Читать книгу Das Kreuz des Schweigens / Die Sühnetochter - Zwei Romane in einem Band - Hildegard Burri-Bayer - Страница 13

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Unzählige Feuer flackerten zwischen den runden Zelten, und der Geruch nach Gebratenem und Gekochtem vermischte sich mit den Ausdünstungen von Mensch und Tier. Unbemerkt hatte sich die Dämmerung über das Tal gesenkt, und die umliegenden Hügel hoben sich bereits dunkel vor dem noch hellen Himmel ab. Simon von Montfort hatte das Lager am Ufer der Aude aufgeschlagen, direkt gegenüber der Vorstadt von Carcassonne.

Die meisten Kämpfer vertrieben sich die Zeit mit Würfeln und Trinken, während überall das Hämmern der Schmiede zu hören war, die Rüstungen und Waffen reparierten. Vor den Zelten der Huren hatten sich wie üblich lange Schlangen gebildet. Die Männer warteten geduldig, bis sie an der Reihe waren.

Der Graf von Toulouse saß vor seinem Zelt, hielt eine knusprig gebratene Lammkeule in den Händen und biss herzhaft in sie hinein. Fleischsaft tropfte auf seinen staubigen Waffenrock, doch er achtete nicht weiter darauf.

Um ihn herum saßen seine Gefolgsleute. Seine Vasallen hatten ihm ihre Söhne geschickt, während sie selbst ihre Städte und Burgen befestigten, um auf die Angriffe der Kreuzfahrer vorbereitet zu sein: Bernhard von Foix, Rudolf von Comminges, Guillaume von Peyrepertuse der Jüngere, Hugo von Saissac, Aunay von Péreille und Peter-Roger von Mirepoix. Sie alle waren ebenfalls mit Essen beschäftigt, hatten ihre Waffen aber nicht abgelegt. Lediglich ihre Schilde lagen griffbereit hinter ihnen auf dem Boden.

Der Kreuzzug hatte erreicht, was kein Dialog und keine Ratsversammlung je zustande gebracht hatte: Er schweißte die Herren Okzitaniens und deren Söhne fest zusammen und machte jeden Gedanken an die alten Fehden vergessen.

»Wenn diese raubgierige Meute so weitermacht, wird unser schönes Land in Schutt und Asche versinken und nichts mehr von ihm übrig bleiben«, sagte Rudolf von Comminges mit vollem Mund. Er sprach aus, was die anderen dachten.

Der Graf von Toulouse legte die Lammkeule zur Seite. »Simon von Montfort und seinem Abt bleiben nur noch achtundzwanzig Tage, dann sind die vereinbarten vierzig Tage um.« Er warf einen bedeutungsvollen Blick in die Runde.

Die Ritter hörten auf zu essen und sahen ihn erwartungsvoll an.

»Die Spreu wird sich vom Weizen trennen. Die Fürsten und Barone werden das Heer verlassen und mit ihnen der größte Teil der Plünderer, die darauf brennen, nach Hause zu kommen, um dort mit ihrem Sieg prahlen und ihre Beute in die Hurenhäuser und Schänken tragen zu können.«

Knisternde Spannung lag über der Männerrunde. Raimund VI. senkte seine Stimme. »Wenn es so weit ist, wird von diesem Heer nicht mehr als ein Haufen unbewaffneter Priester und Mönche übrig bleiben, und dann kümmern wir uns um Montfort. Wenn er glaubt, ich würde ihm kampflos meine Ländereien überlassen, dann hat er sich getäuscht.«

Ein dumpfer Schlag ertönte hinter einem der Zelte, dem Kampfgeräusche folgten. Die Ritter sprangen auf und zogen ihre Schwerter.

»Was fällt dir ein, wie ein Wurm hier herumzukriechen und die Gespräche meines Herrn zu belauschen?«, ließ sich nun klar und deutlich eine Stimme vernehmen, welche die Ritter eindeutig als die Gordons erkannten.

Der trat nun zwischen den Zelten hervor und schob einen sich heftig windenden, dürren Mönch vor sich her. Im Schein des Feuers sah Raimund, dass es sich um Bruder Jakob handelte. Der Mönch hatte zu viel gehört und bedeutete eine Gefahr für sie alle.

Raimund VI. nickte Rudolf von Comminges unmerklich zu, ein kurzer Blickwechsel, der dem Mönch nicht entgangen war. In seine Augen trat Angst. Er öffnete seinen Mund, um zu schreien, doch ein gurgelndes Geräusch war alles, was zu hören war. Rudolf von Comminges war von hinten an ihn herangetreten und hatte ihm mit einer blitzschnellen Bewegung die Kehle durchgeschnitten.

»Schafft ihn ins Zelt und lasst seine Leiche später, wenn alle schlafen, verschwinden«, befahl der Graf.

Nicht weit von ihnen entfernt, erklang eine Laute. Einige betrunkene Ritter fielen in die Melodie mit ein und begleiteten die raue Stimme des Troubadours, die sich wohlklingend in die klare Nachtluft erhob.

Wenn Rosse wiehern herrenlos

im Schatten dunkler Wälder.

Und »Hilfe, Hilfe!« tönt es schwer,

und Groß und Klein vom Graben her

rollt in die grünen Felder.

Und aus der Toten Rippen klafft

samt Wimpel noch der Lanzenschaft.

Barone borgt euch Gelder,

gebt Schloss und Dörfer in Verhaft,

eh dass im Streite ihr erschlafft.

Gordon setzte sich neben seinen Herrn ans Feuer. Ohne dass es ihm bewusst wurde, wippte sein Fuß im Takt des Liedes mit.

Der Graf von Toulouse wandte sich ihm zu. »Hast du etwas herausgefunden?«, fragte er leise.

Gordon schüttelte den Kopf. »Nur, dass sie fortgegangen ist, ohne jemandem mitzuteilen, wohin«, berichtete er.

Raimund VI. starrte mit gerunzelter Stirn in die Flammen.

Nicola hatte Elysa also, so gut er konnte, beschützt, und es war ihm gelungen, sie vor dem Angriff der Kreuzfahrer aus der Stadt zu schaffen, aber wo war sie jetzt? Er dachte kurz darüber nach und kam zu dem Schluss, dass es nur einen Ort geben konnte.

»Wahrscheinlich ist sie auf dem Weg zum Montségur, um Schutz in der Burg des Grafen von Foix zu suchen. Die Schwester des Grafen von Foix ist eine Vollkommene und ihre Burg ein Zufluchtsort für die Guten Christen geworden. Reite ihr nach, sobald es hell ist, und sorge dafür, dass sie sicher dort ankommt«, sagte er leise. »Der Graf von Foix ist unser Freund, er wird sich so lange um das Mädchen kümmern, bis ich es unter meinen Schutz stellen kann.«

Am nächsten Morgen sattelte und bestieg Gordon in aller Frühe sein Pferd. Nachdem er das Lager hinter sich gelassen hatte, lockerte er die Zügel und trieb seinen Braunen zu einem flotten Trab an. Er ritt durch ein Wäldchen und genoss den feuchten, erdigen Geruch, der vom Boden aufstieg und ihn an seine Kindheit erinnerte. Beinahe täglich war er früher mit seinen beiden älteren Brüdern durch die Wälder seines Vaters gestreift und hatte Jagd auf Hasen und Fasane gemacht. Seit damals war viel Zeit vergangen, und sie hatten einander nie wiedergesehen. Sein ältester Bruder Guillaume war seit zehn Jahren tot, und Étienne, der Zweitälteste, hatte erst Richard Löwenherz und dann dessen Bruder Johann Ohneland gedient, bevor er auf die Seite des französischen Königs gewechselt war, was ihn seinen gesamten Besitz gekostet hatte. Gordons Eltern waren ebenfalls schon lange tot, und so gab es nichts mehr, was ihn zurück in die alte Heimat zog. Von seinem Leben in England waren ihm nur ein paar Erinnerungen geblieben, von denen die Streifzüge mit seinen Brüdern die schönsten und lebendigsten waren.

Als er aus dem Wald ritt, überquerte er eine Erhebung, der ein flaches Tal folgte. Vor ihm ging die Sonne auf und tauchte Gräser und Sträucher in ein rötliches Licht. Er ritt an einigen kleineren Dörfern und Siedlungen vorbei, bekam aber keine Menschenseele zu Gesicht.

Überall herrschte tiefe Stille, und man konnte leicht auf den Gedanken verfallen, der einzige Mensch weit und breit in der nur dünn besiedelten, urwüchsigen Landschaft zu sein.

Die Landschaft wurde rauer, je weiter er südwestlich ritt. Schroffe Felsen schoben sich immer näher an den schmalen, unbefestigten Pfad heran, der sich in Schlangenlinien den Berg hinaufzog. Immer wieder musste er losen Steinen ausweichen und darauf achten, dass sein Pferd keinen falschen Schritt machte.

Gegen Mittag erreichte er einen Buchenwald, dessen dichtes Blätterdach wohltuenden Schatten gegen die hochstehende Sonne spendete. An einer kleinen Felsquelle tränkte er sein Pferd und fütterte es mit dem mitgebrachten Getreide, dann ritt er weiter. Als die Dunkelheit hereinbrach, suchte er unter dem weit vorstehenden Überhang eines Felsens Schutz und übernachtete dort.

Am nächsten Vormittag lichtete sich der Wald, und er konnte die wie ein Adlernest auf dem Montségur thronende, aus dem Fels herausgehauene Burg erkennen. Doch zwischen ihm und der Burg lagen noch einige felsige Höhenzüge, die er überwinden musste. Erst gegen Nachmittag kam er an einer tiefen Schlucht vorbei, in der mehrere Wasserfälle in kleine und tief in den Fels eingegrabene Becken flossen.

Ihr Wasser wurde von der Getreidemühle außerhalb des Dorfes genutzt, das flach wie ein Kuhfladen auf einem Felsvorsprung am Südhang des Burgbergs klebte.

Vor der Mühle standen einige Bauern neben ihren mit Getreidesäcken beladenen Maultieren und starrten ihm feindselig entgegen.

Sie hatten in aller Eile die Getreideernte eingefahren, um sie vor den Truppen der Kreuzfahrer in Sicherheit zu bringen. Geduldig warteten sie nun darauf, bis sie an der Reihe waren.

Gordon kümmerte sich nicht weiter um die Bauern. Er ließ das Dorf hinter sich und ritt den gewundenen Weg zur Burg hoch. Die hoch aufragenden, steilen und von wild wuchernden Gräsern und Sträuchern bewachsenen Hänge des Berges bildeten eine natürliche Festung und ließen die errichtete Wehrmauer überflüssig erscheinen, hinter der ein kleines Dörfchen in schwindelerregender Höhe terrassenförmig erbaut worden war. Gordon betrachtete kopfschüttelnd die niedrigen Häuser und fragte sich, wie sie wohl den stürmischen Winden standhielten, die im Herbst über das Land fegten.

Nur mit Mühe gelang es ihm, an den voll beladenen Ochsenkarren und Maultieren vorbeizukommen, die in einer langen Reihe der Burg entgegenzogen.

Obwohl ihm diese uneinnehmbar vorkam, sah er schon am unteren Wall schwer bewaffnete Wachen stehen. Er ritt den Wall entlang, bis er an ein schweres, eisenbeschlagenes Eichentor gelangte, das von zwei halbrunden Türmen flankiert wurde. Zwei Wachen versperrten ihm mit gekreuzten Lanzen den Weg. Über ihren Kettenhemden trugen sie weiße Waffenröcke.

»Was ist Euer Begehr?«, fragte der Ältere der beiden und musterte ihn aufmerksam.

»Ich bin im Auftrag des Grafen von Toulouse hier und habe eine Nachricht für den Grafen von Foix«, sagte Gordon.

Die Wachen öffneten daraufhin das Tor und ließen ihn durch. Ein schmaler Gang führte vom Tor zu einem langen, sich nach hinten verengenden Innenhof. Der Bergfried war durch eine Versteifungsmauer zusätzlich geschützt. In dem geräumigen Innenhof standen überall Bewaffnete, die den Bauern halfen, ihre schweren Säcke von den Wagen zu heben. Die Bewohner der Burg bereiteten sich eindeutig auf eine längere Belagerung vor.

Gordon übergab einem der Knechte sein Pferd und lief mit großen Schritten auf den Wohnturm zu, an den sich ein Rundturm mit Zisterne anschloss. Über eine Freitreppe gelangte er in einen geräumigen Saal, der von einem wuchtigen Kamin beherrscht wurde. Um ihn herum saßen Männer in Waffenröcken auf breiten Falthockern. Andere hatten es sich auf den breiten Fenstersitzen bequem gemacht oder sich hinter oder neben die Sitzenden gestellt. An der Wand gegenüber der Fensterseite lehnten Lanzen und Schilde.

Innerhalb der Mauern war es trotz der Hitze, die draußen herrschte, angenehm kühl. Es fiel nur wenig Licht durch die schmalen, hohen Fenster in den Saal. Es war aber hell genug, um Gordon die Gesichter der Männer erkennen zu lassen.

»Der übelste Auswurf der Hölle ist nichts gegen diesen Schlächter Montfort, und der schwarze Abt, wie sie das Auge des Papstes seit der Eroberung von Béziers nennen, ist noch viel schlimmer«, berichtete ein kräftiger, dunkelhaariger Mann. »Nachdem die Stadt gefallen war, hat einer der Hauptmänner den Abt gefragt, wie man denn die Christen von den Katharern unterscheiden könne.« Er sah in die Runde, um sich der Aufmerksamkeit seiner Zuhörer zu vergewissern, bevor er fortfuhr. »Dessen Antwort war: ›Tötet sie alle, der Herr wird die Seinen schon erkennen.‹ Danach hat das große Schlachten begonnen. Der Händler, von dem ich das erfahren habe, hat geschworen, dass es sich genau so verhalten hat.«

»Und er hat recht«, sagte Gordon in die erdrückende Stille hinein, die sich daraufhin ausbreitete.

