Читать книгу Das Kreuz des Schweigens / Die Sühnetochter - Zwei Romane in einem Band - Hildegard Burri-Bayer - Страница 11

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Toulouse, April 1207

»Die Legaten des Papstes sind eingetroffen«, meldete Gordon von Longchamp und blieb abwartend in der Tür zum Privatgemach des Grafen von Toulouse stehen. Raimund VI. betrachtete den dunkelblonden Ritter nachdenklich. Der drittgeborene Sohn von Hugues de Longchamp war vor zehn Jahren im Gefolge Johanna Plantagenets, der Schwester von Richard Löwenherz, nach Toulouse gekommen. Johanna war seine dritte Gemahlin geworden, und Gordon war in seinen Dienst getreten, als seine Herrin drei Jahre später überraschend gestorben war. Raimund hatte Gordon selbst zum Ritter geschlagen und es nie bereut, ihn in seine Ritterschaft aufgenommen zu haben. Aus dem ungestümen Jungen von damals war ein athletisch gebauter Kämpfer geworden, der mit dem Schwert umzugehen verstand wie kaum ein anderer und der ihm darüber hinaus treu ergeben war.

»Und was hast du für einen Eindruck von dieser erlauchten Gesandtschaft?«

Gordon von Longchamp hatte sich längst daran gewöhnt, dass der Graf von Toulouse ihn ab und an nach seiner Meinung fragte, zumal er seinem Herrn grundsätzlich nur das sagte, was er auch dachte, und sich darin wohltuend von den meisten anderen Höflingen unterschied, die den Grafen ständig umschmeichelten. »Man könnte meinen, der Papst wäre höchstpersönlich erschienen«, erwiderte er und konnte sich ein Grinsen nicht verkneifen.

Raimund lächelte nun ebenfalls.

»Dann werden wir sie wohl auch entsprechend behandeln müssen, um ihr Wohlwollen zu gewinnen«, sagte er und zweifelte nicht im Geringsten daran, dass ihm dies gelingen würde.

Es war das zweite Mal, dass die Kirche seine Ländereien mit dem Interdikt belegen und ihn exkommunizieren wollte, weil er nichts gegen die als Häretiker geltenden Katharer und die Juden in seinem Land unternahm und den Kirchen und Klöstern seine Hilfe bei der Bekämpfung der Ketzer verweigerte. Seine Toleranz gegenüber Andersgläubigen hatte zu einem seit Jahrzehnten schwelenden Konflikt zwischen ihm und der katholischen Amtskirche geführt. Irgendwann war er der ständigen Drohungen und Klagen leid gewesen und hatte erklärt, es wäre allein die Sache der Bischöfe, die Häresie zu bekämpfen, während es seine Aufgabe sei, sich mit weltlichen Angelegenheiten zu befassen. Das hatte den damaligen Papst Coelestin III. so sehr erzürnt, dass er ihn im Jahre elfhundertsechsundneunzig mit dem Kirchenbann belegt hatte. Selbst der Umstand, dass Raimund daraufhin versichert hatte, er sei ein genauso guter Christ wie sein Vater und sein Großvater, die beide im Heiligen Land ihr Leben gelassen hatten, nutzte ihm nichts. Der Heilige Vater hatte sich weiterhin geweigert, den gegen ihn verhängten Bann wieder aufzuheben. Erst sein Nachfolger, Papst Innozenz III., hatte ihn zwei Jahre später vom Bann losgesprochen, und danach war alles weitergegangen wie bisher.

Er würde die leidige Sache mit dem drohenden zweiten Bann auf die gleiche Art und Weise aus der Welt schaffen, wie er es schon das erste Mal getan hatte: Indem er die Legaten fürstlich bewirtete, ihnen anschließend den reumütigen Sünder vorspielte und ihnen dann versicherte, all ihre Bedingungen anzunehmen.

Gordon folgte dem Grafen von Toulouse in den großen Saal. Schon auf dem Weg dorthin wehte ihnen der Duft von Gebratenem, würzigen Kräutern und köstlichen Backwaren entgegen.

Raimund VI. hatte seinen Truchsess, den Juden Nathan, beauftragt, den päpstlichen Legaten Peter von Castelnau und seine beiden Begleiter, Bruder Raoul und Ritter Albert, zu den Ehrenplätzen an der mit weißem Linnen bedeckten Tafel zu geleiten. Pater Stephan, der Burgkaplan, staunte nicht schlecht, als er ebenfalls einen Platz am oberen Ende der Tafel zugewiesen bekam und nicht wie üblich eingekeilt zwischen dem ewig mürrischen Stallmeister und dem zänkischen Falkner sitzen musste.

Der Truchsess, der ihn normalerweise kaum beachtete, schenkte ihm höchstpersönlich Wein in seinen Becher, und als Peter von Castelnau seinen Becher hob und ihm ganz selbstverständlich zunickte, als wäre er einer der Seinen, konnte er sein Glück kaum fassen. Die heilige Mutter Kirche war in der Gestalt ihres Legaten erschienen, um endlich die gerechte Ordnung wiederherzustellen, zu der auch gehörte, dass man ihre Priester mit dem ihnen zustehenden Respekt behandelte.

Seit dem Tod des vorangegangenen Grafen, Raimund V., der ein tapferer Kreuzritter und strenggläubiger Katholik gewesen war, hatte sich einiges am Hofe der Grafen von Toulouse geändert. Die Oberhäupter der Katharer, der Guten Christen oder auch der Vollkommenen, wie sie allgemein hießen, wurden, sobald sie auftauchten, voller Ehrfurcht begrüßt und an der Tafel eigenhändig vom Grafen bedient, während man ihn schlichtweg übersah, so als wäre er gar nicht vorhanden. Offiziell war er zwar noch immer der Beichtvater Raimunds VI., aber es war viele Jahre her, dass der Graf das letzte Mal nach seinem geistigen Beistand verlangt hatte. Er hatte sich damit abgefunden, weil ihm nichts anderes übrig geblieben war.

Peter von Castelnau, der links neben ihm saß, unterbrach ihn in seinen Gedanken und beugte sich vertraulich zu ihm hinüber. »Es ist sicher nicht einfach für Euch, unter all diesen Ungläubigen zu leben«, meinte er.

Pater Stephan war gerührt ob so viel ungewohnter Anteilnahme. »Ich bete Tag und Nacht für die Seele des Grafen und die anderen verlorenen Seelen hier am Hof«, beteuerte er. Peter von Castelnau sah ihm direkt ins Gesicht. »Wir wissen, dass Ihr Eure Pflicht gewissenhaft erfüllt und auch, dass Ihr Euch ganz besonders um Eure weiblichen Schäfchen verdient gemacht habt.« Der Tonfall von Castelnaus Stimme war mit jedem Wort schärfer geworden, bis am Ende jede Freundlichkeit aus ihr verschwunden war.

Pater Stephan erbleichte. Wenn die Gesandtschaft des Heiligen Vaters von seinem heimlichen Verhältnis mit der Wäscherin Marguerite wusste, was wussten sie dann noch? Dass er bei der Beichte kleinere und größere Gefälligkeiten für die Erteilung der Absolution entgegennahm? Mal ein Fässchen Wein, einen Schinken oder ein Lammfell gegen die Kälte im Winter?

Er wagte es nicht, den Legaten des Papstes länger anzusehen, und senkte seinen Blick wie ein ertappter Sünder. Peter von Castelnau fuhr daraufhin in einem etwas milderen Ton zu sprechen fort, aber vielleicht kam es ihm auch nur so vor, weil der Gesandte nun so leise sprach, dass er fast schon flüsterte. »Wir wünschen einen wöchentlichen Bericht über alles, was an diesem Hof vor sich geht. Behaltet insbesondere den Grafen im Auge und stellt fest, mit wem er sich trifft, an wen er Boten sendet, wer seine wahren Freunde sind und wer seine Feinde. Euren Bericht hinterlegt ihr am Vorabend eines jeden Sonntags auf dem Boden hinter dem Altar.« Pater Stephan wurde es auf einmal ganz anders. Ausgerechnet er sollte seinen Herrn bespitzeln? Wenn das herauskäme, wäre er endgültig erledigt. Er fuhr sich über den fast kahlen Schädel, der nur noch von einem schmalen Kranz struppiger gelber Haare bewachsen war, und sah den Legaten des Papstes bittend an. »Euer Vertrauen ehrt mich, Ehrwürden, aber ich bin nur ein einfacher Priester und verstehe nicht viel von solchen Dingen.« Er öffnete den Mund, um etwas hinzuzufügen, doch der scharfe Blick des Truchsesses ließ ihn verstummen. Peter von Castelnau wedelte Nathan mit einer ungeduldigen Handbewegung fort, obwohl dieser nur in Ausübung seines Amtes zu ihnen getreten war, um sich zu vergewissern, dass sich noch genügend Wein in ihren Bechern befand. Dabei hatte Nathan allerdings auch die Gelegenheit genutzt, Pater Stephan einen warnenden Blick zuzuwerfen.

