Читать книгу Die Überquerung der Feuerzangenbowle - Hildegard Becker - Страница 3
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ОглавлениеIn einem alten Jack Nicholsen Film, dessen Titel mir entfallen ist, wird zum Ende hin eine junge Frau von einem Gangster verfolgt. Scheinbar kommt sie, sehr zu seiner Freude, an einem steilen Abhang nicht mehr weiter. Aber dann passiert es: sie überbrückt den Abgrund mit einem wunderbaren Spagatsprung und landet elegant auf dem gegenüberliegenden Felsen. Während sie den rechten Arm hebt, um stolz den Mittelfingergestus zu präsentieren, ruft sie dem völlig verblüfften Verfolger zu: „9 Jahre Ballett, du Arschloch!“ Dieser Satz als Ausdruck höchster Genugtuung ist seitdem bei mir zum Bonmot avanciert, erfährt aber durch, „25 Jahre Ballett, du Arschloch“, noch eine kleine Steigerung. Ob ich den Sprung allerdings so hinbekommen würde sei dahingestellt, aber für mich zählt der Symbolcharakter des Satzes. Angewandt schon bei kleinen Erfolgen, die mir nicht zugetraut werden, oder Recht behalten in irgendeiner Angelegenheit, ist dabei unbedingt erforderlich, dass der andere kein Sympathieträger ist und dass ich es ihm „gezeigt“ habe. Unter diesen Voraussetzungen hebt diese, allerdings aus Gründen der Contenance, öfter gedachte als ausgesprochene Devise, meine Stimmung und stärkt das Selbstbewusstsein.
Überhaupt vergleiche ich das Leben oft mit Filmszenen, die mir zu bestimmten Gelegenheiten durch den Kopf schießen. Selbst für meinen Hochzeitswalzer vor zig Jahren griff ich auf Musik aus einem Hitchcock Film zurück. Deshalb ist es nicht eigentlich verwunderlich, dass mich die Theater- und Filmwelt in ihren Bann zieht. Aber auch das richtige Leben, unser „Real Life“, schreibt oft genug so gute Geschichten, dass sie unglaublicher erscheinen als manche Leinwandstory. Abenteuer muss sich nicht unbedingt wie bei Indiana Jones anfühlen, mit Lagerfeuerromantik assoziiert werden, oder mit dem berühmten Wurf in ein Haifischbecken. Abenteuer kann auch bei uns zu Hause während der täglichen Prozesse und Rituale stattfinden, man muss sie nur sehen. Abenteuer liegen oft zum Greifen nah. Sie können hart, bitter, aufregend, lustig und manchmal einfach nur lästig sein. Wir können uns in ein Abenteuer mit lässigem Schwung hineinfallenlassen, ahnungslos hineintappen, aber auch nicht selten gemein hineingestoßen werden. Befinden wir uns mitten in unserem persönlichen Abenteuerstrudel, kämpfen wir uns heraus, um nicht unterzugehen. Oder wir lassen uns treiben, genießen, sind dabei jedoch mit einem Auge schon auf der Suche nach dem nächsten Erlebnis.
Meine Geschichte beginnt in einem Alter, in dem die Meisten schon viele Abenteuer bestanden haben. Selbstverständlich habe auch ich ein Vorleben, aber es ist für die folgenden Ereignisse eher nebensächlich. Vielleicht werde ich einmal an anderer Stelle einige Episoden preisgeben. Dennoch möchte ich mich nun kurz vorstellen: Ich gehöre der Generation an, die noch auf der Straße spielen konnte. Es gab zwar schon Spielplätze, dort benutzte ich aber ausschließlich das Kotzkarussell, den Fliegenpilz (außen mit den großen Jungs) und die Lauftrommel (mit Bein hochziehen). Zu Hause bei uns gegenüber, wo sich seit endloser Zeit ein Wohnblock erhebt, stand der Hof von Bauer Scholzen, der immer nach dem Schlachten einen Wurstteller in der Nachbarschaft herumreichte. Eine Prämisse meines Vaters lautete: „Ein Indianer kennt keinen Schmerz.“ Er war Kicker in einer bekannten rheinischen Fußballmannschaft und impfte mir schon früh eine sportliche Weltanschauung ein. Gedrillt durch väterliches Training, wollte ich zeitweise ein Junge sein, was durch Vaters Typberatung, „ein sportliches Mädchen trägt die Haare kurz“, optisch unterstützt wurde. Manchmal spornte mich bereits der süßlich-penetrante Gummigeruch verschwitzter Knieschoner, mit denen ich aufwuchs, zu sportiven Glanzleistungen an. Etwas später entdeckte ich meine Liebe zum Ballett und wollte lieber tanzen als Fußballspielen. „Kommt gar nicht in Frage“, so der Kommentar, „da laufen doch nur Affen rum!“ Damit war zunächst das Thema erledigt. Erst viel später setzte ich mich durch- und blieb beim Tanz. Auch heute noch fühle ich mich dem kleinen Billy Elliot verbunden, der gegen den Willen seines Vaters den Boxring mit dem Ballettsaal tauscht. Und auch bei mir war der Vater, allerdings erst sehr viel später, stolz auf das, was sein Kind zu bieten hatte. Oft schon habe ich mich gefragt, warum viele Menschen sich immer auf gewisse Erfolge ihrer Kinder stützen müssen, ganz so, als ob diese Leistungskrücke zwingend notwendig sei, um daran das eigene Selbstwertgefühl aufzurichten. Warum reicht es nach einer gewissen Zeit einfach nicht mehr aus, Tochter oder Sohn derselben Eltern zu sein, die damals bei unserer Geburt in einen Freudentaumel gerieten, unsagbar stolz auf uns, ohne dass wir dafür etwas anderes geleistet haben, außer endlich da zu sein?