Die Blicke der Männer richteten sich auf den Neuankömmling, und auch der Graf von Foix wandte sich um. Er war ein hochgewachsener, schlanker Mann mit blondem, von weißen Strähnen durchzogenem Haar und funkelnden, goldbraunen Augen. Er trug einen weißen Waffenrock und darüber einen lose über den Rücken fallenden blauen Umhang, der über der Brust von einer Gewandspange gehalten wurde. Seine Beinlinge waren gepolstert und am Knie durch einen Buckel verstärkt.

»Ich habe eine Botschaft für Euch, die vertraulich ist«, wandte sich Gordon nun direkt an ihn.

Ramon-Roger von Foix erhob sich und bedeutete Gordon, ihm zu folgen. Er ging ihm voran in einen Schreibraum, der an den großen Saal angrenzte.

Neben einem Schreibpult, auf dem sich verschiedene Pergamente stapelten, blieb er stehen und sah Gordon auffordernd an. Er besaß eine eigenartige Ausstrahlung, der sich Gordon nur schwer entziehen konnte. Obwohl er ruhig dastand, schien er mit seiner Präsenz den gesamten Raum auszufüllen.

»Ich weiß nicht, ob Ihr schon davon gehört habt, dass Nicola in den Tod gegangen ist«, begann Gordon.

Der Graf von Foix nickte. »Ein Bote hat uns davon berichtet«, sagte er und lächelte, als er die Überraschung in Gordons Miene bemerkte. »Wir befinden uns zwar beinahe am anderen Ende der Welt, aber wir erfahren alles, was wir wissen müssen. So wurde uns auch von der Zerstörung Rhedaes und Nicolas Freitod berichtet.«

»Ja, aber zuvor hat Nicola noch seine Nichte weggeschickt, und Arnold Amaury ist nun auf der Suche nach ihr. Mein Herr glaubt, dass sie bei Euch Unterschlupf suchen wollte. Er fühlt sich für das Mädchen verantwortlich und hat mir den Auftrag erteilt, es zu beschützen.«

Ramon-Roger hatte sich während Gordons kurzem Bericht erhoben und war an das einzige Fenster im Raum getreten.

»Sie ist nicht hier angekommen«, sagte er beunruhigt. »Nicola war unser Freund, und er muss einen Grund dafür gehabt haben, sie vor den Kreuzfahrern in Sicherheit zu bringen. Sie darf Arnold Amaury deshalb auf keinen Fall in die Hände fallen. Ich werde sofort einige Männer aussenden, die nach ihr suchen. Wir müssen wissen, was mit ihr geschehen ist.«

Ein nachdenklicher Zug trat in sein markantes Gesicht.

»Ich werde alles Nötige sofort veranlassen, Ihr könnt Euch derweil in der Küche etwas zu essen geben lassen. Dann reitet zurück und richtet Eurem Herrn aus, dass wir uns um das Mädchen kümmern werden.«

Der Ton seiner Stimme hatte sich verändert. Er war unmerklich schärfer geworden, als er über Nicolas Nichte Elysa gesprochen hatte.

Gordon überlegte, ob dies etwas zu bedeuten hatte oder ob er sich das Ganze nur eingebildet hatte.

Von seinem Reiseproviant war noch genügend übrig. Es würde für den Rückweg reichen. Gordon lief zu den Ställen, um sein Pferd zu holen, und verließ danach auf schnellstem Weg die Burg. Doch er dachte nicht daran, zum Heer zurückzureiten. Der Graf von Toulouse hatte ihm aufgetragen, das Mädchen zu finden, und genau das würde er nun tun.

Wenn die junge Frau Rhedae bereits vor dem Überfall verlassen hatte, hätte sie längst auf der Burg eingetroffen sein müssen. Vielleicht hatte sein Herr sich aber auch geirrt, und das Mädchen befand sich ganz woanders, weil es gar nicht in Richtung Montségur losgegangen war. Es gab noch viele andere Möglichkeiten, wo es Schutz suchen konnte; die Guten Christen waren im ganzen Land beliebt und hatten überall Freunde. Und doch war Raimund VI. sich ganz sicher gewesen, dass Nicola seine Nichte zum Montségur geschickt hatte.

Nachdenklich ließ Gordon die Zügel hängen. Erst nachdem sein Pferd mehrmals ins Stolpern geraten war, nahm er sie wieder auf.

Plötzlich fiel ihm ein, dass es noch eine andere Möglichkeit gab, an die er bislang noch gar nicht gedacht hatte: Das Mädchen konnte sich während des Überfalls irgendwo versteckt haben und sich erst nach dem Abzug der feindlichen Truppen auf den Weg zum Montségur gemacht haben. Das würde auch erklären, warum es bisher nicht dort aufgetaucht war. Je länger er darüber nachdachte, umso überzeugter war er, mit seiner Vermutung richtigzuliegen.

Doch wo sollte er mit seiner Suche beginnen? Er wusste nur, dass, sollte Elysa noch unterwegs sein, sie sich mit Sicherheit abseits aller Wege halten würde.

Vor der Mühle wimmelte es von Bauern, die alle noch an diesem Tag ihr Korn mahlen lassen wollten. Knechte in kurzen Kitteln schleppten die schweren Kornsäcke in die Mühle und kamen mit Mehlsäcken wieder heraus, die von den Bauern in Empfang genommen wurden. Niemand schenkte Gordon große Beachtung. Die Dämmerung brach bereits herein, und alle hatten es eilig, noch vor Einbruch der Dunkelheit nach Hause zu kommen.

Gordon beschloss, auf Schafspfaden weiterzureiten, die sich fernab der Wege über die Wiesen zogen. Es war die einzige Möglichkeit, noch auf das Mädchen zu stoßen.

Er ritt, bis es zu dunkel war, um die Suche weiter fortzusetzen, und übernachtete in einer halb verfallenen Scheune, deren Boden mit Stroh bedeckt war.

Am nächsten Morgen sattelte er in aller Frühe sein Pferd und ritt weiter in Richtung Rhedae. Er kam durch ein verlassen wirkendes kleines Dorf, das sich eng an die schroff aufragenden Felsen schmiegte. Unterhalb des Dorfes trafen sich die beiden Flüsse Blanque und Sals.

Es war ein schöner Spätsommertag, und die Sonne brannte heiß auf ihn hinunter. Gordon beschloss, seinem Pferd eine Pause zu gönnen, und ritt zum Fluss, dessen Ufer mit hohen Gräsern und Schilf bewachsen war. Plötzlich hatte er es nicht mehr eilig. Der Gedanke, erfolglos zum Heer zurückzukehren, gefiel ihm ganz und gar nicht. Er sprang vom Pferd, lockerte den Sattelgurt und ließ den Hengst grasen.

Mit seinem Helm schöpfte er das klare, kalte Flusswasser und ließ es sich über den Kopf laufen. Dann setzte er sich unter die Schatten spendende Krone einer mächtigen Weide und döste eine Weile vor sich hin. Als die Sonne tiefer stand, kamen einige Frauen zum Fluss, um Wasser zu holen. Sie hielten sich von ihm fern und warfen ihm misstrauische Blicke zu. In aller Eile füllten sie ihre Krüge und verschwanden danach wieder.

Gordon wusste, dass es keinen Sinn hatte, sie nach dem Mädchen zu fragen. Selbst wenn sie etwas wussten, würden sie es ihm nicht sagen. Er war ein Fremder in dieser Gegend und zudem bewaffnet. Das reichte, um ihr Misstrauen zu wecken.

Widerwillig erhob er sich. Er konnte nur hoffen, dass die Leute des Grafen von Foix mehr Erfolg mit ihrer Suche haben würden, denn sie kannten die Bauern und Handwerker dieser Gegend und würden erfahren, wenn das Mädchen bei diesen eintraf oder gesehen worden war.

Die Sonne ging bereits unter und ließ das Wasser des Flusses wie Gold schimmern. Von der entfernt gelegenen Dorfstraße drangen laute Stimmen zu ihm, begleitet von Hufgetrappel. Es schien sich um eine größere Gruppe Berittener zu handeln.

Sein Brauner schnaubte nervös. Das Hufgetrappel wurde leiser und entfernte sich. Er wollte gerade sein Pferd besteigen, als er aus den Augenwinkeln heraus eine Bewegung im hohen Gras bemerkte. Irgendjemand schlich sich an ihn heran.

Mit geübtem Griff zog er sein Schwert aus der Scheide, schlug einen kleinen Bogen und trat vorsichtig von hinten näher. Eine schmale Gestalt presste sich eng auf den Boden vor ihm. Sie trug ein Gewand aus hellbraunem Leinen, dazu einen weißen Gürtel mit mehreren, kleinen Stoffbeuteln und einem kurzen Messer.

Er steckte sein Schwert in die mit Leder bezogene Scheide zurück.

Von diesem Mädchen ging keine Gefahr aus.

»Sie sind weg, du brauchst dich nicht länger zu verstecken«, sagte er lächelnd und wartete gespannt auf ihre Reaktion.

Das Mädchen sprang mit einem Satz auf, drehte sich um und starrte ihn mit ihren hellen, grünen Augen misstrauisch an. Sie hatte zarte Gesichtszüge, und ihr blondes, langes Haar war vom Wind zerzaust.

Gordon zwinkerte ihr zu. Um seinen Mund spielte ein spöttisches Lächeln. Einen Moment lang glaubte Elysa, der fremde Ritter wolle sich über sie lustig machen. Zudem machte sie die Art, wie er sie anschaute, verlegen. Seine dunkelblonden Locken fielen ihm bis auf die Schultern, und die Rüstung unterstrich seine reckenhafte Gestalt und ließ ihn breitschultriger wirken, als er tatsächlich war.

Sicher gehörte er zu der Art von Männern, die den Mädchen so lange schöne Augen machten, bis sie bekamen, was sie wollten.

Die gute Anna war nicht müde geworden, sie vor solchen Männern und ihren Liebesschwüren zu warnen. Zu viele Mädchen waren schon leichtgläubig auf sie hereingefallen und deshalb ins Unglück gestürzt.

Fieberhaft überlegte sie, was sie jetzt tun sollte.

Eine Flucht kam nicht in Frage. Mit seinem Pferd war er schneller als sie und hätte sie rasch eingeholt.

»Du kannst gehen, ich werde dir nichts tun«, sagte Gordon in ihre Gedanken hinein.

Im ersten Moment war Elysa überrascht. Forschend sah sie ihn an, als könne sie ihm ansehen, ob er die Wahrheit sagte oder nicht.

Dann bückte sie sich, hob ihr Bündel auf, das sie auf der Flucht vor den Berittenen verloren hatte, wandte sich ab und lief mit flinken Schritten davon.

Gordon sah ihr fasziniert nach. Die junge Frau war von außergewöhnlicher Schönheit, und sie tat gut daran, sich vor den umherziehenden Söldnern zu verbergen.

Sie hatte ein Bündel bei sich, was bedeutete, dass sie nicht aus dem Dorf stammte, wie er zuerst angenommen hatte. Weshalb ... langsam dämmerte ihm, dass es ein Fehler gewesen war, sie laufen zu lassen. So schnell er konnte, bestieg er sein Pferd und ritt ihr nach.

Als sie bemerkte, dass der Ritter sie verfolgte, lief sie schneller. Er trieb sein Pferd an.

»Ich bin auf der Suche nach Elysa, der Nichte des Katharers Nicola!«, rief er ihr zu.

Das Mädchen blieb so plötzlich stehen, dass er es beinahe über den Haufen geritten hätte.

»Du bist Elysa«, stellte er daraufhin fest.

Gordon konnte sein Glück kaum fassen. Er hatte die Hoffnung, die junge Frau zu finden und damit seinen Auftrag zu erfüllen, schon fast aufgegeben, und jetzt lief sie ihm direkt in die Arme. Sein Herr würde zufrieden mit ihm sein.

Elysa schien seine freudigen Gefühle jedoch nicht zu teilen, abweisend sah sie zu ihm auf.

»Du bist in Gefahr«, sagte Gordon langsam, um sie nicht zu erschrecken. »Der Abt Arnold Amaury ist auf der Suche nach dir. Mein Herr, der Graf von Toulouse, hat mir den Befehl erteilt, dich vor ihm zu schützen und sicher zum Montségur zu geleiten.«

»Ihr habt versprochen, mich gehen zu lassen.«

»Da wusste ich aber noch nicht, wer du bist.«

»Ihr hättet Euch eben vorher danach erkundigen sollen«, erklärte sie und wirkte nicht mehr verängstigt.

»Ich habe vor, meinen Auftrag auszuführen.«

»Und ich erwarte, dass Ihr Euer Wort haltet.«

Sie starrten einander an.

»Du bist in Gefahr«, wiederholte Gordon so langsam, als spräche er mit einem begriffsstutzigen Kind.

»Das sagtet Ihr bereits.«

»Es tut mir leid, aber ich kann dich nicht gehen lassen.«

»Und ich werde nicht mit Euch gehen.«

Elysa wandte sich abrupt um und setzte ihren Weg fort. Gordon sah ihr verblüfft nach. Sie schien so fest davon überzeugt zu sein, dass er sein Wort halten würde, dass er es nicht über sich brachte, sie zu enttäuschen. Unmittelbar hinter dem Dorf begann der Wald. Dort würde es ein Leichtes für Elysa sein, sich vor ihm zu verstecken.

Gordon trieb seinen Braunen an und ritt ihr nach. Fieberhaft überlegte er, wie er sie davon überzeugen konnte, dass er es nur gut mit ihr meinte.

»Auf meinem Pferd erreichen wir die Burg schneller und sicherer«, versuchte er es noch einmal.

»Ihr habt versprochen, mich gehen zu lassen«, erinnerte sie ihn hartnäckig.