»Der Kerl, der uns bedient, ist ein Jude, oder nicht?« Peter von Castelnau, dem der Blickwechsel zwischen den beiden Männern nicht entgangen war, sprach so laut, dass der Truchsess ihn hören musste. Pater Stephan fühlte sich immer unbehaglicher. Er nickte nur wortlos und sah sich vorsichtig um, um festzustellen, wie Nathan auf die abfällige Bemerkung des Legaten reagieren würde. Doch der Truchsess ließ sich nichts anmerken. Mit unbewegter Miene verrichtete er seinen Dienst an der Tafel, wies den Mundschenk an und erteilte den Dienern Befehle.

»Ihr fürchtet Euch doch nicht etwa vor einem Juden?«, fragte Peter von Castelnau ungläubig, dem der ängstliche Blick des Priesters nicht entgangen war. Pater Stephan begann zu schwitzen. Der Legat des Papstes hatte gut reden. Er würde schon bald wieder abreisen, während er selbst hierbleiben und zusehen musste, wie er zurechtkam. Es gab Gerüchte, dass die Juden im Norden von Frankreich nicht sonderlich angesehen waren und bisweilen sogar verfolgt wurden, aber in Toulouse besaßen alle Bürger die gleichen Rechte, und zudem war der Truchsess auch noch ein besonderer Günstling des Grafen. Pater Stephan war noch immer dabei, sich zu überlegen, wie er sich am besten aus der Affäre ziehen konnte, als der Graf mit seinem Gefolge den Saal betrat und seinen Platz an der Tafel einnahm. Die Musikanten begannen zu spielen, und der erste Gang wurde aufgetragen. Pater Stephan bemerkte erleichtert, wie das Interesse des Legaten an seiner Person augenblicklich nachließ. Die knusprigen Rehkeulen, die zum ersten Gang gereicht wurden, waren mit Honig übergossen und dufteten einfach himmlisch. Dazu wurden junge, in Milch gekochte Bohnen, Früchte und weißes Brot gereicht. Es folgten Hasen- und Entenpasteten, Krebse und Aale in verschiedenen Soßen, ein mächtiges Wildschwein, das von den Dienern geschickt in mundgerechte Stücke zerteilt wurde, und süße Törtchen in geflochtenen Körben. Es war ein Festmahl, das es nur an ganz besonderen Tagen gab. Raimund von Toulouse war der vollendete Gastgeber, der Höflichkeiten mit den neben ihm sitzenden Gesandten austauschte, sobald die Spielleute aufhörten zu musizieren, sodass man meinen konnte, hätte man es nicht besser gewusst, er wäre seinen Gästen freundschaftlich verbunden. Pater Stephan hatte die Köstlichkeiten nicht so recht genießen können. Sosehr er die Aufmerksamkeit der hohen Kirchenherren zu Anfang genossen hatte, sosehr wünschte er sich nun, man hätte ihn einfach in Ruhe gelassen.

Aus den Augenwinkeln heraus beobachtete er, wie Peter von Castelnau sich das dritte Törtchen in den Mund schob und es mit einem großen Schluck Wein hinunterspülte. Als hätte der Legat seinen Blick gespürt, neigte er leicht den Kopf in seine Richtung.

»Gleich werdet Ihr Zeuge sein, wie die Kirche mit den Feinden des wahren Glaubens verfährt«, erklärte er, und obwohl es fast beiläufig klang, spürte Pater Stephan, wie ihm ein kalter Schauer über den Rücken lief. Peter von Castelnau nahm das Tischtuch, wischte sich damit die Krümel und das Fett vom Kinn und aus den Mundwinkeln, rülpste vernehmlich und richtete seinen Blick geradewegs auf den Grafen von Toulouse.

»Wahrlich ein köstliches Mahl, von einem Juden serviert und einem Verräter gerichtet«, sagte er dann so laut, dass ein jeder an der Tafel es hören konnte. Seine Worte waren ungeheuerlich. Die Ritter am oberen Ende der Tafel sprangen auf. Eine Bank wurde umgestoßen, und die Hunde unter der Tafel begannen zu bellen. Waffenmeister, Jagdaufseher und Schreiber ließen Messer und Becher sinken, das Kichern der Damen erstarb, und die Dienerschaft erstarrte. Alle Blicke richteten sich auf den Legaten des Papstes, der sich, noch während er sprach, erhoben hatte und mit dem Finger anklagend auf seinen Gastgeber wies.

»Du, Graf Raimund von Toulouse, bist ein Meineidiger und ein Verräter an der heiligen katholischen Kirche, den der Papst zu Recht zum zweiten Mal mit dem Bann belegt.«

Die Stille im Saal war erdrückend. Niemand wagte es, sich zu bewegen oder auch nur zu atmen, und selbst die Kerzen in den silbernen Leuchtern schienen nicht mehr zu flackern.

Der Graf führte seelenruhig, ohne irgendeine Reaktion zu zeigen, seinen Becher zum Mund und befeuchtete seine Kehle mit einem Schluck des rubinroten Weins, der aus den Weinbergen des Artois stammte und dessen Geschmack mit keinem anderen Wein zu vergleichen war.

»Ist es im Vatikan üblich, seinen Gastgeber zu beleidigen?«, fragte er schließlich gelassen.

Peter von Castelnau kniff die Augen zusammen. Er bebte am ganzen Körper vor Wut.

»Wir sind gekommen, um Euch die Hand zur Versöhnung zu reichen, und Euch fällt nichts Besseres ein, als uns zu beleidigen, indem Ihr uns von einem Juden bedienen lasst? Der Zorn des Allmächtigen wird über Euch kommen und wird Euch zermalmen.« Seine Faust krachte heftig auf die Tafel nieder, als wolle von Castelnau damit den Zorn des Herrn demonstrieren. Einige der Anwesenden zuckten erschrocken zusammen.

Doch Raimund VI. musterte den päpstlichen Legaten nur mit einem kühlen Blick.

»Die Freiheit des Glaubens ist ein Bestandteil unserer Tradition. Wir sind deswegen keine schlechteren Christen.«

»Ihr sprecht wie ein Ketzer.«

»Ich bin Ritter und Christ.«

»Dann beweist es, indem Ihr schwört, fortan der Kirche zu dienen, die Ketzerei auszurotten und alle Juden aus ihren Ämtern zu entlassen«, beharrte Peter von Castelnau.

»Ihr wisst genau, dass ich diese Forderungen nicht erfüllen kann«, erwiderte der Graf.

»Dann werdet Ihr ein Ausgestoßener bleiben, und der Zorn des Herrn wird Euch und Euer Land zerschmettern«, erklärte Peter von Castelnau ungerührt.

Es gab nichts weiter zu sagen. Der Abgesandte des Papstes gab seinen Gefährten ein Zeichen zum Aufbruch. Unter eisigem Schweigen verließen die Kleriker den Saal.

In dieser Nacht fand der Graf von Toulouse keinen Schlaf. Zu viele Gedanken gingen ihm durch den Kopf. Einer seiner Agenten hatte ihm noch am Abend zuvor berichtet, dass Papst Innozenz III. eine Allianz mit dem König von Frankreich geschlossen hatte. Ziel dieser Allianz war es, alle Ketzer im Süden des Reiches zu vernichten. Nun gab es keinen Zweifel mehr: Dieses Mal machte die Kirche ihre Drohungen wahr.

