerben ins Holz geritzt.

Jetzt war der Tisch mit dem gleichen weißen Stoff bedeckt wie die Möbel im Wohnzimmer. Elisa zog das Tuch nicht herunter. Sie ließ ihren Blick über die Wände gleiten. Über Decke, Kamin, das oberste Fach in der Vitrine, wo sie durch die Glastüren ein blaues Porzellanservice gerade noch ahnen konnte. Über die Bilder vor ihr auf dem Tisch. Dort standen viele Bilder. Vom Haus, von ihr, von Menschen, die irgendwann mit ihrer Familie befreundet gewesen sein mussten. Bilder von Menschen, die sie nicht kannte. Ein Bild eines vollbärtigen Mannes, der neben einer rothaarigen Frau stand. War das vielleicht Elisas Vater? Es wäre möglich. Vielleicht war das der Vater zusammen mit der, die Frida hieß? Elisa sah sich die anderen Bilder an. Sie hielt bei einem der Mutter inne. Es war ein wichtiges Bild. Es erzählte etwas. Elisa hatte noch nie Bilder ihrer Mutter aus der Zeit gesehen, als sie in Bjerkebakk gewohnt hatten. Nicht nur, dass die Mutter damals dünner gewesen war, sie war auch kleiner. Sie saß auf einem Hocker und hatte die Beine hochgezogen. Das Bild war im Garten aufgenommen worden. Elisa konnte das Haus im Hintergrund gerade noch erkennen, die weißen Wände, an denen die Farbe jetzt abblätterte. Die Mutter lächelte in die Kamera und offenbar war die Sonne kurz vor dem Untergehen. Das Licht wärmte ihr Gesicht. Sie sah fast golden aus. Elisa biss sich in die Lippe. Mama, Mama. Elisa konnte sich nicht an diese Mutter erinnern. Nicht so. Und jetzt ging es ihr auf. Nicht ihre Mutter hatte in diesem Haus gewohnt. Sondern eine andere. Die Mutter war zweiundzwanzig gewesen, als die Eltern nach Bjerkebakk gezogen waren. Für Elisa waren es noch acht Jahre, bis sie so alt würde. Das war nicht mehr lange. Die, die einmal Elisas Mutter gewesen war, war mit zweiundzwanzig hergezogen, als sie so alt war, wie Elisa in acht Jahren sein würde, und sie war nicht krank gewesen, sie war nicht müde gewesen, sie hatte keine Säcke unter den Augen gehabt. Elisa wusste nicht, was passiert war. Sie wusste nicht, warum. Aber etwas an diesem Foto, an dieser Mutter, die sie nicht kannte, sorgte dafür, dass etwas zerbrach. Genau wie Porzellan. So als habe Elisa ein Herz aus Porzellan. Sie weinte zum ersten Mal seit Cillias Tod, und als sie damit erst einmal angefangen hatte, konnte sie nicht mehr aufhören. Sie weinte, weil ihre Mutter krank war, weil Cillia tot war. Sie weinte, weil sie nicht mehr in Bjerkebakk wohnte, weil sie nicht mehr in der Stadt wohnte, weil sie keine Großmutter mehr hatte, weil sie nicht mehr wusste, was sie hatte. Weil sie vielleicht gar nichts hatte. Außer einem Haus, einem großen baufälligen Haus mit einer großen Küche, einem großen Garten, Bergen, einem Birkenwald und einer Allee im Hintergrund, das alles aber ohne, ganz ohne Menschen.

Was bedeutet es, keine Erinnerungen zu haben? Was würde das Haus erzählen, wenn es sprechen könnte? Was würde es sagen?

– Ach, Elisa, schön, dass du wieder hier bist. Willkommen zu Hause. Du bist aber groß geworden.

– Kannst du dich an mich erinnern?

– Natürlich kann ich mich an dich erinnern. Ich kann mich an euch alle erinnern.

– Auch an meinen Vater?

– Erik. Mathematiklehrer, war er nicht Mathematiklehrer?

– Ich weiß nicht.

– Du weißt nicht?

– Ich kann mich nicht an ihn erinnern.

– Jetzt machst du Witze.

– Nein, so ist es. Ich kenne ihn nicht. Ich weiß nicht einmal, wie er aussieht. Ich habe nicht einmal seinen Namen gekannt. Ich kann mich an nichts erinnern.

– Aber ich.

– Erzähl.

– Der schönste Tag war der, an dem sie gekommen sind.

– Mama und Papa?

– Deine Eltern.

– Wie sahen sie aus?

– Deine Mutter trug ein langes blaues Kleid. Dein Vater hatte einen Vogel über den Augen.

– Wie ich!

– Genau wie du.

– Und dann?

– Dann hat Hannah Erik gefragt, ob es ihm hier gefiel.

– Und was hat er gesagt?

– Dass er es wunderschön fand. Dass er noch nie etwas Schöneres gesehen hatte. Dass es ihn an eine Gegend aus einem Märchen erinnerte. Und dann hat Hannah gefragt, ob er gern hier wohnen würde.

– Was hat Erik gesagt?

– Für immer.

– Und dann haben sie sich geküsst?

– Dann haben sie sich geküsst.

– Auf der Treppe?

– Ja.

– War das schön?

– Wie auf einer Postkarte, Elisa.

– An den fehlenden Fähigkeiten liegt es nicht, Elisa, oder?