Sie bog in den kleinen Weg ein, der direkt in den Wald führte. Das eh schon schwindende Tageslicht drang nur noch schwach durch die dichten Baumkronen. Feuchte Kühle schlug Gordon entgegen, und ihm fiel auf, dass das Mädchen nicht einmal einen Umhang trug. Noch war es warm, doch die Nächte konnten schon empfindlich kalt werden, vor allem gegen Morgen zu.

Eine Weile ritt er hinter Elysa her und war froh darüber, dass sie keinen Versuch unternahm zu fliehen. Zu Pferd würde er keine Möglichkeit haben, sie im dichten Unterholz zu verfolgen.

Der Wind raschelte leise in den Blättern; ansonsten herrschte tiefe Stille. Der weiche Waldboden verschluckte die Schritte seines Pferdes.

Vielleicht würde Elysa ihre Meinung ja noch ändern, sobald es dunkel war. In der Nacht verwandelte sich der Wald in eine unheimliche Schattenwelt mit allerlei Furcht einflößenden Geräuschen, die selbst dem mutigsten Mann Angst einjagen konnten.

Es war eine merkwürdige Situation, in der er sich befand, und er überlegte, ob er sie nicht besser einfach packen und vor sich aufs Pferd setzen sollte, doch dann verwarf er den Gedanken wieder. Er hatte ihr sein Wort gegeben, sie gehen zu lassen, und seine Ritterehre verbot ihm, sein Wort zu brechen.

Damit blieb ihm nichts anderes übrig, als weiter hinter ihr herzureiten und zu versuchen, sie umzustimmen.

Er vergrößerte den Abstand zwischen ihnen ein wenig, um zu verhindern, dass sie sich zu sehr von ihm bedrängt fühlte.

Der krächzende Schrei eines Käuzchens durchbrach die gedämpfte Stille, doch sie zuckte nicht einmal zusammen. Unmerklich wurde es dunkler, und Gordon verringerte den Abstand wieder, um Elysa nicht aus den Augen zu verlieren. Der schmale Pfad führte nun steil bergan, doch noch immer zeigte Elysa keinerlei Ermüdungserscheinungen.

Viele Male war sie mit ihrem Onkel durch die Berge gewandert, manchmal die ganze Nacht hindurch. Anfangs hatte sie sich in der Dunkelheit gefürchtet, vor allem in den schwarzen, mondlosen Nächten. Doch mit der Zeit hatte sie ihre Angst verloren und gelernt, all ihre Sinne im Dunkeln zu gebrauchen.

Gordon war neugierig, wo sie sich einen Platz zum Übernachten suchen würde.

Als sie die Spitze des Höhenzuges erreicht hatten, war es fast dunkel. Neben einer kleinen Felsformation ragte ein Menhir in den Himmel, der im Zwielicht wie ein bärtiger Wächter aussah.

Zielstrebig lief Elysa auf ihn zu und war wenige Augenblicke später Gordons Blicken entschwunden.

Er stieg vom Pferd und band es an einem Baum fest. Dann sah er sich suchend um. Es dauerte eine Weile, bis er im fahlen Licht des sichelförmigen Mondes die schmale Felsspalte am Fuße des Wächters entdeckte, in der Elysa verschwunden sein musste. Sie schien die Gegend gut zu kennen. Die schmale Öffnung war von Sträuchern verdeckt und vom Weg aus nicht zu sehen, da sie sich auf der Rückseite des Menhirs befand.

Er suchte sich einen Platz nicht weit von der Felsspalte entfernt unter einigen eng beieinanderstehenden Buchen und sattelte sein Pferd ab. Er verzichtete darauf, ein Feuer zu entzünden. Seit Wochen hatte es nicht mehr geregnet, und der Wald war so trocken, dass ein Funke genügen würde, um ihn in ein gefährliches Flammenmeer zu verwandeln.

Er legte seinen Kopf auf den Sattel und starrte nachdenklich in die dichten Baumkronen, die ein natürliches Dach über ihm bildeten.

Er war froh, seinen Auftrag doch noch ausführen zu können. Seinem Herrn schien viel daran zu liegen, Elysa vor dem Abt in Sicherheit zu bringen. Nicola war der engste Vertraute des Grafen gewesen, aber warum nur hatte er seine Nichte zurückgelassen, anstatt gemeinsam mit ihr zu fliehen?

Elysas Anblick hatte die widersprüchlichsten Gefühle in Gordon ausgelöst. Sie war zweifellos schön, aber es war eine andere Schönheit als die, die er von den Damen am Toulouser Hof kannte. Sanfter und weniger aufdringlich. Ihr Haar leuchtete, als hätten sich die Strahlen der Sonne darin verfangen, und ihre Augen waren so klar und rein wie das Wasser eines Gebirgssees. Aber es war ihre Entschlossenheit, die ihn am meisten beeindruckt und davon abgehalten hatte, sie einfach vor sich aufs Pferd zu setzen und zum Montségur zu schaffen, die Art, wie sie ihm die Stirn geboten hatte.

Es waren merkwürdige Gedanken, die ihm durch den Kopf gingen, genauso merkwürdig wie dieser Feldzug im Zeichen des Herrn, in dem unschuldige Frauen und Kinder niedergemetzelt und Kirchen zerstört wurden. Er ahnte, dass nach diesem Krieg nichts mehr so sein würde, wie es einmal gewesen war.

Ein kühler Wind kam auf und strich durch die Blätter. Über Gordon funkelten die Sterne, und der sichelförmige Mond tauchte den Menhir in ein sanftes Licht. Müde schlief er irgendwann über seinen Gedanken ein.

Als er am nächsten Morgen erwachte, stellte er fest, dass Elysa fort war.

Ein Gefühl der Enttäuschung machte sich in ihm breit, als er in das Felsversteck kroch, das nicht größer als an die zwanzig Fuß war. Offenkundig hatte er vergeblich gehofft, dass sie ihm noch ihr Vertrauen schenken würde, wenn sie merkte, dass er sie in keiner Weise bedrängte.

In aller Eile sattelte er sein Pferd.

Der Auftrag, ein hilfloses Mädchen zu schützen und sicher zu ihrem Ziel zu geleiten, war eines Ritters würdig.

Plötzlich gab es nichts Wichtigeres für ihn, als Elysa zu finden. Er trieb sein Pferd an, bis er rechts von sich einen weiteren kleinen Pfad entdeckte, der von dem, auf dem sie gekommen waren, abzweigte und ins Tal hinunterführte. Irgendetwas sagte ihm, dass Elysa diesen Weg genommen hatte. Sie musste noch vor Morgengrauen aufgebrochen sein. Der schmale Fußpfad führte quer über eine Wiese mit Schafen. Zwei struppige, große Hunde sprangen ihm aufgeregt bellend entgegen.

Der Schafhirte sah auf und pfiff die Hunde zurück. Er hatte es sich auf einem umgestürzten Stein gemütlich gemacht und war gerade im Begriff, sein Mahl einzunehmen. Auf seinem Schoß lag ein ausgebreitetes Tuch mit Brot und gesalzenem Fisch. Zu seinen Füßen befand sich ein geflochtener Korb mit Nüssen und ein Krug mit Wasser. Es war das typische Mahl der Guten Christen, die grundsätzlich kein Fleisch verzehrten. Gordon hatte demnach einen Glaubensbruder von Elysa vor sich, was die Situation nicht gerade erleichterte.

Gordon hob die Hand zum Gruß, während er näher ritt.

»Ich bin auf der Suche nach einem Mädchen. Ist dir diesen Morgen schon eines begegnet?«

Das von der Sonne verbrannte und von Falten durchzogene Gesicht des alten Mannes drückte Ablehnung aus.

»Ich habe niemanden gesehen«, sagte er abweisend, doch der flackernde Blick in seinen dunklen Augen strafte ihn Lügen.

»Ich könnte dich für deine Lüge töten«, meinte Gordon scharf. »Aber du hast Glück, ich habe nichts Böses im Sinn.« Er wusste jetzt, dass er den richtigen Weg eingeschlagen hatte, und drückte seinem Pferd die Fersen in die Seite, damit es angaloppierte.

»Welche Tat der Mensch tut, zu solchem Dasein gelangt er«, schrie der Hirte ihm plötzlich, vom Zorn übermannt, hinterher und fuchtelte drohend mit seinem Stock in der Luft herum.

Der Himmel war grau und verhangen. Es konnte nicht mehr lange dauern, bis es anfangen würde zu regnen. Gordon trieb seinen Braunen zu einem noch schnelleren Tempo an und genoss den scharfen Ritt. Die Wiese erstreckte sich bis in ein dünn bewaldetes Tal hinein, das in der Ferne in eine weite Ebene überging. Die alte Handelsstraße zog sich quer durch das Tal den Col du Linas hinauf und weiter bis nach Puivert.

Eine eng zusammenstehende Baumgruppe versperrte ihm die Sicht. Der Geruch nach Feuer und Gebratenem drang in seine Nase. Sein Brauner spitzte die Ohren und stieß ein warnendes Schnauben aus. Unruhig begann er zu tänzeln. Gordon nahm die Zügel in die linke Hand und griff mit der anderen nach seinem Schwert.

Vor ihm erklang ein Wutschrei, dem einige wilde Flüche folgten. Vorsichtig ritt er näher, bis er eine Stelle fand, an der er durch das Blattwerk spähen konnte.

Elysa lag auf dem Boden und trat mit Händen und Füßen um sich. Ein kräftig gebauter, dunkelhaariger Mann kniete über ihr und zerrte an ihrem Gewand, während ein anderer mit wutverzerrtem Gesicht versuchte, ihn von Elysa wegzuziehen.

»Du wirst sie sofort in Ruhe lassen, du weißt doch, was Montfort uns aufgetragen hat«, schnaubte er. Er versetzte dem Schwarzhaarigen einen heftigen Stoß mit dem hinteren Ende der Lanze, der diesen aus dem Gleichgewicht brachte. Doch schnell hatte der Angegriffene sich wieder gefangen. Noch im Aufspringen griff er nach seinem Schwert. Dann stürzte er sich wie ein raubgieriger Wolf schnaubend auf seinen Kameraden, der vorsichtshalber ein Stück zurückwich. Wütend standen die beiden Männer sich gegenüber. »Gib endlich Ruhe, Prades«, ertönte nun die scharfe Stimme eines dritten Mannes, der aus einem Gebüsch auf die Lichtung trat. »Ich habe nicht vor, mich wegen des Mädchens mit Montfort zu überwerfen. Seine Befehle waren eindeutig.«

Gordon hatte genug gesehen und gehört. Montforts Männer hatten Elysa also gefunden und würden sie sich nicht kampflos wieder abnehmen lassen. Die Routiers waren zu dritt. In einem offenen Kampf würde er keine Chance gegen sie haben, und für Elysa bestand im Moment keine Gefahr.

Er würde folglich warten, bis die Männer schliefen, und Elysa dann im Schutze der Dunkelheit befreien.

Leise zog er sich zurück, doch es war zu spät.

Ein bärtiger Mann, dessen Gesicht von einem kegelförmigen Helm beschattet wurde und den er anscheinend übersehen hatte, stand plötzlich mit Lanze und Schwert in der Hand vor ihm.

»Ei, wen haben wir denn da?«, fragte er höhnisch. »Einen Ritter des feinen Grafen von Toulouse, der hinter uns herschleicht.«

Seine Kumpane wirbelten herum.

»Ich will nur das Mädchen«, sagte Gordon fest. »Ich habe den Auftrag es zurückzubringen.«

»Den gleichen Auftrag haben wir auch, und wir haben sie zuerst entdeckt. Mach, dass du hier verschwindest, und lass dich ja nicht wieder blicken.«

Gordon ging zu seinem Pferd und saß auf, doch der offensichtliche Anführer der Routiers schien es sich plötzlich anders überlegt zu haben. Lauernd starrte er Gordon an.

»Das Mädchen scheint ja für einige Herren ziemlich wichtig zu sein. Setz dich zu uns und erzähl uns darüber. Vielleicht können wir ja ein Lösegeld für sie herausschlagen? Es soll dein Schaden nicht sein.«

Gordon überlegte nicht lange. Die unverhohlene Gier in den Augen des Mannes widerte ihn an, bot ihm aber die Möglichkeit, in Elysas Nähe zu bleiben.

Er stieg wieder vom Pferd und band es neben den anderen fest. Dann setzte er sich zu den vier Männern ans Feuer. Aus den Augenwinkeln sah er, wie Elysa sich zögernd erhob.

»Fesselt sie«, befahl der Anführer, bevor er sich Gordon zuwandte und ihm mit einem wölfischen Grinsen einen Becher Wein reichte.

Gordon musterte die Männer prüfend. Sie waren allesamt kräftig und wirkten tückisch und gefährlich, aber sie hatten dem Wein bereits reichlich zugesprochen und schienen noch lange nicht genug zu haben.

Wenn sie morgen früh ihren Rausch ausgeschlafen haben, werden wir längst auf dem Montségur sein, dachte Gordon zufrieden.

»Trink mit uns auf den Krieg, mein Freund. Solange es Krieg gibt, geht es uns allen gut.« Der Anführer lächelte selbstgefällig.

Gordon tat ihm den Gefallen und trank mit ihnen.

»Also was ist jetzt mit dem Mädchen? Sie ist ganz hübsch, wenn auch für meinen Geschmack ein wenig zu dünn. Ich kann nichts Besonderes an ihr erkennen«, sagte der Mann leutselig und füllte Gordons Becher nach. Gordon nahm nur einen kleinen Schluck.

»Es wird kein Lösegeld geben. Die Kleine ist eine Ketzerin, und der Abt hofft durch sie an die Verstecke weiterer Ketzer heranzukommen, aber was kann ein Mädchen wie sie schon wissen? Mein Herr kannte ihren Onkel und fühlt sich ihm gegenüber verpflichtet, das ist alles.«

»Du lügst.« Von plötzlicher Wut übermannt, sprang der Mann auf und stierte Gordon an. In seiner Hand blitzte ein Messer.