Das Herrschaftsgebiet der Grafen von Toulouse reichte von Agen im Westen bis zum Marquisat de Provence und schloss das Herzogtum Narbonne, die Grafschaft Foix, das Quercy, das Toulousain, Rouergue und Vivarais ein. Raimund VI. war de facto gleichzeitig Vasall des Königs von Frankreich und des Heiligen Vaters und im Fall der Grafschaft von Melgueil bei Montpellier sogar ein Vasall der Kurie. Zugleich aber war er alleiniger und unabhängiger Herrscher über das Languedoc, auch wenn er sich die Macht in den Städten mit dem jeweiligen Rat und den von Bürgern gewählten Konsuln teilte.

Und diese Unabhängigkeit, auf die sie alle so stolz waren und die dem König von Frankreich schon lange ein Dorn im Auge war, stand nun auf dem Spiel.

Die im Languedoc auf demokratischen Prinzipien beruhende soziale Ordnung, zu der auch die Freiheit des Glaubens gehörte, war im Süden Frankreichs fest verwurzelt. Der offene Dialog zwischen seinen Bewohnern Bestandteil des Alltags. Wenn man diese Wurzeln durchschnitt, zerstörte man auch den Baum, seine Äste, seine Blätter.

Die Absätze seiner Stiefel bohrten sich in den harten Lehmboden, als er den einsam daliegenden, in Dunkelheit getauchten Burghof überquerte. Es hatte lange nicht geregnet, und der Boden war trocken und rissig. Wenn nicht bald Regen käme, würde die Ernte auf den Feldern vertrocknen, und man würde ihm die Schuld daran geben, nicht etwa dem König oder dem Papst. Das Volk war wie ein knurrendes Raubtier, solange man es fütterte, blieb es ruhig, aber wehe, es musste hungern.

Er bemühte sich leiser aufzutreten, schlich wie ein Dieb durch die Nacht, und sein Zorn auf Papst und König, die ihm ihren Willen aufzwingen wollten, wuchs mit jedem Schritt. Er sehnte sich nach der Stille seiner Kapelle, obwohl ihm aufgrund des Kirchenbanns das Betreten jedes Gotteshauses verboten war. Sie können mich exkommunizieren, aber den Zutritt zu meiner Kapelle können sie mir nicht verwehren, so weit reicht selbst ihre Macht nicht, überlegte Raimund grimmig.

Ein Lichtstreifen über der Wehrmauer kündigte den neuen Tag an. Ein auffrischender Wind wehte ihm entgegen und führte den Geruch von feuchter Erde und aufsteigenden Pflanzensäften mit sich. Es wird bald regnen, dachte er erleichtert.

Vor ihm ragte der schmale Glockenturm in den heller werdenden Himmel.

Er streckte die Hand nach dem eisernen Türriegel aus und wäre fast über den kleinen, leblosen Körper gestolpert, der vor dem Kirchenportal auf dem Boden lag und in der Dämmerung fast ganz mit dem Untergrund verschmolz.

Eine böse Ahnung beschlich ihn. Er beugte sich hinab, um besser sehen zu können, doch noch bevor seine Hand die kalte Stirn berührte, wusste er, dass das ein Kind zu seinen Füßen war. Seine kleinen Hände waren wie zum Gebet gefaltet, und es starrte mit leerem Blick in den Himmel, der ihm trotz seiner Unschuld versperrt war. Raimund erschauerte.

Der über ihn verhängte Bann wurde jeden Sonntag in allen Kirchen des Languedoc öffentlich verkündet, und wie jeder Christ konnte er die Worte des Spruchs genauso wie das Vaterunser aus dem Stegreif heraus aufsagen.

»Die Ausgestoßenen seien verflucht in der Stadt«, begann er leise vor sich hin zu murmeln, »und außerhalb der Stadt, verflucht auf dem Land und allerorts; verflucht sei die Frucht ihres Leibes und die Frucht ihrer Felder; verflucht sei alles, was ihnen gehört, verflucht sei, wer bei ihnen eingehe und wer bei ihnen ausgehe. Sie sollen mit ewigem Fluch geschlagen sein. Die Kirche Gottes sei ihnen verschlossen, Friede und Gemeinschaft mit den Christen verwehrt. Nicht einmal am Tag ihres Todes sollen sie den Leib und das Blut Christi empfangen dürfen, vielmehr sollen sie ewigem Vergessen anheimfallen, und ihre Seelen sollen im Gestank der Hölle untergehen.«

Bei diesen Worten angekommen, warfen die Priester stets alle Kerzen auf den Boden und zertraten sie im Staub, um den Gläubigen mit aller Deutlichkeit vor Augen zu führen, wie es einem jeden von ihnen ergehen würde, der es wagte, sich gegen die Kirche zu stellen.

War das tote Kind die Antwort auf seine Frage? Hatte Gott ihm ein Zeichen gesandt, damit er sich wieder mit der Kirche versöhnte? Eine Versöhnung, deren Preis die Vernichtung der Guten Christen wie die aller Andersgläubigen sein würde, die in den Augen der Kirche nichts weiter als Ketzer waren?

Vermutlich war das Kind von seiner Mutter vor dem Portal der Kapelle abgelegt worden, in der Hoffnung, der Herr würde sich doch noch seiner Seele erbarmen.

Raimund machte auf dem Absatz kehrt und verhörte die diensthabenden Wachen, die schworen, sie hätten in der vergangenen Nacht niemanden in die Burg eingelassen. Da auch keiner der Burgbewohner das Kind kannte und weil er sein Gewissen beruhigen wollte, erteilte er daraufhin den Befehl, das Kind auf dem kleinen Kirchhof hinter der Kapelle in geweihter Erde zu begraben. Es war nicht das erste tote Kind, das vor einer Kirche abgelegt worden war. Aber es war das erste im Inneren der Burg.

Die Augen des toten Kindes verfolgten Raimund von Toulouse auch noch, als er zwei Stunden später sein Schreibzimmer betrat.

Er nestelte am Verschluss der schmalen Goldkette, die er unter dem Hemd um den Hals trug, zog den kleinen Schlüssel, der an ihr hing, ab und öffnete damit eine Schatulle aus schwarz glänzendem Ebenholz, die auf seinem Schreibtisch stand und in der er seine wichtigsten Dokumente aufbewahrte.

Vor ihm lag die schwerste Entscheidung seines Lebens, und die Zeit drängte. Er griff in die Schatulle, zog ein mit einem dicken Bleisiegel versehenes Schreiben heraus und begann es zu lesen, obwohl er dessen Inhalt längst kannte.

An den edlen Grafen von Toulouse,

welcher Stolz hat sich deines Herzens bemächtigt, du Aussätziger?

Mit deinen Nachbarn liegst du unausgesetzt in Fehde, du missachtest die Gesetze Gottes und hältst es mit den

Feinden des wahren Glaubens.

Zittere, Gottloser, denn du wirst gezüchtigt werden.

Wie kannst du die Ketzer beschützen, grausamer und barbarischer Tyrann? Wie kannst du behaupten, der Glaube der Ketzer sei besser als der der Katholiken?

Noch andere Vergehen hast du gegen Gott begangen: Du willst keinen Frieden, hältst Fehde an Sonntagen und beraubst die Klöster.

Der Christenheit zur Schmach verleihst du öffentliche Ämter an Juden.

Da wir aber die Sünder zu bekehren haben, befehlen wir dir, Buße zu tun, um unsere gnädige Absolution zu verdienen. Da wir deine Beleidigungen gegen unseren Herrn und seine Kirche nicht länger ungestraft lassen können, so wisse denn, dass wir dir deine Besitzungen wegnehmen lassen und die Fürsten gegen dich als einen Feind Jesu Christi aufwiegeln werden.

Aber der Zorn des Herrn wird es nicht darauf beruhen lassen. Der Herr wird dich zermalmen.

Gezeichnet

Papst Innozenz III.

Raimunds Augen flogen über die geschriebenen Worte, getrieben von der vagen Hoffnung, irgendwo zwischen den Zeilen doch noch irgendein Schlupfloch zu finden, das ihn vor dem schweren Gang bewahrte, den er ansonsten antreten müsste. Vergeblich hatte er versucht, noch einmal mit den Legaten des Papstes zu reden. Doch Peter von Castelnau hatte seiner Bitte keinerlei Gehör geschenkt, sondern ihn erneut in aller Öffentlichkeit gedemütigt, indem er für seinen weiteren Aufenthalt lieber die Gastfreundschaft des Bischofs von Toulouse in Anspruch genommen hatte. Die hämische Stimme des überheblichen, fettleibigen Kerls, der sich augenscheinlich unantastbar unter dem weiten Mantel des Papstes fühlte, klang ihm noch immer in den Ohren. »Graf Raimund von Toulouse, Ihr seid ein Feigling und ein Meineidiger ...«

Niemals zuvor hatte es jemand gewagt, ihn derart zu beleidigen.