Wenn man uns Frauen schon in die amerikanische, östliche, exotische, oder französische Typschublade steckt, würde ich mich der letzten Kategorie zuordnen. In diesem Zusammenhang betone ich immer wieder gerne meine (entfernte) französische Verwandtschaft. Von Großtante Christine dieses Zweiges stammt das Zitat: „Obwohl wir arm waren, hatten wir immer einen guten Geschmack.“ Und, ein Filmgeständnis Dany DeVitos: „Ich liebe Geld“, habe ich für mich in: „Ich liebe Schmuck“, abgewandelt. Keine teuren Klunker, die könnte ich mir sowieso nicht leisten, aber hie und da ein kleines Schmuckstück und- auf jeden Fall Ohrringe! Ohne sie läuft nichts- Ohrringe müssen immer sein, sonst fühle ich mich nackt. Und nackt gehe ich nicht auf die Straße. Und, ich liebe Friseur. „Wenn die Haare nichts sind, nutzt das schönste Kleid nichts“, pflegt meine Mutter zu sagen, von der ich die Leidenschaft für Friseurbesuche unmittelbar mit der Muttermilch übernommen habe. Sie ist Schneiderin und muss es ja wissen. Böse Zungen in meinem Freundeskreis behaupteten schon vor Jahren, dass ich aufgrund dieser Neigung das Vermögen meines Mannes verplempere. Da er keins hat, kann ich weiter den Friseuren die Tür einrennen. Trotz meines fortgeschrittenen Alters bin ich also eitel geblieben, beziehungsweise es wird täglich schlimmer. Ich merke es daran, dass die Zeiten im Bad und beim Anziehen immer länger werden, damit ich so natürlich lässig wirke, als sei ich soeben aufgewacht und hätte die Haare mit einer Jeans durchgewuselt, in die ich danach gesprungen bin. Die Banalität dieser Koketterie beschämt mich, aber bisherige Selbstbremsversuche sind völlig fehlgeschlagen.
Wenn ich mich einsam fühle, obwohl ich mit Klaus-Willi[1] verheiratet bin, wenn ich Stress habe, oder wenn irgendetwas Undefinierbares mit mir nicht stimmt, muss ich mir einen Quarkauflauf nach dem Rezept meiner Oma backen. Bei höchster Alarmstufe der für vier bis sechs Personen. Den esse ich komplett. Denn der macht Alles wieder gut. In vielen Märchen werden die Protagonisten von einer guten Fee nach drei Wünschen befragt. Im realen Leben wird man leider bei dieser Art der Befragung übergangen, nichts desto trotz möchte ich mich dazu äußern, damit sie Rückschlüsse auf meine Person ziehen können. Dabei bin ich mir ziemlich sicher, dass meine anvisierten Herzensbedürfnisse nichts Besonderes sind und wahrscheinlich von jedem dritten Mitmenschen geteilt werden. Also: seit Jahrzehnten hege ich den großen Wunsch, mich mit allen Freunden heimlich in ein Kaufhaus einschließen zu lassen und dort bis zur Öffnung am nächsten morgen eine Riesensause zu veranstalten.
Bei meinem zweiten Wunsch würde ich gerne ausprobieren, ob der russische Trick des Tischabräumens funktioniert: Die Tafel ist festlich gedeckt und wird durch das Wegziehen der Tischdecke aufgehoben. Oder durch das zerbrochene Geschirr. Zu Hause traue ich mich nicht diesen Kniff auszuprobieren, denn das kann unter Umständen teuer werden. Vom Krach mit dem Ehemann ganz zu schweigen.
Trotz ständiger Wiederholungen konnten die Fernsehanstalten meinen dritten Wunsch bisher nicht erfüllen: In einer Seriennacht möchte ich hintereinander alle Lieblingssendungen meiner Kindheit und Jugend noch einmal erleben. Vielleicht erinnern sich ältere Leser noch gerne an Froschmann Mike Nelson, an Kobra übernehmen Sie (hierzulande hieß es noch nicht Mission Impossible, sondern Unmöglicher Auftrag) oder Hiram Holiday? An Lassie mit Jeff (nicht mit Timmy, der war langweilig), Vilma und King, Fury, am Fuß der blauen Berge, Sprung aus den Wolken, Sport, Spiel, Spannung (aber nur Spannung ), und viele, viele andere mehr, sowie an Uraltfolgen der Serie Bonanza. Bonanza! Schon als Kind begeisterte mich der chinesische Koch Hop Sing so sehr, dass ich jedem erzählte: „Wenn ich später einmal reich bin, möchte ich einen chinesischen Koch.“ Später wurde ich zwar nicht reich, modifizierte aber meinen Wunsch in: „Ich hätte gerne einen asiatischen Koch und einen Masseur und…ein Boxspring-Bett.“ Später ist auch noch heute.