»Du willst das Geld nur für dich allein und bist nichts weiter als ein elender Betrüger. Ich werde dich töten, du Hund!«

Drohend wankte er auf Gordon zu und holte aus, um ihm das Messer in die Brust zu stoßen.

Gordon blieb keine Wahl. Abwehrend riss er seinen linken Arm nach oben und stieß die Hand seines Gegners mit einem Ruck zur Seite, während er mit seiner Rechten nach seinem eigenen Messer griff. Der Routier geriet ins Wanken, brachte Gordon aber eine Wunde am Oberschenkel bei. Der spürte einen scharfen Schmerz, sah aber gleichzeitig, dass der Hals seines Gegners in diesem Moment ungeschützt war. Schnell nutzte Gordon die Chance und stieß mit dem Messer zu, noch bevor die drei anderen ihrem Anführer zu Hilfe eilen konnten. Gurgelnd sank der Mann vor ihm auf die Knie. Über den Kopf des Sterbenden hinweg sah Gordon, wie die Routiers sich wankend erhoben.

Er ließ das Messer fallen und zog im Laufen sein Schwert. Mit zwei Sätzen war er bei ihnen. Sie waren so betrunken und überrascht, dass er mühelos zwei von ihnen unschädlich machen konnte. Der dritte wandte sich eilig zur Flucht und war nach wenigen Augenblicken zwischen den Bäumen verschwunden.

Gordon wischte sein blutiges Schwert an der Kleidung eines der Getöteten ab und steckte es zurück in die Scheide. Dann kam er auf Elysa zu und befreite sie von ihren Fesseln. Elysa hatte den Kampf mit angehaltenem Atem verfolgt, ebenso wie den Streit, der diesem vorangegangen war.

Nun rieb sie sich die Handgelenke und sah an Gordon vorbei in die verzerrten Gesichter der toten Routiers, die mit weit aufgerissenen Augen am Boden lagen und ins Leere starrten. Sie hatten ihren Hass mit in den Tod genommen. Ihre Seelen würden keine Ruhe finden und ziellos durch die Finsternis wandern. Trotz allem, was die Männer ihr angetan hatten, taten sie ihr leid.

Sie ging von einem zum anderen und schloss ihnen die Augen, wobei sie versuchte, nicht auf ihre schrecklichen Wunden zu blicken, was ihr aber nicht gelang. Auf einmal sah sie nicht mehr die beiden Toten vor sich, sondern hatte andere Bilder vor Augen. Verkohlte Leichen, zerstörte Häuser, das kleine tote Mädchen vor der Scheune. Elysa presste beide Hände gegen den Kopf, um die Bilderflut zu stoppen. Sie wollte dies alles nicht sehen, wollte nicht daran denken, was geschehen war, seitdem der Kreuzzug wie ein wütender Sturm über ihr Dorf hergefallen war und alles Friedliche darin zerstört hatte.

Sie sah vom blutgetränkten Boden in den von dunklen Wolken verhangenen Himmel. Ein dicker Tropfen traf sie auf der Stirn, weitere Tropfen folgten. Dann begann es zu regnen, und die Tropfen vermischten sich mit den Tränen, die ihr über die Wangen liefen. Sie ließ sie rinnen, ohne sie fortzuwischen. Es war, als würde der Himmel mit ihr weinen.

Dann hörte der Regen so plötzlich auf, wie er gekommen war, und auch ihre Tränen versiegten. Gordon sammelte in aller Eile die Waffen der toten Routiers ein und verstaute sie in den Satteltaschen seines Pferdes. Aus der Wunde an seinem Oberschenkel, die er nur notdürftig mit einem Tuch umwickelt hatte, tropfte Blut. Als würde er ihren Blick bemerken, wandte er den Kopf in ihre Richtung.

»Kannst du reiten?«

Elysa schüttelte den Kopf.

Gordon zog den Sattelgurt fest und humpelte, sein Pferd am Zügel, auf Elysa zu.

Mühsam bestieg er sein Pferd, beugte sich zu Elysa hinab und streckte die Hand aus, um ihr hinaufzuhelfen. Elysa trat einen Schritt zurück und hob abwehrend die Hände.

»Wir müssen von hier weg«, drängte Gordon. Sie zögerte. »Der Kerl, der sich aus dem Staub gemacht hat, treibt sich hier noch irgendwo herum«, setzte er hinzu und verdrängte den Gedanken an die Wunde an seinem Oberschenkel. Es war ihm nicht gelungen, den Blutfluss zum Stillstand zu bringen, aber darum würde er sich später kümmern.

Gordon, der sah, dass seine letzten Worte Wirkung zeigten, beugte sich wieder hinab, und dieses Mal ergriff Elysa die ihr dargebotene Hand. Sie wog nicht viel und ließ sich leicht nach oben ziehen. »Du musst versuchen, dich den Bewegungen des Hengstes anzupassen«, riet Gordon ihr und galoppierte an. Die Bäume und Sträucher flogen daraufhin geradezu an Elysa vorüber, und der Wind strich kühlend über ihr erhitztes Gesicht.

Elysa hatte noch nie auf einem Pferd gesessen. Ihre Hände schlossen sich fester um Gordons Taille, der ihr in diesem Augenblick, da alles um sie herum ins Wanken geriet, den einzig festen Halt bot. Der Hengst bewegte sich ruhig und gleichmäßig, und es war nicht schwer, sich seinen weit ausgreifenden Sprüngen anzupassen.

Nach einer Weile lehnte Elysa ihren Kopf gegen Gordons Schulter und überließ sich ganz dem Rhythmus des Pferdes. Sie spürte den Wind in ihren Haaren, dachte an nichts und fühlte sich dabei so geborgen wie schon lange nicht mehr.

Erneut zogen sich tief hängende Wolken immer dichter über dem Tal zusammen. Schlagartig verdunkelte sich der Himmel, und der einsetzende Regen stürzte wie eine undurchdringliche, nasse Wand auf die Erde herab.

Gordon parierte sein Pferd zum Schritt durch.

Es stolperte über einen schmalen Graben, der sich talabwärts verbreiterte, vorbei an umgeknickten, gezackten Baumstämmen, die an vergangene Stürme und Blitzeinschläge erinnerten. Von einem Moment auf den anderen wurde es so dunkel, dass Gordon den Weg kaum noch erkennen konnte, und es blitzte heftig um sie herum. Die Blitze zuckten erschreckend tief über den Himmel. Dann ließ ein lautes Krachen die Luft erzittern, dem ein tiefes, warnendes Grollen folgte.

Das Wäldchen war schon zu weit entfernt, um darin Schutz zu suchen, außerdem lauerte dort nach wie vor der entflohene Routier. Und um sie herum befanden sich nur vereinzelte Bäume. Der Graben, den wir eben durchquert haben, dachte Gordon. Er war die einzige Möglichkeit, die ihnen blieb.

Er wandte das Pferd und lenkte es zurück. Die sanft abfallenden Seitenwände des Grabens waren durch den Regen rutschig geworden, und das Pferd geriet immer wieder ins Schlittern. Gordon stieg ab und half auch Elysa vom Rücken des Tieres herunter. Immer wieder sprach er beruhigend auf das Tier ein, klopfte ihm den regennassen Hals und führte es vorsichtig tiefer hinab. Elysa hielt sich dicht hinter ihm und hoffte, dass er nicht bemerkte, dass sie am ganzen Körper zitterte, während das Unwetter über ihnen tobte.

Gordon blieb stehen und drehte sich zu ihr um. »Hier haben wir wenigstens etwas Schutz«, meinte er zuversichtlich. Ein gewaltiges Krachen war die Antwort. Elysa fuhr erschrocken zusammen. Gordon legte schützend einen Arm um ihre Schulter. »Hab keine Angst«, flüsterte er ihr ins Ohr. »Der Himmel wird schon nicht einstürzen.«

Er atmete den Duft ein, der von ihrem nassen Haar aufstieg, und hoffte insgeheim, dass das Unwetter noch eine Weile anhalten würde. Es war schon eine geraume Weile her, seitdem er ein Mädchen im Arm gehalten hatte, und es fühlte sich gut an. Um sie herum blitzte es wieder, dann erklang ein langgezogenes Grollen, dem ein noch gewaltigeres Krachen folgte. Elysa stand wie erstarrt, nur ihre Schultern bebten leicht. Gordon hatte bisher nicht den Eindruck gewonnen, dass sie leicht zu erschrecken, sondern – ganz im Gegenteil – ziemlich stur war und lieber in ihr Unglück rannte, als eine gutgemeinte Warnung beherzigte.

Die Stille, die auf den Donner folgte, war erdrückend und unheimlich, und für einen Moment schien es, als wäre alles Leben um sie herum erstarrt. Nichts bewegte sich. Elysa schob Gordons Hand von ihrer Schulter und trat einen Schritt zurück. Erneut zuckten Blitze über den schwarzen Himmel, und in ihrem Licht sah Gordon, wie sie ihre Schultern zusammenzog. Die Lippen hatte sie fest zusammengepresst. Es amüsierte ihn, dass sie behauptete, sich nicht zu fürchten, aber er sagte nichts. Gewitter waren kein Grund, um in Panik auszubrechen, aber es war auch keine Schande zuzugeben, dass sie einem unheimlich waren. »Es wird bald vorbei sein«, sagte er und bemerkte voller Genugtuung, wie ihre Haltung sich ein wenig entspannte. Und tatsächlich wurde das Grollen über ihnen leiser. Hier und da durchschnitt noch einmal ein Blitz den Himmel, dann schob sich der Mond hinter den Wolken hervor, und es hörte auf zu regnen. Gordon führte das Pferd aus dem Graben. Der heftige Regen hatte den schmalen Pfad in eine gefährlich rutschige Schlammbahn verwandelt. Mühsam kämpfte er sich gegen die starken Windböen vorwärts, die das Vorankommen zusätzlich erschwerten.

Nach einer Weile erreichten sie einen dichten Wald und fanden abseits des schmalen Pfades zwischen den Wurzeln einer mächtigen Ulme einen Platz zum Schlafen.

Das Moos zwischen den Wurzeln war weich und trocken, sie selbst bis auf die Haut durchnässt. Elysa kauerte sich auf das Moos und schlang die Arme um ihren Körper. Gordon sattelte sein Pferd ab, band ihm die Vorderbeine zusammen und gab ihm eine Handvoll Getreide. Er dachte an Prades, den entflohenen Routier, und überlegte, ob er es wagen konnte, ein Feuer zu machen. Dann fiel ihm ein, dass Prades mit Sicherheit davon ausging, dass er mit Elysa zum Heer zurückritt. Das Unwetter hatte all ihre Spuren verwischt, und hinzukam, dass der Wald so tief und dicht war, dass ein kleines Feuer, entzündet in einer Mulde, nicht weit zu sehen sein würde.

Er suchte einige trockene Äste zusammen und entfachte in einer Bodenvertiefung ein Feuer. »Ihr solltet die Wunde besser verbinden«, sagte Elysa und zeigte auf Gordons Bein. »Es ist nur ein Kratzer«, gab Gordon scheinbar gleichmütig zurück. Trotzdem war er vorsichtig. Was er jetzt überhaupt nicht gebrauchen konnte, war ein Wundbrand. Er kramte ein Stück Zunder samt einem frischen Leinenstreifen aus der Satteltasche, in der sich auch ein Feuerstahl und ein Stein befanden, wickelte den blutdurchtränkten Stofffetzen von seinem Oberschenkel und legte den Zunder auf die Wunde. Anschließend umwickelte er sie wieder mit dem frischen Leinenstreifen, den er fest verknotete.

Dann zog er den restlichen Käse und das Brot aus der zweiten Satteltasche neben sich, brach beides in zwei Teile und reichte Elysa ihren Anteil.

Sie kauten das harte Brot, aßen den Käse, starrten ins Feuer und lauschten den Geräuschen der Nacht. Elysa spürte, wie sie langsam zur Ruhe kam. Doch mit der Ruhe kam auch die Erschöpfung. Sie bemerkte, dass Gordon sie fragend ansah, als würde er eine Antwort von ihr erwarten. Zwar hatte er sein Leben für sie aufs Spiel gesetzt, um sie vor den Routiers zu retten, aber war er deshalb schon vertrauenswürdig? Sicher, der Graf von Toulouse hatte ihn geschickt, um sie zum Montségur zu geleiten. Gordon trug dessen Wappen auf seinem steifen, dichtgewebten Waffenrock. Der Graf von Toulouse nahm aber auch an dem Kreuzzug gegen die Katharer teil und war mit dabei gewesen, als Rhedae zerstört worden war. Ihr Misstrauen wuchs mit jedem Gedanken.

»Was wollt Ihr wirklich von mir?«, fragte sie ihn unvermittelt.

Gordon wirkte überrascht. »Das habe ich dir doch gesagt, mein Herr ist in Sorge um dich und möchte sich deiner annehmen.«

»Und warum möchte er das?« Sie strich sich einige Haarsträhnen zurück, die ihr ins Gesicht gefallen waren.

»Er war ein Freund deines Onkels«, erinnerte Gordon sie.

»Aber wie kann er ein Freund meines Onkels sein, wenn er an diesem schrecklichen Kreuzzug teilnimmt?« Elysa sah, wie Gordon leicht das Kinn vorschob und seine Augen schmaler wurden.

Er sah an ihr vorbei in den dunklen Wald. »Ich bin Ritter geworden, um zu kämpfen, aber ich bin nicht stolz darauf, an diesem Kreuzzug teilzunehmen«, erklärte er und hatte wieder die Bilder von Béziers vor Augen und den aufsteigenden Gestank der verwesenden Leichen in der Nase, der sich mit dem beißenden Rauch unzähliger schwelender Feuer mischte. Tod, Grauen und Angst waren mit Händen greifbar gewesen.

Sie sahen sich an und verspürten beide das gleiche Unbehagen.

»Wenn dieser Kreuzzug so schrecklich für Euch ist, warum habt Ihr dann an ihm teilgenommen?«, fragte sie ihn.