In einem jähen Anfall von Wut schleuderte er das Schreiben des Papstes auf den Boden. Das Pergament rutschte über den Steinboden und landete direkt vor dem mächtigen Kamin, wo es sich noch einmal um sich selbst drehte, bevor es mit der Schrift nach oben liegen blieb.

Finster starrte der Graf von Toulouse auf das päpstliche Siegel und verspürte nicht übel Lust, es zu zertreten. Der Zorn angesichts seiner Ohnmacht trübte ihm den Blick und ließ rote Schleier vor seinen Augen tanzen. Die Ereignisse trieben auf eine Katastrophe zu, und ihm fehlten die Kraft und, wie er sich widerwillig eingestand, auch der todesverachtende Mut der Jugend, um sich dieser entgegenzustellen, obwohl sein Körper gestählt war von harten Übungskämpfen und unzähligen Turnieren. Auch die bewundernden Blicke der Frauen, die ihm nach wie vor überallhin folgten, bezeugten, dass er noch lange nicht zum alten Eisen gehörte.

Er hatte weder Intrigen noch Schlachten gefürchtet, sich unbesiegbar gefühlt, bis zu dem Tag, an dem die Kirche das erste Mal den Bann über ihn verhängte und ihn exkommunizierte. Zunächst hatte er den Bann nicht sonderlich ernst genommen. Leere Worte, wie sie in der Hitze des Gefechts oftmals ausgestoßen wurden. Rom war weit weg, und die Stimme des Papstes drang kaum über die Stadtgrenzen hinaus, schon gar nicht bis in den Süden Frankreichs, in sein Land, ein Land, dessen unumschränkter Herrscher er praktisch war.

Zu spät hatte er begriffen, dass er sich geirrt hatte.

Genau wie damals, während des ersten Banns, legten nun immer mehr verzweifelte Mütter ihre ungetauften toten Kinder vor den Kirchentüren ab, damit der Herr sich – dem Bann der Kirche zum Trotz – vielleicht doch noch ihrer armen Seelen erbarmte. Es gab keine Taufen mehr, keine Hochzeiten, keine Absolution von den Sünden und somit auch kein ewiges Heil. Die segnenden Hände der Priester waren durch den Bann der Kirche gebunden.

War es da ein Wunder, dass sich immer mehr Menschen den Guten Christen und ihrer Lehre zuwandten, den Tröstern, wie das Volk sie nannte, die keinerlei Bedingungen stellten und Liebe versprachen, wo die Kirche mit Verdammnis drohte?

Er lächelte grimmig und hätte den Gedanken gerne weiterverfolgt, auch oder gerade weil er durch und durch ketzerisch war, aber die Zeit drängte.

Alles in ihm sträubte sich dagegen, diesen Schritt zu tun, und erneut haderte er mit sich, so als hätte man ihm eine Wahl gelassen, doch dann ergab er sich zähneknirschend in sein Schicksal.

Der Nebel hatte sich aufgelöst, und blasses Sonnenlicht lag auf den gelben Steinen der Kirche des heiligen Gilles.

Unheimliche Stille empfing den Grafen von Toulouse, als er mit hoch erhobenem Haupt und nacktem Oberkörper durch die von Menschen gesäumte Gasse schritt. Die meisten von ihnen hatten sich beeilt, mit der Kirche Frieden zu schließen, nachdem die Legaten Roms ihre Macht in der Stadt demonstriert hatten, indem sie mit aller Härte gegen den mächtigen Ratsherrn Peter Morand vorgegangen waren. Kein weiterer Toulouser wollte wie dieser enteignet und ausgepeitscht werden und anschließend ins Heilige Land pilgern müssen, um dort drei Jahre den Armen von Jerusalem zu dienen. Und deshalb erwarteten sie nun auch von ihm, dass er das Seinige dazu beitrug, damit sie ihr Leben wieder wie gewohnt weiterleben konnten, auch wenn sie nicht wirklich überzeugt von seiner Einsicht und Buße waren.

Er sah in den Gesichtern der Bauern, Händler und Weber den gleichen Zweifel, der sich auch in seinem eigenen widerspiegelte. Wie konnte man einer Kirche vertrauen, deren Priester ihre Tonsur verbargen, weltliche Kleidung trugen und sich gegenseitig bekämpften, anstatt sich um die ihnen anvertrauten Schafe zu kümmern, wie es ihre Pflicht gewesen wäre?

Deren Bischöfe ihre Diözesen nur noch besuchten, um willkürlich auferlegte Steuern einzuziehen, und sich zu diesem Zweck eine Armee von Wegelagerern hielten?

Aber blieb ihm denn überhaupt eine andere Wahl, wenn die einzige Alternative darin bestand, gegen die gesamte Christenheit des Abendlandes zu Felde zu ziehen?

Etwa dreißig Mönche in schwarzen Kutten standen hinter den Legaten des Papstes auf der Treppe, die vom Vorplatz der Kirche des heiligen Gilles zum Eingangsportal emporführte. Wie Könige thronten diese in den eigens für sie herbeigeschafften Prunksesseln vor den offen stehenden Türflügeln des Hauptportals und versperrten auf diese Weise, selbst für den dümmsten Bauern ersichtlich, demonstrativ den Weg zum Heil.

Ihre unausgesprochene Botschaft lautete: Niemand, der zu Gott will, kommt an der Kirche vorbei!

Raimund verharrte mitten im Schritt und war sich der Blicke der Bürger von Toulouse bewusst, denen sein Zögern nicht entgangen war. Noch konnte er zurück. Er hob seinen Kopf, schaute in den fahlen, grauen Himmel und fühlte erneut ohnmächtige Wut in sich aufsteigen. Ohne dass er es bemerkte, ballten sich seine Hände zu Fäusten. Sein unbändiger Zorn trübte ihm fast die Sinne, aber er wusste, dass er den demütigenden Gang zu Ende bringen musste, bevor der Zorn seinen Verstand übermannte und der Bruch zwischen ihm und der Kirche endgültig sein würde.

Er atmete tief durch, nahm all seine Kraft zusammen, trat vor das Tribunal, sank auf die Knie und beugte sein Haupt. Ohne Peter von Castelnau eines Blickes zu würdigen, legte er seine rechte Hand auf die Bibel, die ihm ein Kirchendiener eilig reichte. Seine befehlsgewohnte Stimme durchbrach laut und deutlich die Stille, als er die Worte sprach: »Ich schwöre fortan der Kirche zu dienen, die Ketzerei auszurotten und alle Juden aus ihren Ämtern zu entlassen.«

Die Menge stand wie erstarrt.

Peter von Castelnau kniff seine Augen gegen das blasse Sonnenlicht zusammen.

Ein triumphierender Ausdruck glitt über sein Gesicht. Für seine massige Gestalt erstaunlich behände, wuchtete er sich aus seinem Sessel und ergriff die Rute, die sein Diener ihm reichte.

Von heiligem Eifer erfüllt, trat er hinter den Grafen und holte zum ersten Schlag aus. Sein dicker Bauch wölbte sich über dem Gürtel seines rotseidenen Gewandes, als er die Rute wieder und wieder auf den bloßen Rücken Raimunds von Toulouse klatschen ließ.

Als er endlich keuchend von dem Grafen abließ, war sein Gesicht dunkelrot vor Anstrengung. Der Rücken des Grafen bot einen schrecklichen Anblick. Er war von blutigen Striemen überzogen und glich den zerklüfteten Tälern der Pyrenäen, über die er herrschte, und doch war kein einziger Laut über seine Lippen gekommen, wie Peter von Castelnau verärgert feststellen musste. Ein rascher Blick in das hochmütig erhobene Haupt Raimunds zeigte ihm, dass dessen Wille noch lange nicht gebrochen war. Er hätte sich besser gefühlt, wenn er geahnt hätte, wie schwer es Raimund fiel, seinen Zorn über diese öffentliche Erniedrigung hinter einer ausdruckslosen Miene zu verbergen.