Apropos China, ich reise gerne. Am liebsten zu den unterschiedlichsten Orten der Welt, soweit es der Etat erlaubt. Nachdem dieser mittels einer umfassenden Finanzprüfung festgelegt wird, stellt sich in unserem Hause die obligatorische Urlaubsfrage: „Entspannung oder Abenteuer?“ Allerdings können beide Kategorien im Laufe der Reise mühelos eine Liaison miteinander eingehen. Ganz wichtig hierbei ist aber die Einhaltung der obersten Ferienfaustregel: für null Sterne buchen- für zehn Sterne Spaß haben! Ich hoffe, dass durch die legere Vorstellung meiner Person vor ihrem geistigen Auge bereits die Protagonistin dieser Geschichte entstanden ist, oder zumindest ihr Schattenriss imaginiert werden kann. Mehr zu wissen ist zu diesem Zeitpunkt nicht nötig, denn alles Weitere ist selbsterklärend.
Ach so- ich bin übrigens bis auf einige frühe Experimente und Chemieunfälle blond. Jedenfalls so gut wie immer. Während ich hier gerade meine eigene Geschichte Revue passieren lasse, träume ich von deren Verfilmung. Ich denke zwar an eine internationale Produktion, aber mit einem in Deutschland ansässigen Regisseur, da die nachfolgenden Begebenheiten Kenntnis über eine Einrichtung voraussetzt, die es meines Wissens so in anderen Ländern nicht gibt. Kühn denke ich daran, dass Kevin Spacey als mein Ehemann Klaus-Willi ideal besetzt wäre. Der ist auch jünger als ich. Aber Spacey arbeitet doch auch als Regisseur, fährt es mir durch den Kopf, indessen unser Regisseuralphabet von Akin an bis Wortmann durchgehend. Vielleicht erträgt er keinen künstlerischen Leiter aus Deutschland. Diesen Gedanken verdränge ich sofort.
Auf jeden Fall aber sehe ich Marianne Sägebrecht bereits absolut authentisch in ihrer Rolle als skurrile Lehrerin Annilore Frenken. Oder doch Nina Hagen? In meiner Vorstellung vergebe ich weitere Rollen an herausragende Darsteller. Omnipräsente Vorzeigeakteure haben bei meinem Casting keine Chance. Bis auf Einen. Mario Adorf! Er, und wirklich nur er, ist sprachlich in der Lage, der Figur meines Vaters ihren waschechten Akzent zu verleihen.[2] Aus rationalen Gründen lasse ich jedoch in diesem Buch meinen alten Herrn hochdeutsch reden, denn ansonsten wäre eine adäquate Übersetzung dringend erforderlich. Filmmusikalisch tummeln sich in meinem Kopf wunderbare Ideen zu den einzelnen Sequenzen, selbst die Titelmusik kann ich schon festlegen. Eine schräge französische Jazzband, mit einer kräftigen Saxophonistin und ihrer „Maman“ an der Klarinette, bekommt den Auftrag für die Komposition. Dann und wann spielen sie samstags nachmittags in schreiend roten Shirts auf einem kleinen Podest vor der Kathedrale Notre Dame in Paris. Schwierigkeiten ergeben sich lediglich bei meiner eigenen Person, denn schließlich spiele ich die Hauptrolle. Keine Frage, ich liebe die Schauspielerei. Nur ist meine Sprache mit einem leicht rheinischen Singsang durchtränkt, der sich vor allem in emotionalen Situationen verstärkt entfaltet. Wie wirkt das auf ein nicht ausschließlich rheinländisches Publikum? International wiederum sehe ich kein Problem- mein Englisch ist nicht schlecht, und zur Not kann man sich synchronisieren lassen.
Trotz meiner Ambitionen sehe ich ganz klar eine Favoritin: Neiiiiin! Also bitte! Die doch nicht! Die auch nicht! Na, und die erst recht nicht! Und alle anderen sind noch zu jung. Halt! Stopp! Meine Damenwahl fällt auf…ach was, entscheiden sie lieber selbst! Ich gebe aber noch zu bedenken, dass diese Person glänzend zu Kevin Spacey als Filmehemann Klaus-Willi passen sollte.
Hoffentlich tanzt sie gerne.
Ich bin davon überzeugt, wenn sie meine Geschichte zu Ende gelesen haben, werden sie denken, den Film bereits gesehen zu haben. Oder sich wünschen ihn zu sehen.