Ihre Direktheit verblüffte ihn. Forschend betrachtete er sie. Ihr Blick war offen und ohne Arg gleich dem eines Kindes, das noch nicht gelernt hatte, sich zu verstellen und seine wahren Absichten zu verbergen.

»Mein Herr hat an dem Kreuzzug teilgenommen, weil die Kirche ihm keine Wahl gelassen hat und er nur so das Schlimmste verhindern konnte«, erklärte er.

»Aber man hat immer eine Wahl«, gab Elysa zu bedenken.

Sie sagte es mit einer Unbedingtheit, als wäre es nichts Besonderes, die Entscheidung eines anderen in Frage zu stellen, auch dann nicht, wenn es die des Grafen von Toulouse war. Wie konnte sie es wagen, die Entscheidung seines Herrn in Zweifel zu ziehen, eine Entscheidung, die diesem, wie er wusste, nicht leichtgefallen war. Ärger stieg in ihm hoch. »Der Graf von Toulouse hat sich nun einmal so entschieden, und ich habe ihm den Treueid geschworen«, gab er heftig zurück und verstummte, als ihm klar wurde, dass er sich soeben vor einem Mädchen verteidigt hatte, das ihn mit dem gleichen Blick ansah, mit dem ihn seine Mutter immer bedachte, wenn er als kleiner Junge wieder einmal über die Stränge geschlagen hatte.

»Ich hatte jedenfalls keine andere Wahl«, fügte er beinahe triumphierend hinzu und war trotz seines Ärgers neugierig, was sie ihm darauf antworten würde.

Elysa runzelte die Stirn, als wäre sie unzufrieden mit seiner Antwort. »Ihr hättet eben nicht schwören dürfen«, erklärte sie ihm. »Wenn Ihr keinen Eid geleistet hättet, könntet Ihr auf Euer Herz und Euren Verstand hören und wüsstet auch, was richtig ist und was falsch.«

Ihre Antwort verschlug Gordon die Sprache. Fassungslos starrte er Elysa an.

»Wer glaubst du zu sein, dass du einem Mann vorschreiben willst, was er zu tun hat?«, fragte er und sah mit Erstaunen, wie ihre Sicherheit ins Wanken geriet. Ihre Wangen röteten sich vor Verlegenheit, und sie senkte den Blick, ohne ihm eine Antwort zu geben.

Mit einem Mal wirkte sie so verletzlich, dass er es nicht übers Herz brachte, weiter in sie zu dringen.

Wer war dieses Mädchen, das ungerührt an seine Ritterehre appellierte, um sie nur wenig später wieder in Frage zu stellen? Sie hatte ihn wütend gemacht und ihn dazu gebracht, sich schuldig zu fühlen, obwohl er nur seine Pflicht erfüllte. Und doch wünschte er sich nichts mehr, als sie für immer zu beschützen. War das die Liebe, von der die Troubadoure sangen? Schon wieder kreisten seine Gedanken um Elysa, obwohl sie direkt neben ihm saß und er nur die Hand auszustrecken brauchte, um sie zu berühren. Oder sie zu küssen. Rasch schob er den Gedanken beiseite. Was war nur los mit ihm? Er hatte einen Auftrag, und nichts und niemand würde ihn davon abhalten, diesen auszuführen. Trotzdem ging ihm dieses Mädchen unter die Haut. Sie reizte ihn, sie rührte ihn, und sie verblüffte ihn. Er musste wieder daran denken, wie sie sich an ihn geklammert hatte, als er angaloppiert war, wie sie später ihren Kopf an seine Schulter gelehnt und ihm damit das Gefühl gegeben hatte, ihm endlich zu vertrauen. Und wie sie ihn kurz darauf wieder zurückgewiesen hatte, als er sie während des Unwetters trösten wollte.

Eine Weile starrten sie schweigend in das fast heruntergebrannte Feuer.

»Ihr seid also fest entschlossen, mich zum Montségur zu bringen?«, fragte Elysa schließlich leise, fast beiläufig und mit einer so sanft klingenden Stimme, wie er es nie vermutet hätte.

»Das bin ich.« Er wartete auf ihren Widerspruch und streckte sich, als der nicht kam, neben dem Feuer aus. Sein Bein schmerzte, und eine bleierne Müdigkeit überfiel ihn. Aus den Augenwinkeln bemerkte er, dass Elysa es ihm gleichtat, aber sie rutschte ein Stück von ihm fort, als könne sie seine Nähe nicht länger ertragen, was ihn weit mehr verletzte als ihre zuvor geäußerten Worte.

Die Sonne schien warm auf sie herunter, und ein leichter Westwind blies ihnen den Duft würziger Gräser ins Gesicht. Nichts erinnerte mehr an das Unwetter vom Vortag. Gierig hatte der ausgetrocknete Boden den Regen aufgesaugt, und die Wege waren gut passierbar.

Sie waren in aller Früh aufgebrochen, aber mittlerweile hatte die Sonne ihren höchsten Punkt erreicht, und es war Zeit für eine Rast. Gordon hielt an einem schmalen Bach an, der sich durch das kalkhaltige Gestein unterhalb des Weges schlängelte. Er stieg ab und hob Elysa vom Pferd. Aber er ließ sie nicht los, seine Hände blieben auf ihren Hüften liegen.

Ihm direkt gegenüberzustehen und ihm in die Augen zu sehen war etwas anderes, als hinter ihm auf dem Pferd zu sitzen. Elysa wich seinem Blick jedoch nicht aus, obwohl er ihr die Röte in die Wangen trieb. Sie war ohne Vater und Brüder aufgewachsen und hatte gelernt, sich allein gegen die Jungen in ihrem Dorf zu behaupten. Und wegzuschauen, wenn jemand sie so ansah, wie Gordon es gerade tat, war wie aufgeben.

Er sah sie an wie ein hungriger Hund, der sie am liebsten mit Haut und Haaren verschlungen hätte. Rorico hatte sie einige Male so angesehen und auch die Martin-Brüder, aber sie hatten ihrem Blick nie lange standhalten können. Doch Gordon war nicht Rorico, wie ihr mit einem Mal bewusst wurde, auch lag in seinem Blick noch etwas anderes. Etwas wie ... eine Warnung? Er war ein Ritter, und er war stark, und etwas in ihrem Inneren riet ihr, ihn nicht zu sehr zu reizen. Er starrte sie immer noch unverwandt an, und sie fühlte sich plötzlich sonderbar befangen, ausgelöst durch den Druck seiner Hände, die sie noch immer festhielten.

»Ihr könnt mich jetzt loslassen, ich verspreche Euch auch nicht umzufallen«, sagte sie und schaffte es, sich seinem Griff zu entwinden.

»Immer zu Diensten«, gab Gordon mit einem Lächeln ihrem Wunsch nach, dann warf er seinem Pferd die Zügel über den Kopf, knotete sie zusammen, um zu verhindern, dass das Tier seine Hufe darin verfing, und ließ es auf der Wiese grasen.

Elysa hatte derweil ihren Durst gelöscht und sich kaltes Wasser ins Gesicht gespritzt. Sie hatte immer noch seinen Blick vor Augen, fühlte seine starken Hände auf ihrem Körper und spürte, obwohl er mit dem Rücken zu ihr stand, die Spannung, die zwischen ihnen bestand.

Sie hatten seit dem gestrigen Abend nur das Nötigste miteinander gesprochen. »Wenn ich Euch verärgert habe, tut es mir leid.« Sie sah ihn schuldbewusst an. Er war gekommen, um ihr beizustehen, es stand ihr nicht zu, über ihn zu urteilen, und doch hatte sie es getan. Gordon wandte sich zu ihr um. Sie strich sich mit einer anmutigen Bewegung einige Haarsträhnen zurück, die ihr der Wind ins Gesicht wehte. Er bemerkte, dass ihre Wimpern goldfarben waren und ihre sanft geschwungenen Brauen noch heller als ihr Haar. Ihre grünen Augen waren dunkler als sonst, ihr Mund leicht geöffnet, und ihre weißen Zähne leuchteten zwischen den Lippen. Er musste sich beherrschen, um sie nicht einfach an sich zu reißen.

»Ich habe noch nie ein Mädchen getroffen, das so mit mir redet, wie du es tust«, gestand er ihr und musste grinsen, als er ihren verblüfften Gesichtsausdruck bemerkte.

»Ich sage nur das, was ich denke, auch wenn es manchmal sicher besser wäre, den Mund zu halten.« Das hatten Anna und auch Sarah ihr jedenfalls mehr als einmal geraten. Sarah! Sie hatte Rhedae verlassen, ohne sich zu erkundigen, ob ihr etwas geschehen war, oder dem blinden Jean, der so glücklich über den jungen Hund gewesen war, den sie ihm einige Tage zuvor gebracht hatte. Er hatte vor Freude geweint, als sie ihm versicherte, dass auch die Seelen der Tiere zu den Sternen gelangen konnten.

Gordons Stimme holte sie in die Gegenwart zurück.

»Dann haben wir etwas gemeinsam. Leider gibt es nur sehr wenige Menschen, die das tun.«

»Vielleicht ist das bei den Katholiken so«, widersprach Elysa ihm. »Aber bei uns ist es üblich, die Wahrheit zu sagen.«

Sie sagte es ohne Überheblichkeit, so als wäre es etwas ganz Selbstverständliches.

Gordons Augen verengten sich.

»Wenn du so ehrlich bist, wie du behauptest, dann sag mir doch, warum Simon von Montfort und der Abt hinter dir her sind.«

Sie hielt seinem Blick stand, aber nur einen Augenblick, dann schlug sie die Augen nieder und presste die Lippen zusammen.

Die Enttäuschung schlug wie eine Welle über Gordon zusammen.

»Dann habe ich mich wohl geirrt, und du bist auch nicht anders als die anderen«, sagte er hart.

Elysa sah ihm direkt in die Augen. »Ich kann nicht darüber reden.«

Es klang so ehrlich, dass Gordons Ärger schwand. »Weil du es versprochen hast?«

Elysa nickte. Gordon verkniff sich die Frage, worin für sie der Unterschied zwischen einem Schwur und einem Versprechen bestünde. Sie hatte genug durchgemacht, und er wollte, dass sie ihm vertraute und ihn als Freund und nicht als Feind betrachtete. Er holte das Pferd von der Wiese und sattelte es. Danach ritten sie weiter. In endlosen Kehren wand sich der Weg den nächsten Hügel hinauf und wieder hinunter.

Elysa hing ihren Gedanken nach. Die schrecklichen Erlebnisse der letzten Tage hatten sie schmerzhaft mit einer Wirklichkeit konfrontiert, von deren Existenz sie bislang nichts geahnt hatte. Könige und Kriege waren weit fort gewesen, es hatte sie nur in den Erinnerungen und Geschichten der Alten gegeben. Ihr Onkel hatte die Welt, in der sie sich bis vor wenigen Tagen noch so geborgen gefühlt hatte, abgelehnt und sich der unsichtbaren, geistigen Welt zugewandt. Einer Welt, die so unwirklich und genauso wenig greifbar war wie Licht und Schatten oder die Winde, die ihr über das Gesicht strichen und die man nur erreichen konnte, indem man den siebenfachen Weg zu den Sternen ging. Aber dieser Weg war hart und steinig, und nur wenige schafften es, ihn bis zu Ende zu gehen.

Ob sie die Kraft aufbringen würde, Nicola zu folgen?

Die sanft schaukelnden Bewegungen des warmen Pferdekörpers lullten sie ein und machten sie träge, bis sie schließlich an gar nichts mehr dachte und einnickte.

Prades hatte während des Unwetters in einer Bodensenke Schutz gefunden und dort seinen Rausch ausgeschlafen. Als er wieder erwachte, war es bereits dunkel. Vorsichtig schlich er zum Lager zurück und fand es zu seiner Erleichterung verlassen vor. Er entzündete ein Feuer und stellte zu seiner großen Freude fest, dass der Ritter sogar die Pferde zurückgelassen und nicht einmal die Toten geplündert hatte, wie es allgemein üblich war. Lediglich deren Schwerter hatte er mitgenommen. Schnell schnitt Prades seinen toten Kameraden die prall gefüllten Beutel ab und packte sie in seine Satteltasche. Dann setzte er sich zufrieden ans Feuer und überlegte, was er jetzt tun sollte. Wenn es wirklich ein Lösegeld für das Mädchen gab, brauchte er es mit niemandem mehr zu teilen. Vielleicht war es aber auch besser, Montfort das Mädchen zu bringen, um diesem seine Loyalität zu beweisen. So, wie es aussah, würde der Feldherr eindeutig einer der Sieger dieses Kreuzzugs sein, es konnte daher nicht schaden, sich gut mit ihm zu stellen.

Aber das hatte noch Zeit. Zunächst musste er Gordon von Longchamp beseitigen und das Mädchen an sich bringen. Er war überzeugt davon, dass der Ritter gelogen hatte, als er behauptete, er hätte den Auftrag, das Mädchen zum Heer zurückzubringen. Jeder wusste, dass der Graf von Toulouse am Ende war, vom Papst entmachtet und exkommuniziert. Wenn dem Grafen daher irgendetwas an dem Mädchen lag, würde er es irgendwo anders hinschaffen lassen, nur nicht zurück zum Heer.

Als der Morgen heraufdämmerte, sattelte Prades sein Pferd und ritt nach Osten. Die Pferde seiner Kameraden ließ er zurück. Mit ein bisschen Glück würden sie noch da sein, wenn er mit dem Mädchen hierher zurückkehrte.

Der schmale Pfad führte durch einen Wald. Irgendwo in der Mitte des Waldstücks stieg ihm ein schwacher Feuergeruch in die Nase, und sein Instinkt sagte ihm, dass er den richtigen Weg eingeschlagen hatte.