Etwas wie ein ungeheurer Seufzer entrang sich der Menge.

Peter von Castelnau war sich der Gefahr, die vom Volk ausging, durchaus bewusst. Ein Funke würde genügen, um einen Tumult auszulösen, der ihn und seine Gefährten wie eine Sturmwelle hinwegfegen könnte.

Eilig griff er deshalb nach der Hand des Grafen und entschwand mit ihm, gefolgt von seinen Prälaten, in der Kirche, wo er den reumütigen Büßer zum Altar führte und ihn im Namen des Papstes vom Banne lossprach.

Niemand jubelte, als Castelnau mit dem Grafen wieder aus dem Portal ins Freie trat, oder zeigte gar anderweitige Anzeichen von Freude über die Aufhebung des Kirchenbannes. Das Tribunal wurde unruhig. Die Legaten sahen einander voller Bestürzung an. Peter von Castelnau war leichenblass und zitterte vor Wut über den stummen Ungehorsam, der ihnen aus dem Volk entgegenschlug. Drohend erhob er die zur Faust geballte Hand.

»Wir werden das Ketzertum wie Unkraut ausreißen und ins Feuer werfen. Wer sich nicht bekehren lässt, wird brennen«, schrie er den Menschen entgegen.

Raimund von Toulouse wandte sich von ihm ab. Er war in den Schoß der Kirche zurückgekehrt und hatte damit das Schlimmste von seiner Grafschaft abgewandt, aber es kam keine Freude in ihm auf.

Innerlich aufgewühlt stieg der Graf die gewundenen Treppen des mächtigen Rundturms hinauf, der die Burg zu seinen Füßen bewachte.

Nach den fröhlich durcheinanderlärmenden Stimmen in der stickigen, vom Talgwachs der Kerzen geschwängerten Luft der Halle, in der man bereits wieder zur Tagesordnung übergegangen war, empfand er die feuchte Kühle und die Stille innerhalb der dicken Turmmauern als wohltuend. Mit jedem Schritt ließ das Dröhnen in seinen Ohren nach, bis er nur noch das schabende Geräusch seiner Stiefel auf den ausgetretenen Stufen hörte. Die Wirkung der Heilsalbe, die sein Leibarzt auf seinem Rücken verteilt hatte, ließ nach. Doch auch wenn der Stoff seines Hemdes bei jeder Bewegung über die offenen Wunden scheuerte, war der Hass, der in ihm brannte, weitaus stärker als der Schmerz, den er empfand. Die Kirche hatte ihn zu diesem Eid gezwungen und ihn als Ritter und Christen damit zu einem Meineidigen gemacht, was er ihr niemals verzeihen würde.

Einem Verräter, so heißt es, kann man nicht trauen, dachte er rachsüchtig, und ich werde euch verfluchte Heuchler schon noch lehren, wie wahr diese Worte sind.

Von der Spitze des Turmes aus, der er entgegenstrebte, konnte man, so weit das Auge reichte, über das Land außerhalb der Stadtmauern blicken. Dort oben zwischen Himmel und Erde fühlte er sich jedes Mal seltsam entrückt, und all seine Sorgen und Nöte verloren an Bedeutung. Unwillkürlich beschleunigte er seinen Schritt und konnte es kaum mehr erwarten, endlich oben anzukommen.

Er trat aus dem Treppenaufgang auf die Plattform hinaus und kam gerade noch rechtzeitig, um über die Zinnen hinweg beobachten zu können, wie die Sonne den Horizont berührte, bevor sie durch das überirdisch leuchtende, goldene Wolkentor zog, wo die Seelen der Verstorbenen ihren Weg in den Himmel fanden. Wie immer, wenn er hier oben weilte, dachte er mit wehem Herzen an Lena. Der Schmerz über den Verlust der Geliebten war mit den Jahren nicht geringer geworden. Sechzehn Jahre waren vergangen, seitdem sie ihre hellen, grünen Augen für immer geschlossen hatte, wundervolle Augen, seltsam und unergründlich wie ein Druidensee in einer mondhellen Nacht. Zweimal noch hatte er geheiratet, nachdem seine dritte Gemahlin, Johanna Plantagenet, an den Folgen einer Fehlgeburt gestorben war. Aber keine seiner Gemahlinnen hatte ihm so viele glückliche Stunden geschenkt wie Lena, keine sein Herz so sehr berührt.

Lange stand er da und gedachte der Geliebten, die so still aus seinem Leben gegangen war, dass ihm die herrlichen Nächte mit ihr wie ein Traum aus einer anderen Zeit erschienen. Einer Zeit, in der die Welt im Süden Frankreichs noch in Ordnung gewesen war. Doch auch wenn sich mittlerweile Dunkelheit auf das Land herabgesenkt hatte, schwelgte Raimund noch immer in seinen Erinnerungen. Eine merkwürdige, fast schon schwermütige Stimmung hatte von ihm Besitz ergriffen.

Er ließ seinen Blick über die schlafende Stadt schweifen, dann einen Moment auf den Dächern der Häuser ruhen und schließlich zurück zum Horizont wandern, wo Himmel und Erde nun zu einem undurchdringlichen Schwarz verschmolzen. Zuletzt sah er zu den ewigen, funkelnden Sternen hinauf, wo es keine Beschränkung mehr gab, nur unendliche Weite. Die Sterne waren so nah, dass er fast vermeinte, mit den Händen nach ihnen greifen zu können. Eine leichte Brise strich über sein Gesicht und trug den Duft sonnenverwöhnter, gelber Mimosen zu ihm hinauf, der sich mit dem würzigen Geruch schwarzer Kiefern und Ulmen mischte.

Er spürte, dass er nicht länger allein war, wandte sich aber erst um, als er eine Hand auf seiner Schulter spürte. Der Ankömmling umarmte ihn und gab ihm den Friedenskuss. Dann stellte er sich neben den Grafen an die Zinnen. Ein langes, schwarzes Gewand umfloss seine hagere Gestalt und flatterte leicht im Wind, aber seine Gesichtszüge waren ruhig wie die eines Mannes, der mit sich im Reinen ist.

»Hier oben bekommen die Dinge eine ganz andere Bedeutung«, bemerkte Raimund, immer noch tief ergriffen von dem überwältigenden Anblick, der ihm die wahre Größe Gottes in seiner ganzen Herrlichkeit vor Augen führte. Tief in seinem Inneren sträubte sich etwas dagegen zu glauben, dass der zweimal über ihn verhängte Kirchenbann tatsächlich von Gott gewollt war. Von einem Gott, der selbst erklärt hatte, alle Menschen gleichermaßen zu lieben, ob sie nun Sünder waren oder nicht. Und war es nicht genau das, was die Kirche ihm vorgeworfen hatte? Dass die Lehren der Vollkommenen seine Seele vergiftet hätten, sodass er die Wahrheit nicht mehr erkennen konnte? War er tatsächlich ein Ketzer, nur weil er ihre Lehren nicht ebenso verdammte, wie die Kirche es tat? Oder fürchtete die Kirche in Wahrheit nur um ihre Macht?

Er wandte sich dem Führer der Katharer zu und musterte ihn prüfend.

Nicola begegnete seinem Blick freundlich und ohne Vorwurf, so als wäre nichts geschehen, als wäre er kein Meineidiger, der ihn und seine Glaubensbrüder gerade verraten hatte. Raimund wusste, dass Nicola sich niemals anmaßen würde, über einen anderen Menschen zu richten, oder ihm vorschreiben würde, was er zu glauben hatte. Und gerade diese Großmut war es, die ihn gleichermaßen tröstete wie auch tief beschämte.

Die Schuld, die er auf sich geladen hatte, packte ihn mit einer Heftigkeit, die ihn bis ins Mark erschütterte. Es gab so vieles, über das sie reden mussten. Plötzlich hatte er das Gefühl, sich beeilen zu müssen. Aus Angst, der Keil, den die Kirche zwischen sie getrieben hatte, könnte sonst zu einer unüberwindbaren Kluft werden.