Frau Evensen hatte im Klassenzimmer ihre Kreise gedreht. Ihre Achter. Sie glaubte offenbar, die anderen merkten das nicht. Cillia war es vielleicht nicht aufgefallen, Elisa aber wohl. Pult, links, Fenster, drehen.

Links, Pult, rechts, Tür, drehen. Rechts, Pult, und wieder von vorn. Elisa hatte ihre Schritte genau verfolgt. Cillia hatte nur auf die Stimme geachtet.

– Die Fähigkeiten sind nicht das Problem, oder?

– Nein, sagte Elisa, aus Angst, etwas Wichtiges verpasst zu haben. Aber in Wirklichkeit war von ihr gar keine Antwort erwartet worden. Frau Evensen war stehen geblieben, hatte die Augenbrauen hochgezogen und Cillia angesehen. Cillia und Frau Evensen hatten beschlossen, dass Elisa versuchen sollte, ein wenig sozialer zu werden. Nicht so laut zu schreien, wenn sie wütend wurde, nicht die Hefte der anderen Mädchen zu zerreißen. Und sich nicht an Schikanen zu beteiligen. Wenn sie nur versuchte, ein wenig netter zu sein, würde sie es auch leichter haben, das hatten Cillia und Frau Evensen beschlossen.

– Und das Akademische ergibt sich dann von selber, sagte Frau Evensen.

Cillia nickte. Cillia glaubte das auch. Frau Evensen fragte, ob Elisa das nicht auch glaube. Elisa hatte gesagt, ja, sie glaube das auch. Frau Evensen sagte nichts mehr, sie runzelte nur die Stirn. Elisa hatte nicht die erwünschte Antwort gegeben. Elisa wäre froh gewesen, wenn Frau Evensen weiterhin Achter gelaufen wäre, aber sie sagte nichts mehr und dann gingen Cillia und Elisa nach Hause. Das war jetzt ein Jahr her.

Am ersten Abend in Bjerkebakk hatte Elisa das Gefühl, beobachtet zu werden. Das kommt manchmal vor. Wir fahren durch eine Straße, wir denken an etwas anderes, vielleicht pfeifen wir, wir singen, wir versuchen, etwas zu planen. Ein Gespräch. Etwas Wichtiges, das wir erledigen müssen. Und dann passiert es, einfach so, plötzlich haben wir das Gefühl, beobachtet zu werden, jemand sieht uns, kann das wirklich nur Einbildung sein? Steht da nicht jemand, auf der anderen Straßenseite, hinter den Bäumen, die alte Dame, die eben vorübergegangen ist? Hat sie sich nicht umgedreht? Starrt sie uns nicht an? Wir drehen uns um, wir bleiben stehen, wir starren zurück und ja, richtig, richtig. Sie sieht uns an, die alte Dame ist stehen geblieben und da steht noch jemand zwischen den Bäumen, und jetzt kommen sie auf dich zu, sieh nur, jetzt kommen sie auf dich zu, ist das nicht ... deine Großmutter, deine alte Lehrerin, eine gute Freundin, sicher haben sie dich angesehen, haben deinen Nacken angestarrt, und das hast du gespürt, du hast es gewusst, ohne zu sehen, dass sie sich umgedreht haben, es war ein Gefühl, dieses Gefühl, das in der Regel zutrifft.

So war es auch jetzt. Elisa stand am Wohnzimmerfenster und schaute zum Fluss hinüber. Und dann hatte sie plötzlich ganz stark das Gefühl, dass jemand sie ansah. Dass jemand vor dem Fenster stand. Oder nicht? War das nicht der Umriss eines Auges, einer Stirn? Sicher, sicher. Aber dann war es wieder verschwunden. Als sie sich zum Fenster umdrehte, war es verschwunden. Elisa stand auf. Ihr Herz hämmerte. Es war doch nicht aus Porzellan. Es hatte sich zusammengeballt, zu einem kleinen Klumpen zusammengeballt, einem kleinen nervösen Klumpen in ihrem Bauch, und es pochte, es schlug. Elisa merkte, dass ihr schlecht wurde. Sie ging zum Fenster, schob den Vorhang beiseite, schaute hinaus. Niemand. Die Sonne ging unter, legte ein Stück Goldbrokat über den Rasen, ließ Silberkörner in den Fluss rieseln, hing am Himmel wie ein schwacher Scheinwerfer. Das war schön. Es war wirklich schön und sie blieb stehen, schaute im Dunkeln den Garten an, schaute, bis sie keine Angst mehr hatte, bis sie vergessen hatte, dass sie geweint hatte, bis sie dachte, dass sie eigentlich gern hier war, dass es toll war, ganz allein in einem Haus zu sein, einem Haus, wo niemand bestimmte, dass sie flüstern sollte, auf Strümpfen herumschleichen, ganz leise sein, leise in einer Ecke sitzen, in einem winzigen Zimmerchen, weil jemand müde war, so müde, dass sie nicht einmal die Beine aus dem Bett heben konnte. Ein Haus unter einer Felswand, hinten an einem Fjord. Deshalb bemerkte sie den Jungen nicht, der zum Wäldchen lief, bemerkte nicht, dass er sich umdrehte und dass das Licht der untergehenden Sonne für einen Moment auf sein Gesicht fiel, auf ein bleiches, fahles Gesicht auf einem dünnen kleinen Körper. Wenn sie darauf geachtet hätte, hätte sie gesehen, dass er sie anstarrte, ehe er verschwand.

Jojo-Herz

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