Er folgte dem Geruch bis zu der kleinen Feuerstelle. Das Feuer glühte noch, und Prades zweifelte keinen Augenblick daran, dass Longchamp und das Mädchen hier übernachtet hatten. Die Hufspur eines Pferdes war deutlich im sandigen Boden zu erkennen. Sofort machte er sich an ihre Verfolgung.

Am Nachmittag tauchten in der Ferne vor Elysa und Gordon die Umrisse von Bélesta auf, einem kleinen Ort, der zum Herrschaftsbereich der Grafen von Foix gehörte.

»Ihr könnt mich hier absteigen lassen, den Weg ins Dorf schaffe ich auch alleine«, sagte Elysa. Gordon parierte den Hengst durch und wandte sich zu ihr um.

»Und was willst du hier? Hast du vor, in diesem Ort zu bleiben?«

»Nein«, gestand sie.

»Ich habe den Auftrag, dich zum Montségur zu bringen. Der Graf von Foix erwartet dich bereits.«

»Der Graf erwartet mich?« Sie klang überrascht.

»Er wird so lange auf dich achtgeben, bis mein Herr deinen Schutz übernehmen kann.«

Elysa erschrak. Gordon sah die Angst in ihren Augen. »Sag mir, wovor du dich fürchtest.«

»Ich frage mich, was diese hohen Herren tatsächlich von mir wollen, ich kenne sie nicht einmal.«

Gordon konnte sie verstehen, hatte er sich in den letzten beiden Tagen doch mehr als einmal das Gleiche gefragt.

»Dein Onkel muss sie mächtig beeindruckt haben, obwohl er ein Ketzer war.«

Kaum waren die Worte ausgesprochen, bereute er sie auch schon wieder, denn er hatte weder den toten Nicola noch Elysa beleidigen wollen.

Tatsächlich funkelte ihn Elysa nun wütend an. »Mein Onkel war kein Ketzer, er war ein Vollkommener und hat ohne Sünde gelebt.«

»Bitte sieh mich nicht so zornig an, es war nicht meine Absicht, deinen Onkel zu beleidigen«, erklärte Gordon und setzte eine zerknirschte Miene auf.

Doch Elysa ließ sich nicht beruhigen.

»Eure Mönche und Priester sind die eigentlichen Ketzer. Sie lesen die Heilige Schrift mit Absicht in Latein, damit niemand merkt, dass sie die Worte auslegen, wie es ihnen gerade passt. Und sie fressen, saufen und huren auf Kosten der Handwerker und Bauern, denen sie den Zehnten abpressen, anstatt selbst für ihren Lebensunterhalt zu arbeiten.«

Gordon war verblüfft über ihren Ausbruch. Er hatte nicht geahnt, dass sie so temperamentvoll sein konnte. Sie war wunderschön, wenn sie wütend war, aber ihre Worte beunruhigten ihn, drückte sich in ihnen doch die ganze Tragweite ihres fehlgeleiteten Glaubens aus.

Aber vielleicht wusste sie es einfach nicht besser? Rhedae war schließlich weit weg von den großen Städten des Landes, und sie konnte doch nicht ernsthaft die katholische Kirche in Frage stellen? Er dachte daran, dass sein Herr nur Gutes über die Guten Christen gesagt hatte und große Hochachtung vor ihnen zu haben schien. Und wunderte er, Gordon, sich nicht selbst darüber, warum dem Grafen Nicolas Nichte so wichtig war?

Seine Neugier war geweckt.

»Ich habe mir über solche Dinge bisher keine Gedanken gemacht und war immer der Meinung, dass es keine Probleme zwischen Katholiken und den Guten Christen gibt, sondern sie friedlich miteinander leben, auch wenn ihr Glaube von dem unseren abweicht«, sagte er nachdenklich.

Es war schon merkwürdig. Die Guten Christen waren da, seitdem er denken konnte, und die Kirche hatte ihnen bislang nur wenig Beachtung geschenkt. Es hatte zwar immer wieder Dispute zwischen den geistlichen Führern beider Seiten gegeben und auch einige Konzile, an denen der Graf von Toulouse teilgenommen hatte. Doch danach war wieder alles gewesen wie zuvor, ohne dass sich etwas geändert hätte. Irgendetwas musste geschehen sein, das die Kirche dazu gebracht hatte, die vollständige Vernichtung der Ketzer, wie sie die Guten Christen nannte, zu beschließen.

Elysa sah ihn mit einem merkwürdigen Blick an.

»Würdet Ihr den Strick anbeten, an dem Euer Vater aufgehängt wurde? Warum also verehrt Ihr dann das Kreuz, das doch nicht mehr ist als ein Schandmal?« Ihre Stimme hatte den belehrenden Ton eines Schulmeisters angenommen, der seinen Schüler ermahnte.

Sie schaffte es immer wieder, ihn zu überraschen.

Er unterdrückte ein Lachen, um nicht erneut ihren Zorn zu erregen.

Aus einem plötzlichen Entschluss heraus trieb er seinen Braunen so plötzlich zum Galopp an, dass Elysa sich an ihm festklammern musste, um nicht rücklings vom Pferd zu stürzen.

Bäume und Sträucher zogen an ihnen vorbei. Sie hielt ihn fest umschlungen, und ihre Körper bewegten sich im gleichen Rhythmus. Die verschiedensten Gefühle tobten wie Wirbelstürme in seinem Inneren. Und auf einmal war er sich sicher, dass Elysa sein Schicksal werden würde.

Es dauerte nicht lange, bis sie die Mühle erreichten. Neugierige Blicke folgten ihnen, als sie weiter ins Dorf ritten.

Auf einen Felsvorsprung gebaut, überragte das Dorf einen kleinen Talkessel, dessen Berghänge überwiegend mit blühenden Weinreben bepflanzt waren.

Darüber lagen die Hänge des Tabourc, das Reich der Schafe und der Bienen. Der Ort war durch eine vieleckige Mauer befestigt. Durch ein Bogentor, dessen Gewölbesteine aus hellem Sandstein bestanden, erreichten sie den Ortskern, in dem sich die Kirche Saint-Michel befand.

Einige Bauersfrauen hatten ihr Gemüse auf dem Marktplatz vor der Kirche ausgebreitet, um es zum Verkauf anzubieten. Während der Mittagszeit war es ruhig, nur wenige Menschen kamen zu dieser Stunde auf den Markt.

Am hinteren Ende des Dorfplatzes befanden sich einige weit ausladende Ulmen, in deren Schatten die Greise auf Bänken saßen und Wein tranken.

Vor der Kirche parierte Gordon sein Pferd durch. Er stieg ab und streckte die Arme aus, um Elysa vom Pferd zu heben, doch sie nahm seine Hilfe nicht an, sondern schwang ihr rechtes Bein über den Rücken des Hengstes zum linken und ließ sich aus dem Sattel gleiten. Sie war immer noch wütend wegen des Schrecks, den Gordon ihr mit dem wilden Ritt versetzt hatte. Es hätte nicht viel gefehlt, und sie wäre vom Pferd gestürzt.

»Ich dachte, Ihr hättet den Auftrag, mich zu beschützen? Stattdessen habt Ihr mich fast umgebracht.« Sie blitzte ihn zornig an.

»Hat dir eigentlich niemand beigebracht, dass es gefährlich sein kann, einen Mann ständig zu reizen und ihm zu erklären, was er zu tun hat und was nicht?«

»Ich habe Euch nicht darum gebeten, mich zu begleiten.«

»Das hatten wir schon«, winkte Gordon ab. »Es tut mir leid, wenn ich dich erschreckt habe, aber so reagiere ich nun einmal, wenn man mich zu sehr reizt.«

Sie verzichtete darauf, ihm eine Antwort zu geben, und wandte sich mit hoch erhobenem Kopf von ihm ab. Gordon sah ihr nach, wie sie zielstrebig auf die Kirche zulief.

»Ich werde hier auf dich warten!«, rief er ihr nach, und sie zweifelte nicht einen Augenblick daran, dass er Wort halten würde. Ihr Herz klopfte immer noch wild, als sie vor dem hohen, dunklen Portal stand. Sie umfasste den eisernen Riegel und zog es auf. Feuchte Kühle umfing sie, und der Geruch nach Weihrauch und Wachskerzen stieg ihr in die Nase. Es war das erste Mal, dass sie eine Kirche betrat. Das Gebäude bestand aus einem einzigen Kirchenschiff mit einem Steingewölbe und zwei Nischen, die nach Norden und Süden gingen. Die feierliche Atmosphäre, die im Inneren des Gotteshauses herrschte, erinnerte sie an den Saal in der Höhle von Ornolac, die sie so oft mit ihrem Onkel besucht hatte. In der halbkreisförmigen Apsis mit Rundgewölbe standen zwei Altäre. Einer war dem heiligen Sebastian gewidmet, der andere der heiligen Jungfrau.

Hinter ihr betrat eine Gruppe Pilger die Kirche und strebte auf den Altar zu. Sie trugen die Pilgermuschel an ihren Hüten, befanden sich folglich bereits auf dem Rückweg ihrer beschwerlichen Reise. Elysa achtete nicht weiter auf die Pilger und bemerkte deshalb auch nicht den Mann, der sich mit gesenktem Haupt zu der Gruppe gesellt hatte, als würde er dazugehören.

Prades atmete erleichtert aus und wischte sich mit dem Ärmel den Schweiß von der Stirn, wobei er weiterhin den Kopf gesenkt hielt. Die Pilger waren ihm gerade recht gekommen. Ohne sie wäre es ihm wohl kaum gelungen, sich unbemerkt an Longchamp vorbeizuschleichen.

Der Priester war nirgends zu sehen. Elysa wollte die Kirche gerade wieder verlassen, als sie seitlich von sich eine Bewegung an der Wand bemerkte. Dort musste ein Durchgang oder eine Kammer sein, vor deren Eingang eine lange, schwere Stoffbahn hing, die nun zur Seite geschoben wurde. Eine alte Frau trat hinter ihr hervor.

Der Priester folgte ihr nur wenig später. Er war schon alt und sein Gang schlurfend, nur die Augen in seinem faltigen Gesicht wirkten überraschend jung.

Elysa trat auf ihn zu. »Ich suche den Schäfer Amiel. Könnt Ihr mir sagen, wo ich ihn finden kann?« Gespannt wartete sie auf seine Antwort.

Der Priester vergewisserte sich mit einem raschen Blick, dass sich niemand in ihrer unmittelbaren Nähe aufhielt, der sie belauschen konnte.

»Wer bist du, dass du nach ihm fragst?«, seine rot geränderten Augen bohrten sich in ihre.

»Ich bin Elysa, die Nichte des Webers Nicola.«

Der Priester schien mit ihrer Antwort zufrieden, denn seine Gesichtszüge entspannten sich.

»Du findest Amiel über dem Dorf in den Hängen des Tabourc, gegenüber von unserem Dorf, wo er seine Schafe weidet«, sagte er leise.

»Ich danke Euch.« Sie zögerte einen Moment.

Niemand durfte erfahren, wohin sie ging, auch Gordon nicht.

»Gibt es noch einen anderen Ausgang aus der Kirche?«

Der Priester nickte. »Ich zeige ihn dir.«

Er ging ihr voraus, schob den schweren Stoff vor dem Eingang zur Sakristei zur Seite und ließ Elysa in den kleinen Raum treten. Von dort aus führte eine schmale Tür zu dem direkt hinter der Kirche liegenden Pfarrhaus.

»Wenn du hier durch- und danach am Pfarrhaus entlanggehst, kommst du an ein kleines Tor, das aus dem Dorf führt. Es ist tagsüber unverschlossen. Von dort führt ein Pfad durch das Tal hinauf zu den Weiden. Wenn du ihm folgst, wirst du Amiel finden.«

Er sah ihr nach, wie sie leichtfüßig in die angegebene Richtung lief. Das Tor war erst auf den zweiten Blick zu erkennen, so schmal war es in die Mauer eingelassen. Niemand bemerkte Elysa, als sie durch das Tor schlüpfte und das Dorf verließ.

Gordon würde nach ihr suchen, wenn sie zu lange fortbliebe, und enttäuscht sein, wenn er feststellte, dass sie weg war. Der Gedanke gefiel ihr nicht. Er hatte sie aus den Händen der Routiers befreit und dabei sein Leben aufs Spiel gesetzt, und nun lief sie ohne ein Wort des Abschieds davon.

Prades, der Elysa die ganze Zeit über beobachtete, sah, wie sie mit dem Priester in die Sakristei ging. Was zum Teufel hatte die Kleine vor? Wollte sie sich etwa aus dem Staub machen? Er warf einen raschen Blick zum Kirchenportal. Longchamp konnte jeden Moment in der Kirche auftauchen. Er löste sich aus der Gruppe der Pilger, schlich hinter den beiden her und warf einen vorsichtigen Blick in die Sakristei. Nachdem er festgestellt hatte, dass sich niemand in dem kleinen Raum befand, ging er zielstrebig zu dessen Hintertür. Vorsichtig öffnete er sie und sah gerade noch, wie der Priester im Pfarrhaus verschwand, während das Mädchen durch ein kleines Tor in der Mauer schlüpfte.

Elysa folgte dem schmalen Pfad, der über Wiesen hinweg quer durch das Tal führte und sich auf der anderen Seite wieder nach oben wand. Der Aufstieg war anstrengend, trotzdem lief sie, ohne eine Pause einzulegen, bis sie die ersten Schafe entdeckte.

Amiel saß im Schatten eines überstehenden Felsens und schien tief in Gedanken versunken zu sein. Erst als Elysa näher trat, hob er seinen Blick und sah ihr entgegen.

Der nach innen gekehrte Ausdruck in seinem hageren Gesicht erinnerte Elysa an ihren Onkel, obwohl der Schäfer um einiges älter war als Nicola. Er trug das Gewand eines Vollkommenen und hatte sich trotz der Hitze noch den weiten Schäferumhang umgelegt.

Freundlich bedeutete er ihr, sich zu ihm zu setzen.