Die Zukunft seines Landes war in Gefahr. Es galt nun, den durch seine Abbitte angerichteten Schaden in Grenzen zu halten und die Vollkommenen in Sicherheit zu bringen, die wie einst Jesus durch die Lande zogen, um die Menschen zu trösten und ihnen Hoffnung zu spenden. Mit einer Gewissheit, die ihn erschreckte, erkannte er, dass sein Land ohne die Guten Christen nie mehr das gleiche sein würde.

So wie sein Leben ohne Lena für ihn nicht mehr das gleiche war.

»Der Gedanke, dass Lenas Seele nun dort oben weilt, ist ein großer Trost für mich. Sie hat sich so sehr nach den Sternen gesehnt.«

Seine Worte verhallten in der Nacht.

Stumm und in stillem Einverständnis standen die beiden Männer nebeneinander und gedachten der Toten.

Raimund spürte, wie Nicolas Ruhe auf ihn überging, und einen Moment lang hatte er das Gefühl, als wäre ein Teil von Lena zu ihm zurückgekehrt.

»Die Seele meiner Schwester ist jetzt zu Hause. Sie würde nicht wollen, dass Ihr um sie trauert«, bemerkte Nicola. Es war so tröstlich, seine Stimme zu hören, und Raimund wurde bewusst, dass er noch keinem Menschen mehr vertraut hatte als ihm.

»Und Eure Tochter wird ihr immer ähnlicher«, fügte der Führer der Katharer leise hinzu.

Es war das erste Mal, dass er über das Kind sprach, dessen Geburt seine Schwester das Leben gekostet hatte.

Raimund hatte sich damals geweigert, seine Tochter zu sehen, sie aber in Nicolas Obhut gegeben anstatt in ein Kloster, damit sie im Glauben ihrer Mutter aufwachsen konnte.

Nicola wartete schweigend und ohne das geringste Zeichen von Ungeduld, bis der Graf von Toulouse sich erneut an ihn wandte.

Raimunds Blick ruhte allerdings noch immer nachdenklich auf der Lederrolle, die Nicola vor der Brust trug und die, wie er wusste, das Johannesevangelium enthielt. Auch er selbst trug das Johannesevangelium immer bei sich, was ihm einen weiteren scharfen Tadel seitens der Kirche eingebracht hatte. Immerhin war es Laien ausdrücklich untersagt worden, die Heilige Schrift zu lesen.

Doch jetzt war nicht die Zeit, über Elysa zu sprechen, sondern über das, was geschehen war, auch wenn ihm die Kraft, das Ungeheuerliche auszusprechen, fehlte.

Nicola fing seinen Blick auf und sagte ruhig: »Luzifers Heerscharen haben sich bereit gemacht.«

Raimund von Toulouse hatte schon lange aufgehört, sich darüber zu wundern, wie leicht es Nicola scheinbar fiel, seine Gedanken zu erraten.

»Ich habe geschworen, der Kirche zu dienen, die Ketzerei auszurotten und alle Juden aus ihren Ämtern zu entlassen, so wie die Kirche es verlangt hat«, grollte er, »aber ich denke nicht daran, meinen Schwur zu halten.«

Er hob seinen Kopf und suchte vergeblich nach einem Zeichen von Verachtung in den fein geschnittenen Gesichtszügen Nicolas.

»Was hätte ich denn anderes tun sollen?«, fragte er, als Nicola weiterhin schwieg, und in seiner Stimme schwang die ganze Bitterkeit über die erduldete Demütigung mit. »Hätte ich mein Land ins Unglück stürzen sollen? Durch einen Krieg, den wir nicht gewinnen können?«

Nicola schüttelte unmerklich den Kopf. Er wirkte vollkommen ruhig, als er antwortete.

»Was geschehen muss, wird geschehen. Es ist nicht Eure Schuld. Der neue Bund muss erst zerreißen, bevor der ewige Bund gefeiert werden kann.« Seine Worte klangen schicksalsschwer und rätselhaft, aber Raimund fühlte sich dennoch wie ein Eingeweihter, dem ein wichtiges Geheimnis anvertraut worden war. Doch obwohl er erleichtert darüber war, dass Nicola ihm offenbar trotz seines Schwures nach wie vor vertraute, lag etwas Endgültiges in den Worten des Katharerführers, das ihm ganz und gar nicht gefiel. Er wusste, dass Nicola manchmal von Vorahnungen heimgesucht wurde, doch gerade jetzt brauchte er ihn mehr denn je, benötigte seine Ruhe, seine Kraft und seinen Rat.

»Den König verlangt es nach meinem Land, die Kirche nach dem Zehnten. Wir dürfen ihnen keinen Grund für einen Krieg geben. Zieht Euch und Eure Gemeinschaft daher am besten in die Berge zurück und bleibt für eine Weile unsichtbar.«

Wieder schüttelte Nicola unmerklich den Kopf.

»Das Licht wird der Finsternis weichen, und wir werden diese Welt schon bald verlassen.« Raimund schluckte. Er wusste, dass die Vollkommenen sich danach sehnten, alles Irdische hinter sich zu lassen, um auf dem Sternenpfad zu wandeln, der ihre Seelen zu Gott führen würde. Sie waren gekommen, um die Menschen zu trösten und ihnen Hoffnung zu geben, und nun würden sie sie wieder verlassen.

Seine Gedanken wanderten zu dem Tag zurück, an dem Nicola ihm das erste Mal begegnet war.

Er war ohne Begleitung nach Béziers geritten, um mit Roger II. von Trencavel Frieden zu schließen und die Bedingungen für eine Eheschließung mit dessen Tochter Beatrix auszuhandeln. Der Burghof hatte verlassen dagelegen, als er eintraf. Niemand kam, um ihm den Steigbügel zu halten. Die Pferde in den Ställen schnaubten leise, irgendwo kläffte ein Hund, ansonsten herrschte Stille.

Er stieg vom Pferd, lockerte den Sattelgurt, führte das Tier an die breite Holztränke und schlang die Zügel um eine der daneben angebrachten Stangen. Die Burg schien menschenleer zu sein, aber die Tür zur Halle stand offen, und als er eintrat, stellte er fest, dass sie voller Menschen war, die einem Prediger in schwarzem Gewand lauschten. Ihre Augen hingen wie gebannt an dessen Lippen.

»Ich bin gekommen in die Welt, auf dass, wer an mich glaubt, nicht in der Finsternis bleibe. Glaubet an das Licht, dieweil ihr es habt, auf dass ihr des Lichtes Kinder seid. Das gebiete ich euch, dass ihr euch untereinander liebet. Dabei wird jedermann erkennen, dass ihr meine Jünger seid, so ihr Liebe untereinander habt«, hörte Raimund den Prediger verkünden und fühlte sich eigenartig von dessen Worten berührt.

Der Prediger sah lächelnd in die Gesichter der Menschen, die ihn teils ungläubig, teil verwundert oder einfach nur mit offenem Mund anstarrten.

Über die Köpfe der Menschen hinweg trafen sich ihre Blicke. Der Prediger nickte ihm zu, und wie auf ein geheimes Zeichen hin wandten sich die Köpfe aller Anwesenden zu ihm um und wieder nach vorne, als der Prediger erneut zu sprechen anhob.

»Einst wird der Welt Erlösung sich vollbringen, wenn Gott und Mensch im Geist lebendig sich durchdringen.«

Die Worte schwebten durch den Saal und drangen in Raimunds Seele, als gäbe es nichts anderes als Frieden in der Welt. Er wusste nicht, ob es die sanfte Stimme des Predigers war oder dessen klare, schlichte Worte, die ihn davon überzeugten, dass dieser die Wahrheit verkündete. Eine Wahrheit, die Raimund so noch nie gehört hatte. Sie hörte sich ganz anders an als die Wahrheit der katholischen Kirche, die bei der Messe in lateinischer Sprache verkündet wurde. Diese hier war ihm vertrauter, näher, so als pochten ihre Worte direkt an sein Herz.

Freude erfüllte ihn, Hoffnung und Sehnsucht. Er wollte mehr hören, viel mehr, und fand sich plötzlich inmitten der Gemeinschaft von Knechten und Mägden, Rittern und Wachen wieder. Sogar der raubeinige Roger von Trencavel, mit dem er sich vor Kurzem noch bis aufs Blut bekämpft hatte, lächelte ihm mit einem beseelten Ausdruck im sonst so finster dreinblickenden Gesicht zu.