Nach einem Blick in ihr erhitztes Gesicht bot er ihr seine Wasserflasche an und sah zu, wie sie durstig daraus trank.

»Dein Onkel hat diese Welt verlassen.« Es war eher eine Feststellung als eine Frage.

Als Elysa traurig nickte, beugte er sich vor, legte ihr seine Hände auf den Kopf und hielt ihren Blick fest. Die Umgebung um sie herum verblasste, bis sie schließlich ganz verschwand. Ihre Gedanken wurden leichter, und sie fühlte sich warm und geborgen. Für einen Moment glaubte sie, Nicola neben sich zu spüren.

Ihre Sorgen lösten sich in Bedeutungslosigkeit auf, und sie verlor jedes Zeitgefühl. Sie saß einfach nur da, fühlte den Wind sanft durch ihr Haar streichen, hörte die Bienen summen und vergaß beinahe, warum sie hergekommen war.

Prades war Elysa vorsichtig in gebückter Haltung durch die Wiesen gefolgt und hielt genügend Abstand, um nicht von ihr entdeckt zu werden. Als er vor sich Stimmen vernahm, verbarg er sich sofort hinter einem der hüfthohen Findlinge und spähte vorsichtig dahinter hervor.

Der Schafhirte, der mit der Kleinen sprach, zählte mindestens fünfzig Jahre und stellte keine Gefahr für ihn dar. Er war weder kräftig noch bewaffnet und trug abgesehen von seinem Hirtenstab nur noch sein Messer am Gürtel. In einem Kampf würde er keine Chance gegen ihn haben.

Prades überlegte kurz, ob er den Mann nicht besser sofort erschlagen und sich das Mädchen einfach greifen sollte, entschied sich dann aber dagegen.

Der Schäfer hatte ihm nichts getan, außerdem war er neugierig darauf zu erfahren, was das Mädchen von ihm wollte. Ob die beiden miteinander verwandt waren?

Sie schienen sich zu kennen, jedenfalls gingen sie vertraut miteinander um. Seitdem der alte Mann der Kleinen die Hände auf den Kopf gelegt hatte, saßen sie nun schon eine Weile schweigend nebeneinander, als hätten sie alle Zeit der Welt.

Geduld war nicht gerade eine von Prades’ Stärken, trotzdem beschloss er, noch eine Weile zu warten. Glück und Unglück lagen dicht beieinander, und so viel Glück wie an diesem Tag hatte er schon lange nicht mehr gehabt. Und wie gefährlich es werden konnte, eine Situation falsch einzuschätzen, hatte er erst vor wenigen Tagen erfahren und dabei seine Kameraden verloren.

Er beschloss daher, kein unnötiges Risiko einzugehen. Sein Angriff musste überraschend kommen, damit sie keine Möglichkeit hatte zu schreien und der Schäfer ihr nicht zu Hilfe eilen konnte. Auch musste er sicher sein, dass der junge Longchamp nicht noch hier auftauchen würde. Denn entweder hatte er schon längst bemerkt, dass Elysa sich nicht mehr in der Kirche aufhielt, und suchte sie, oder aber er wusste von ihrer Verabredung mit dem Schäfer und wartete im Dorf auf ihre Rückkehr. Was natürlich die bessere Variante für ihn, Prades, wäre.

Doch es geschah weiterhin nichts. Das Mädchen saß nach wie vor neben dem Schäfer und schien vor sich hin zu träumen. Und von Longchamp war weit und breit nichts zu sehen. Prades war kurz davor, die Geduld zu verlieren, als der alte Mann sich plötzlich erhob.

»Du hast etwas für mich, willst du es mir nicht geben?«, sagte Amiel zu Elysa, die sich bei diesen Worten fühlte, als würde sie aus einem Traum erwachen. Sie zog die Kette mit dem Kreuz unter ihrem Kleid hervor, nahm das Kreuz ab und reichte es ihm.

Gebannt beobachtete Prades, wie Elysa dem Schäfer das handtellergroße Kreuz reichte, in dem sich die Sonnenstrahlen fingen und es golden aufschimmern ließen. Amiel betrachtete das Kreuz prüfend und nickte zufrieden. Dann gab er Elysa den Friedenskuss. »Du musst jetzt gehen und sprich mit niemandem über unsere Begegnung.«

Prades grinste. Marty, sein ehemaliger Anführer, hatte also wieder einmal recht gehabt. Schade, dass er es nicht mehr erfahren würde. Immer schon hatte er ein untrügliches Gespür dafür gehabt, wo es etwas zu holen gab. Doch jetzt war er tot. Seine Gier hatte ihn unvorsichtig werden lassen.

Das Mädchen verabschiedete sich von dem Schäfer und begab sich ohne große Eile auf den Rückweg. Es würde ihm nicht entkommen. Er wartete, bis es außer Hörweite war, dann trat er mit der Hand am Schwertgriff aus seinem Versteck hervor.

Amiel fuhr erschrocken zusammen, als Prades plötzlich vor ihm auftauchte. Rasch verbarg er das Kreuz unter seinem Umhang und erkannte im gleichen Moment, dass es zu spät war.

Die unverhohlene Gier in den schwarzen Augen des wild aussehenden Söldners und der grausame Zug um seinen Mund machten jede Hoffnung, das Kreuz zu retten, zunichte. Dieser Mann kannte keine Gnade. Wahrscheinlich hatte er ihn und Elysa schon die ganze Zeit über beobachtet. Im nächsten Augenblick wurde seine Befürchtung bestätigt.

»Gib mir das Kreuz, und ich lasse dich leben.« Prades zog sein Schwert und kam drohend näher.

Amiel zögerte. Mit einem verzweifelten Satz versuchte er zu fliehen, doch Prades hatte ihn mit zwei Sprüngen eingeholt und stieß ihm brutal das Schwert in die Rippen. Amiel ging sofort zu Boden, doch während er fiel und Schwärze ihn umfing, klammerte er sich noch an den Gedanken, dass niemand außer den Eingeweihten in der Lage sein würde, die Inschrift auf dem Kreuz zu entziffern und diesem sein Geheimnis zu entreißen.

Prades beugte sich zu ihm hinunter und riss ihm das Kreuz aus der Hand. Triumphierend betrachtete er das Schmuckstück, bevor er es in seinem Beutel verschwinden ließ. Über die merkwürdigen Zeichen auf dem Kreuz würde er sich Gedanken machen, sobald er das Mädchen in seine Gewalt gebracht hätte.

Es war leicht gewesen, der Kleinen zu folgen, denn sie hatte nach der Übergabe des Kreuzes an den Schäfer zu seiner großen Freude den Weg zur Mühle eingeschlagen, anstatt ins Dorf zurückzukehren, wie er es zunächst befürchtet hatte.

Nun wartete er, bis sie ein gutes Stück von der Mühle entfernt war, in deren Nähe er sein Pferd an einem Bächlein zurückgelassen hatte, band das Tier los und jagte Elysa hinterher. Heute war wirklich sein Glückstag. Er brauchte mit dem jungen Ritter nicht einmal mehr einen Kampf auszufechten, um das Mädchen in seine Gewalt zu bringen. Es fiel ihm einfach in den Schoß wie ein reifer Apfel.

Das Trommeln der Hufe riss Elysa aus ihren Gedanken. Instinktiv begann sie zu rennen, bis sie einsah, dass es sinnlos war.

Das Herz klopfte ihr bis zum Hals, als sie stehen blieb und sich langsam in der Erwartung, Gordon zu sehen, umwandte. Ob er wohl sehr wütend auf sie sein würde?

Doch es waren nicht Gordons Augen, die sie siegessicher anfunkelten. Prades weidete sich an ihrem Entsetzen und genoss ihre Angst, die ihm ein Gefühl der Überlegenheit gab und ein angenehmes Kribbeln in seinem Unterleib auslöste.

Er sprang neben Elysa vom Pferd und packte sie brutal an den Haaren. Dann bog er ihren Kopf langsam nach hinten, wobei er seinen Griff verstärkte. Ihr schlanker Hals war wunderschön. Er beugte sich vor, leckte über ihre weiche Haut und biss dann zu, bis sie aufschrie.

Ihre Verwundbarkeit erregte ihn, und es kostete ihn große Mühe, sich zu beherrschen. Aber Montfort hatte ihnen ausdrücklich befohlen, sich nicht an dem Mädchen zu vergreifen, und Prades wollte sich die Gelegenheit nicht entgehen lassen, dem Heerführer zu beweisen, dass er zuverlässig und vertrauenswürdig war.

Brutal schleifte er Elysa zu seinem Pferd und hob sie in den Sattel, bevor er hinter ihr Platz nahm. »Wenn du versuchst zu fliehen, bringe ich dich um«, drohte er, und Elysa zweifelte keinen Moment daran, dass er es ernst meinte.

Prades trieb sein Pferd zur Eile an. Solange er nicht wusste, wo sich dieser verfluchte Ritter befand und ob er ihn verfolgte, musste er versuchen, so schnell wie möglich von hier fortzukommen.

Gordon hatte sich zunächst zu den Männern unter den Ulmen gesellt. Er war erschöpft und genoss die Pause. Eine Weile döste er vor sich hin. Doch nachdem die Sonne ihren höchsten Punkt erreicht hatte, belebte sich der Dorfplatz zunehmend. Frauen liefen mit ihren Körben an ihm vorbei, und aus den Werkstätten im Unterdorf drang das Hämmern der Schmiede und Pfannenschläger zu ihnen herauf.

Eine Gruppe herumtobender Jungen hatte ihn entdeckt. Bewundernd starrten sie ihn an und tuschelten leise miteinander. Sobald sie groß waren, wollten sie ebenfalls Ritter werden und erhobenen Hauptes mit Rüstung und Schwert durchs Land reiten, um Ruhm und Ehre zu erwerben.

Als Gordon aufstand, wichen sie ängstlich zurück.

Elysa war noch nicht zurückgekehrt! Von einer merkwürdigen Unruhe getrieben, humpelte er zur Kirche hinüber. Dort beteten einige Frauen vor der heiligen Jungfrau, ansonsten war niemand zu sehen.

Er ging durch die ganze Kirche, konnte Elysa aber nirgendwo entdecken und auch nicht den Priester, zu dem sie gewollt hatte. Irgendetwas stimmte hier ganz und gar nicht.

Die Sorge um Elysa ließ ihn den Schmerz in seinem Oberschenkel vergessen. Mit weit ausholenden Schritten lief er auf die Sakristei zu, fand aber niemanden in ihr vor. Elysa musste die Kirche schon verlassen haben, aber wo war sie danach hingegangen?

Er schluckte die aufsteigende Enttäuschung hinunter und klammerte sich an die Hoffnung, dass der Priester ihm weiterhelfen könnte.

Das Pfarrhaus befand sich hinter der Kirche. Auf sein ungeduldiges Klopfen hin öffnete ihm eine rundliche Frau mittleren Alters, die ihn verärgert musterte, die Tür.

»Ich muss sofort den Priester sprechen, es ist dringend«, sagte Gordon.

»Hochwürden widmet sich seinen Gebeten und darf nicht gestört werden«, erwiderte die Frau.

»Du wirst ihn sofort holen«, befahl Gordon und machte Anstalten, sie zur Seite zu schieben. Als die Frau einsah, dass ihr nichts anderes übrig blieb, als nachzugeben, verschwand sie im hinteren Teil des Hauses und kehrte wenig später mit dem Priester zurück, der ihn aus verschlafenen Augen ansah.

»Was kann ich für dich tun, mein Sohn?«, fragte er müde.

»Elysa ist verschwunden, nachdem sie in Eurer Kirche war. Ich möchte wissen, wo sie jetzt ist«, erwiderte Gordon scharf.

»Sprichst du von der Nichte des Webers Nicola?«

Gordon nickte.

»Sie hat mich nach dem Hinterausgang gefragt, und ich habe ihn ihr gezeigt, mehr weiß ich nicht.«

»Hat sie dir nicht gesagt, wohin sie wollte?« Er beobachtete jede Regung im faltigen Gesicht des Priesters, der seinem Blick auswich.

»Sie hat mir nichts gesagt, und ich habe sie auch nicht gefragt. Sicher hatte sie ihre Gründe.«

Gordon wusste, dass er log.

»Elysa ist in Gefahr, und ich habe den Auftrag, sie zu beschützen.« Sein Tonfall war schärfer geworden.

Das Gesicht des Priesters verzog sich in gespieltem Bedauern.

Er war zu alt, um sich in Amiels Geschichten hineinziehen zu lassen. Je weniger er über dessen Angelegenheiten wusste, umso beruhigter konnte er des Nachts schlafen.

»Ich kann dir nicht helfen, mein Sohn, Gott segne dich.«

Damit wandte er sich eilig ab und verschwand wieder im Inneren des Hauses.

Wütend ging Gordon zurück zu seinem Pferd. Der Mann konnte von Glück sprechen, dass er Priester war, sonst hätte er ihn nicht so einfach davonkommen lassen.

Und Elysa? Die schien keinen Wert auf seinen Schutz zu legen, warum sonst war sie vor ihm geflohen? Es war ein Fehler gewesen, sie allein in die Kirche gehen zu lassen. Er hätte besser daran getan, sie notfalls auch gegen ihren Willen auf die Burg zu schaffen, doch dafür war es nun zu spät.

Sie hat etwa eine Stunde Vorsprung, vielleicht zwei, überlegte er, während er auf sein Pferd stieg, und den könnte ich mühelos aufholen, wenn ich nur wüsste, wohin sie gegangen ist.

Er ritt den Weg zurück, den sie gekommen waren, doch Elysa war und blieb verschwunden. An der Mühle hielt er sein Pferd an. Sie konnte überall sein, konnte sich in einer der unzähligen Felshöhlen versteckt haben, die es hier überall gab, oder im Dorf Unterschlupf gesucht haben. Der Priester hatte von sich aus zugegeben, ihr den Hinterausgang gezeigt zu haben, wahrscheinlich, weil er genau wusste, dass Elysa längst in Sicherheit war. Sie schien also Freunde hier im Ort zu haben, außerdem hatte sie die ganze Zeit über keinen Hehl daraus gemacht, dass sie seine Hilfe nicht wollte.