Mit seinen Gedanken noch bei ihrer ersten Begegnung, fuhr sich Raimund mit der Hand über die Stirn und zwang sich dazu, wieder in die Wirklichkeit zurückzukehren.

Seine Ahnung hatte ihn also nicht getäuscht. Nicola, der Einzigartige, sein bester Ratgeber und Freund, machte sich also dazu bereit, diese Welt zu verlassen. Aber so einfach würde er ihn nicht ziehen lassen, es war noch zu früh, die Menschen brauchten ihn, er brauchte ihn. In den Bergen gab es unzählige Höhlen, wo die Vollkommenen sich so lange verbergen konnten, bis der Konflikt ausgestanden war. Danach würde man weitersehen.

»Wer wird den Tröster hüten und wer Eure Lehre weitertragen, wenn Ihr nicht mehr seid?«, fragte er nicht ohne Hintergedanken.

Nicola lächelte, und Raimund wusste, dass der Freund seine Absicht durchschaut hatte.

»Wir werden den Tröster an einem Ort verbergen, wo niemand ihn vermuten wird. Es ist ein Ort, der seinen Namen trägt und seiner unendlichen Liebe entsprungen ist. Schon morgen werden wir die nötigen Vorkehrungen treffen.«

Der Graf war ob dieser Worte so gerührt, dass ihm die Stimme versagte. Nicola verurteilte ihn nicht nur nicht, sondern schenkte ihm auch weiterhin sein Vertrauen, ein Vertrauen, das er seinem eigenen Empfinden nach nicht verdient hatte.

Er fühlte sich so beschämt, dass er es kaum ertragen konnte. Nicola hob den Kopf und sah an ihm vorbei zu den Sternen.

Raimund wandte daraufhin ebenfalls den Kopf und folgte Nicolas Blick. Der Mond schob sich über den Horizont und stieg langsam am strahlenden Firmament empor. Eine Sternschnuppe blinkte einige Male auf, bevor sie erlosch und sich in den Weiten des nachtblauen Himmels verlor. Tiefer Frieden zog in sein Herz, als er erkannte, dass es sinnlos war, sich gegen das Schicksal auflehnen zu wollen.

Sie umarmten einander wie Brüder. Dann wandte sich Nicola ohne ein Wort um und ging. Raimund sah ihm nach und wartete noch eine Weile, bevor er ihm folgte. Er wollte vermeiden, dass sie in dieser denkwürdigen Nacht zusammen gesehen wurden.

Als es wieder still auf dem Turm geworden war, trat eine dunkel gekleidete Gestalt hinter einem der Tragebalken des hölzernen Wehrgangs direkt unterhalb der Plattform hervor, auf der die beiden Männer eben noch gestanden hatten. Sie bekreuzigte sich hastig, bevor sie die Stufen hinabeilte, über den dunklen Burghof schlich und durch eine kleine Seitentüre in der Burgkapelle verschwand. Pater Stephan schob die Kapuze zurück, seufzte und wischte sich mit dem Ärmel seiner Soutane den Schweiß vom Gesicht. Er durchquerte die schmale Sakristei und begab sich vor das Schreibpult seiner winzigen, fensterlosen Kammer, die direkt an die Sakristei grenzte. Bevor er sich an die Arbeit machte, kehrte er noch einmal in die Sakristei zurück, um dort einige der teuren Bienenwachskerzen zu holen, die eigentlich für den Gottesdienst bestimmt waren. Seine Augen waren nicht mehr die besten, und er brauchte genügend Licht, um den verlangten Bericht schreiben zu können.

Elysa hatte den Tisch gedeckt, das selbstgebackene Brot, Nüsse und Käse auf den Tisch gestellt und die Forellen gebraten, die sie auf dem Markt gekauft hatte. Sie waren bereits kalt und ihr Onkel noch immer nicht aus Toulouse zurück. Sie wusste nie, wann er von einer seiner Reisen zurückkam, und war es gewohnt, alleine zu sein.

Als sie noch jünger gewesen war, hatte ihr Onkel sie oft nach Ornolac mitgenommen, wo sie mit ihm zusammen den steilen Weg zum Gipfel des Tabor hochgestiegen war, um den Sternen näher zu sein. Manchmal hatte er sie auch mit in die Höhlen genommen, wo die Vollkommenen sich trafen. Und während die Männer wichtige Dinge besprachen oder gemeinsam beteten, hatte sie dem Geräusch der Tropfen gelauscht, die im immer gleichen Rhythmus von der mächtigen Höhlendecke herabfielen, welche sich hoch über ihr in der Dunkelheit verlor.

Seit ihrem achten Lebensjahr hatte Nicola sie – wenn er reiste – dann aber bei der alten Anna zurückgelassen, die nur zwei Häuser weiter wohnte. Anna hatte ihr gezeigt, wie man Fische über dem Feuer räucherte, Brotteig machte, Gemüse kochte und die Wäsche richtig wusch, sodass sie sauber wurde.

Und als Elysa zum ersten Mal ihre Blutung bekam, war es wieder Anna gewesen, die ihr alles erklärt hatte, was eine junge Frau darüber wissen musste.

Wenn Elysa an ihre Mutter dachte, die kurz nach ihrer Geburt gestorben war, stellte sie sich manchmal vor, dass diese so wie Anna gewesen sein musste.

Mittlerweile war es fast dunkel geworden, und Elysa hielt einen dürren Holzzweig in das glimmende Feuer im Kamin, entzündete die Dochte der Öllampe auf dem Tisch damit und starrte in die Flammen. Wenn ihr Onkel zurückkehrte, würde sie es tun. Sie würde ihn bitten, ihr zu sagen, wer ihr Vater war. Nicola hatte nie über ihn gesprochen. Er hatte ihr nur einmal erzählt, dass sie ihrer Mutter ähnlich sah, über ihren Vater hatte er jedoch kein Wort verloren. Sie wusste nicht einmal, ob dieser noch lebte oder schon gestorben war. Einmal hatte sie die alte Anna nach ihm gefragt, aber die wusste auch nicht, wer ihr leiblicher Vater war. Es gibt Dinge, an denen sollte man besser nicht rühren, gab sie nur zur Antwort. Mehr hatte Elysa nicht aus ihr herausbekommen. Ihr Onkel hingegen hatte ihr immer gesagt, dass sie sich, sobald sie erwachsen wäre, entscheiden müsse, welchen Weg sie einschlagen wolle. Nun sagte ihr ein Gefühl tief in ihrem Inneren, dass dieser Tag gekommen war. Die meisten Mädchen in ihrem Alter waren längst verheiratet oder zumindest jemandem versprochen, aber wollte sie wirklich leben wie die anderen Mädchen? Im Gegensatz zu diesen durfte sie selbst entscheiden, ob und wen sie heiraten wollte, was sie ziemlich aufregend fand.

Sie musste daran denken, wie Rorico sie ansah, sobald er dachte, sie würde es nicht bemerken. Er wäre ihr sicher ein guter Ehemann, auch wenn er dem katholischen Glauben anhing.

Die Katholiken verehrten das Kreuz, an dem Jesus gestorben war, und sie glaubten, dass das geweihte Brot der Leib Christi sei, obwohl das unmöglich sein konnte, aber sie wussten es eben nicht besser. Vielleicht würde Rorico es ja eines Tages begreifen. Es müsste ihr nur gelingen, ihn öfter zu ihren Versammlungen mitzunehmen.

Ein Windzug streifte ihren Nacken und riss sie aus ihren Träumereien. Nicola trat von draußen herein, hängte seinen Umhang an den Haken hinter der Türe und nahm seinen Platz am Tisch ein. »Du hättest nicht auf mich warten sollen, mein Kind, aber es ist schön, mit einem gedeckten Tisch empfangen zu werden«, sagte er, während Elysa Wasser in seinen Becher füllte.

Er sprach das Vaterunser, nahm das Brot, segnete es und brach zwei Stücke davon ab. Eines reichte er Elysa.

Sie sah zu, wie er einen Schluck aus seinem Becher trank und ihn dann auf seinen Platz zurückstellte. Alles, was er tat, tat er mit Bedacht.

Das Mädchen hatte noch nie erlebt, dass er seinen Becher in einem Zug leer trank oder sich den Mund vollstopfte, so wie Rorico es tat, wenn er hungrig war.

Doch an diesem Tag wirkte er noch abwesender als sonst und schien so tief in Gedanken versunken zu sein, dass Elysa ihn nicht stören wollte, obwohl ihr die Frage nach ihrem Vater auf der Seele brannte.

Sie wusste nie, wie lange ihr Onkel fortbleiben würde, wenn er wegging. Manchmal verließ er mitten in der Nacht das Haus und kam erst nach mehreren Wochen wieder zurück oder schon nach wenigen Stunden, wenn er nur zu einem Sterbenden gerufen worden war, um diesen zu trösten und ihm das Consolamentum zu erteilen, damit seine Seele gerettet wurde.

»Ich habe mit deinem Vater gesprochen.« Elysa schrak aus ihren Gedanken hoch. Schon wieder hatte sie dagesessen und mit offenen Augen geträumt. Wenn sie so weitermachte, würde sie eines Tages noch genauso wunderlich werden wie die alte Anna, die immer öfter von irgendwelchen Dämonen redete, die sie des Nachts heimsuchten.

Manchmal beschlich sie das Gefühl, dass ihr Onkel ihre Gedanken genauso lesen konnte wie die geschriebenen Worte auf einem Pergament. Es war ihr einfach unmöglich, etwas vor ihm verborgen zu halten.

Elysa brachte kein Wort heraus und sah ihn nur stumm an.

»Du wirst ihm bald begegnen.«

Elysas Herz klopfte schneller. Die verschiedensten Gedanken wirbelten ihr durch den Kopf, doch es wäre ihr nie in den Sinn gekommen, ihn zu fragen, wie er sich dessen nur so sicher sein konnte.

»Aber wie soll ich wissen, dass er es ist, wenn ich nicht einmal seinen Namen kenne?«, fragte sie stattdessen atemlos und hing wie gebannt an seinen Lippen.

Nicola lächelte, und sie wusste, dass er sie durchschaut hatte.

»Du wirst es erfahren, wenn die Zeit gekommen ist«, erwiderte er ruhig.

»Aber warum darf ich nicht einmal seinen Namen wissen?«, hakte Elysa bittend nach.

Nicola strich sich über die Stirn, und sie bemerkte, wie müde er aussah.

Ihr Gewissen regte sich. Ihr Onkel war erschöpft von dem langen Fußmarsch, den er hinter sich hatte, und sie ließ ihn nicht einmal in Ruhe sein Mahl einnehmen.

»Alle Dinge haben ihre Zeit, und jeder Mensch hat seine Bestimmung.«

Elysa wartete still, bis er fortfuhr.

»Vieles wird sich ändern, das Licht wird von dieser Welt genommen, und Finsternis wird herrschen, bis der Jüngste Tag gekommen ist.« Während Nicola sprach, kehrte sich sein Blick nach innen, und er sah aus, als würde er mit offenen Augen schlafen.

Elysa wagte kaum zu atmen. Sie wusste, dass er manchmal Dinge sehen konnte, die anderen Menschen verborgen waren. Er saß immer noch neben ihr, aber sein Geist hatte seinen Körper verlassen und war ohne seine sterbliche Hülle auf Reisen gegangen. So hatte Nicola es ihr einmal erklärt, als sie noch kleiner gewesen war und gedacht hatte, ihr Onkel wäre tot, weil er ihr in diesem Zustand keine Antwort mehr gegeben und sich auch nicht mehr bewegt hatte.

Doch wie immer kehrte das Leben nach einer Weile in seine Augen zurück. Elysa seufzte erleichtert auf. Ein bisschen unheimlich war es schon, wenn ihr Onkel wie eine leere Hülle neben ihr saß und die Welt um sich herum nicht mehr wahrnahm.

Sie sah die Liebe in seinen Augen und spürte die Wärme, die von ihm ausging. »Ich weiß nicht, welcher Weg dir bestimmt ist, mein Kind, aber du wirst es wissen, wenn es so weit ist. Hör nur immer auf dein Herz, es wird dir sagen, welches der richtige und welches der falsche Weg ist.«

In dieser Nacht lag Elysa noch lange wach in ihrer Kammer. Schon bald würde sie ihrem Vater begegnen. Ihr Herz pochte erwartungsvoll, während sie überlegte, ob ihr Vater tatsächlich dem Bild entsprechen würde, das sie sich im Laufe ihrer Kindheit von ihm gemacht hatte. Und plötzlich überfiel sie die heftige Angst, dass ihr Vater keinesfalls so stark, groß, gut und freundlich war, wie sie es sich heimlich ausgemalt hatte.

Papst Innozenz III. schritt an den Schreibpulten seiner Sekretäre entlang wie ein Feldherr an den Reihen seines Heeres, bevor er das Zeichen zur Schlacht erteilt. Eine tiefe Falte zeigte sich auf seiner hohen, glatten Stirn, während er, die Hände hinter dem Rücken verschränkt, drei Briefe gleichzeitig diktierte.

Sein erstes Schreiben war an Otto IV. von Braunschweig gerichtet, dem er nach dem Tod Kaiser Heinrichs VI. seine volle Unterstützung im Kampf um den Thron gegen Philipp von Schwaben zusagte. Sowohl Otto als auch Philipp waren im nordalpinen Reichsteil zum deutschen König gewählt worden, und Innozenz nutzte die Streitigkeiten der beiden Kontrahenten um die Anerkennung ihrer Wahl, um sich und dem Kirchenstaat Ländereien zu sichern. Außerdem bestand er darauf, dass er bei der anschließenden Kaiserwahl das letzte Wort hatte.

Das zweite Schreiben würde dem Grafen von Toulouse überbracht werden, den er zu seiner Unterwerfung und Buße beglückwünschte, und das dritte an seinen Legaten, Peter von Castelnau, mit dem Befehl, Raimund VI. so lange in Sicherheit zu wiegen, bis der geeignete Augenblick für dessen endgültige Vernichtung gekommen wäre. Er hielt einen Augenblick inne, ein spöttisches Lächeln umspielte seine schmalen Lippen.

Der Graf von Toulouse schien doch tatsächlich zu glauben, er könne die heilige Mutter Kirche ein zweites Mal hintergehen. Doch seine Agenten wie auch der Bischof von Toulouse hatten ihm natürlich berichtet, dass der Graf nach wie vor nicht das Geringste unternahm, um die Ketzer aus seinem Land zu vertreiben, und auch kein einziger Jude bisher aus seinem Amt entlassen worden war. Aber selbst wenn Raimund VI. sich als reumütig und kirchentreu erwiesen hätte, würde dies nichts an seinem von ihm, Innozenz, beschlossenen Untergang ändern, weil die Veri Christiani, wie die Katharer sich selbst nannten, eine Gefahr für die Kirche und damit für das Papsttum darstellten. Nicht einmal sein Vorgänger schien begriffen zu haben, auf welch tönernen Füßen die Macht der Kirche stand, solange die Katharer im Besitz dieser Schriftrollen waren. Er kannte die Berichte über die Streitgespräche zwischen Katharern und katholischen Würdenträgern während des Konzils in Lombers beinahe auswendig. »Jeder gläubige Mensch kann durch die Kraft und die Reinheit seines Glaubens auf direktem Wege zu Gott gelangen«, hatten die Ketzer dort selbstbewusst verkündet und sich dabei auf die Schriften des Johannes berufen, bevor man sich in endlosen Streitereien darüber verloren hatte, welche der beiden Glaubensrichtungen der Bibel näherstand. Papst Urban II. hatte daraufhin jedem Laien das Lesen der Bibel aufs Strengste untersagt, um Dispute wie diesen in Zukunft zu vermeiden.

Er aber würde sich nicht mit solchen Halbheiten zufriedengeben. Nachdem er fertig diktiert und jedes einzelne Schreiben gründlich geprüft und gesiegelt hatte, entließ er seine Schreiber und setzte eigenhändig ein viertes Schreiben auf.

Es war an Arnold Amaury gerichtet, und er beauftragte seinen treuesten Agenten damit, es dem Abt persönlich auszuhändigen.

Das Kreuz des Schweigens / Die Sühnetochter - Zwei Romane in einem Band

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