Trotzdem spürte er es. Dieses ungute Gefühl, das ihn immer dann befiel, wenn Unheil drohte. Irgendetwas stimmte nicht. Er hatte diese Art schlechter Vorahnung schon von Anfang an gehabt, seitdem ihm der Graf von Toulouse den Auftrag erteilt hatte, nach Elysa zu suchen. Doch er hatte das Gefühl nicht weiter beachtet. Und auch Elysa hatte gewusst, dass sie in Gefahr war. Er hatte die Angst in ihren Augen gesehen, nachdem er ihr berichtet hatte, dass sie auf der Burg des Grafen von Foix erwartet wurde. Langsam hatte er genug von dieser ganzen Geheimniskrämerei. Er musste herausfinden, warum Elysa für die Oberen des Landes so wichtig war, und es gab nur einen einzigen Menschen, der ihm Klarheit darüber verschaffen konnte.

Er wendete sein Pferd und ritt zum Montségur. Die Sonne war längst untergegangen, und es wurde rasch dunkler. Der schmale Pfad wurde nur vom schwachen Mondlicht erhellt, weshalb Gordon so dicht wie möglich an den Felsen entlangritt. Die Tore der Burg waren längst geschlossen, als er das Plateau erreichte. Auf sein Klopfen hin meldete sich eine mürrische Stimme. »Wer seid Ihr, und was wollt Ihr?«

»Ich bin Gordon von Longchamp und habe eine dringende Nachricht für den Grafen von Foix«, erwiderte Gordon wie schon beim letzten Mal. Der Wachmann öffnete das Tor und ließ ihn ein, nachdem er ihn prüfend gemustert und wiedererkannt hatte.

»Wartet hier«, sagte er und verschwand.

Gordon blieb nichts anderes übrig, als zu warten. Es dauerte eine Weile, bis der Wachmann zurückkehrte.

»Ich soll Euch ausrichten, dass der Graf sich in der Kapelle befindet.« Er wies mit dem Finger auf ein schmales Gebäude neben dem Palas, dessen hoher Turm bedrohlich in den sternenlosen Nachthimmel ragte.

Gordon ritt auf die Kapelle zu, stieg vom Pferd und band die Zügel an einem in der Nähe wachsenden Busch fest.

Er fragte sich, was der Graf von Foix zu dieser späten Stunde in der Kapelle zu suchen hatte, aber es würde nicht mehr lange dauern, bis er es erfuhr. Als er das Portal öffnete, schlug ihm kühle Dunkelheit entgegen. Lediglich auf dem steinernen Altar brannten ein paar Kerzen, in deren spärlichem Licht Gordon auffiel, dass über dem Altar kein Kreuz hing.

Suchend sah er sich in dem hohen, kahlen Raum um, konnte aber niemanden entdecken. Er wollte sich gerade abwenden, als sein Blick von einem senkrechten Lichtstrahl angezogen wurde, der direkt aus der Wand zu dringen schien. Beim Näherkommen entdeckte er eine niedrige Türe, die einen Spalt breit geöffnet war und hinter der gedämpfte Stimmen zu hören waren.

Er wollte die Türe gerade aufziehen, als er Elysas Namen hörte.

Lauschend blieb er stehen. »Amiel hat uns mit seinen letzten Atemzügen berichtet, dass er überfallen worden ist, nachdem Elysa bei ihm war. Der Kerl, ein wild aussehender Söldner, hat ihm das Kreuz abgenommen, das Elysa ihm zuvor gegeben hat. Er konnte uns nicht sagen, wohin sie gegangen ist oder ob ihr etwas geschehen ist. Wir müssen sie finden, bevor uns jemand zuvorkommt.« Er erkannte die Stimme sofort. Sie gehörte dem Grafen von Foix.

»Wir haben die ganze Gegend nach ihr abgesucht, sie aber nirgendwo gefunden«, erwiderte daraufhin eine Stimme, die Gordon nicht kannte.

»Niemand überfällt einfach so einen Schäfer. Dieser Söldner muss etwas gewusst haben. Ob der Abt von Cîteaux etwas mit dem Überfall auf ihn zu tun hat?«

»Wer sonst außer ihm käme in Frage?«

»Ihr habt recht, obwohl nicht auszuschließen ist, dass es noch mehr Leute gibt, die hinter unserem Vermächtnis her sind. Diese Elysa ist unsere einzige Chance, um in Erfahrung zu bringen, wo Nicola es verborgen hat. Wir müssen sie finden.«

Es war nicht nur die kalte Entschlossenheit in des Grafen Stimme, die Gordon frösteln ließ, sondern auch der ungeheuerliche Inhalt seiner Worte. Hätte er es nicht mit seinen eigenen Ohren gehört, hätte er es nicht geglaubt.

Es ging um nichts weniger als um das Vermächtnis der Katharer – was auch immer das sein mochte –, und Elysa war der Schlüssel dazu. Deshalb war sie für all diese Herren so wichtig, und deshalb war sie auch von den Routiers verfolgt worden.

Mit einem Ruck riss er die Türe auf. Die beiden Männer fuhren herum. Sie standen neben einer schweren Holztruhe, die mit Pergamentrollen gefüllt war. Das Licht, das Gordon zuvor durch den Türspalt hatte fallen sehen, kam von mehreren Fackeln, die in eisernen Wandhalterungen steckten.

Der Graf von Foix nickte Gordon zu. »Wir haben Euch schon erwartet«, sagte er. »Gordon von Longchamp, Guilhabert von Castres«, stellte er die beiden Männer einander vor. Die beiden Männer musterten sich kurz. Guilhabert von Castres war ein hünenhafter, sehniger Mann in leichter Rüstung. Sein Blick verweilte einen Moment auf dem eingestickten Wappen in Gordons Waffenrock, bevor ihre Augen sich trafen. Sein Blick war merkwürdig starr. Wie eine Raubkatze vor dem Sprung, dachte Gordon, der sich nicht sicher war, ob die unsichtbare Bedrohung, die von diesem Mann ausging, etwas mit seiner riesigen Körpergröße oder den kalten, schwarzen Augen zu tun hatte.

Der Graf von Foix riss ihn aus seinen Gedanken.

»Ihr habt unser Gespräch mit angehört?«

Gordon nickte grimmig.

»Dann wisst Ihr ja nun, worum es geht und warum es so wichtig ist, Elysa zu finden.«

»Und wenn sie nicht gefunden werden will?«, fragte Gordon schärfer, als er es beabsichtigt hatte.

»Was meint Ihr damit?« Der Graf von Foix sah überrascht aus. Eine steile Falte bildete sich auf seiner Stirn.

»Elysa hat sich aus dem Staub gemacht, nachdem ich ihr berichtet habe, dass Ihr sie auf der Burg erwartet. Sie will anscheinend weder mit Euch noch mit Eurem Vermächtnis etwas zu tun haben.«

»Nun, wir wissen leider nicht, inwieweit Nicola Elysa eingeweiht hat«, erwiderte Ramon-Roger von Foix nachdenklich. »Ihm blieb nur wenig Zeit, seine Angelegenheiten zu regeln, und er wollte Elysa ganz sicher nicht in Gefahr bringen.«

»Was ihm nicht gelungen ist«, stellte Gordon fest.

Das Gesicht des Grafen blieb vollkommen ruhig.

»Aber ich glaube, dass Elysa sehr genau weiß, worum es geht«, fuhr er fort, ohne auf Gordons Bemerkung einzugehen.

»Sie hat keine Ahnung, warum sie so viel Aufmerksamkeit auf sich gezogen hat«, behauptete Gordon, war sich dessen auf einmal aber gar nicht mehr so sicher.

»Ihr wisst also nicht, wer sie wirklich ist?«

Gordon sog scharf die Luft ein. Er hatte die ganze Zeit das Gefühl gehabt, dass etwas nicht stimmte oder zumindest anders war, als es schien, und er hatte sich nicht getäuscht.

»Sie ist demnach nicht Nicolas Nichte?«

»Sie ist die uneheliche Tochter des Grafen von Toulouse. Hat Euch Euer Herr das nicht gesagt?«

Gordon war einen Moment lang sprachlos. Das wird ja immer besser, dachte er grimmig und war darauf gespannt, was als Nächstes käme.

Der Graf von Foix tauschte einen kurzen Blick mit Guilhabert von Castres.

»Bevor seine Seele seinen Körper verlassen hat, konnte Amiel uns noch berichten, dass Elysa bei ihm war und dass der Kerl, der ihn überfallen hat, vermutlich ein Söldner war. Er hatte es auf das Kreuz abgesehen, das Elysa ihm in Nicolas Auftrag übergeben hatte.«

Gordon dachte an den geflohenen Routier. War es möglich, dass Prades ihnen die ganze Zeit gefolgt war, ohne dass er es bemerkt hatte?

Er berichtete Ramon-Roger und Guilhabert von Castres von seinem Kampf mit Montforts Männern und auch davon, dass Prades ihm entkommen war.

»Dann hat Montfort sein Ziel erreicht. Und er wird alles tun, um Elysa zum Sprechen zu bringen.«

Gordon nickte und fühlte sich immer unbehaglicher.

»Und er hat das Kreuz.« Der Graf von Foix schnaubte grimmig. »Niemand außer den Eingeweihten kann seine wahre Bedeutung erfassen, trotzdem müssen wir es zurückbekommen.«

Er sah Gordon auffordernd an, doch der schüttelte den Kopf. »Ich habe damit nichts zu tun«, wehrte er ab.

»Seid Ihr Euch da wirklich sicher?«, fragte der Graf von Foix und zog zweifelnd seine hellen Augenbrauen nach oben.

»So sicher, wie ich es mir nur sein kann. Mein Auftrag lautet, Elysa zu beschützen. Alles andere geht mich nichts an.«

»Verzeiht, aber ich sehe das anders. Mir scheint, dass Ihr schon längst tief in diese Angelegenheit verstrickt seid. Ihr habt drei von Montforts Söldnern getötet und außerdem versucht, ihm Elysa vor der Nase wegzuschnappen. Und Montfort ist kein Mann, der so etwas ungestraft hinnimmt.«

Er machte eine kurze Pause, und als er fortfuhr, klang seine Stimme noch eindringlicher. »Dieser Kreuzzug ist weitaus vielschichtiger, als es auf den ersten Blick aussieht, und jeder der Beteiligten hat seine eigenen Interessen, die er verfolgt. Aber in Wirklichkeit geht es nur um eines: die völlige Vernichtung der Guten Christen und damit um den Verlust der Freiheit, die für uns alle hier im Süden bisher so selbstverständlich war. Der Herr hat uns den freien Willen geschenkt, doch die Kirche hat beschlossen, nur noch den ihren gelten zu lassen und jeden, der etwas anderes denkt oder glaubt, als sie gestattet, zu vernichten.«

Gordon sah ihn entschlossen an. »Ich werde Elysa finden und meinen Auftrag erfüllen, alles andere geht mich nichts an«, wiederholte er stur und verließ danach stehenden Fußes die Kirche.

Prades ritt mit Elysa auf dem schnellsten Weg zum Feldlager zurück. Er gönnte seinem Pferd nur die nötigsten Pausen. Auch als es so erbärmlich schnaufte, dass Elysa vor lauter Mitleid die Tränen über die Wangen rannen, trieb er es rücksichtslos weiter. Am Nachmittag des folgenden Tages erreichten sie das Heer, das seine Zelte auf den Hügeln vor Carcassonne aufgeschlagen hatte.

Montfort schien sich auf eine längere Belagerung vorzubereiten, denn rings um das Lager herum wurden Bäume gefällt und Latrinen ausgehoben. Schweine und Schafe wurden geschlachtet, und der Duft nach Gebratenem zog durch das Lager und überdeckte alle anderen Gerüche.

Prades ritt an den langen Zeltreihen vorbei auf das des obersten Feldherrn zu, dessen Banner die anderen um zwei Ellen überragte.

Montfort stand umringt von anderen Truppenführern und Boten vor seinem Zelt und erteilte mit scharfer Stimme Befehle. Er trug seine Rüstung und darüber einen prächtigen goldbestickten Waffenrock aus Seide.

Prades sprang vom Pferd und riss Elysa grob mit sich. Geduldig wartete er, bis Montfort ihm seine Aufmerksamkeit schenkte.

»Ist das die Nichte des Ketzerführers?«, fragte Montfort knapp und musterte Elysa mit einem raschen Blick.

Prades nickte.

»Wo hast du deine Kameraden gelassen?«

»Sie sind tot«, erwiderte Prades. »Es hat einen Kampf gegeben.«

»Du wirst mir später darüber berichten«, befahl Montfort. »Zunächst habe ich einige Fragen an das Mädchen.«

Er winkte einen seiner Getreuen zu sich und befahl ihm, Elysa in sein Zelt zu bringen. Das Zelt war im Inneren hell und luftig und mit weichen Decken und Kissen ausgelegt. Neben dem Eingang standen mehrere große Truhen mit Eisenbeschlägen.

»Warte hier«, sagte der Mann. Er war am Eingang stehen geblieben. Seine Augen glitten über ihren Körper, und er leckte sich voller Vorfreude über die Lippen. Elysa wandte angewidert ihren Blick ab.

Sie brauchte nicht lange zu warten, bis Montfort das Zelt betrat und seinem Getreuen bedeutete, sich zu entfernen.

Obwohl er nicht übermäßig groß war, stellte er doch eine imposante Erscheinung dar.

»Ich möchte wissen, was der Abt von dir will«, begann er ohne Umschweife und sah sie aus zusammengekniffenen Augen an.

Elysa wich seinem Blick aus. Die erbarmungslose Härte im Gesicht dieses Mannes stieß sie ab, und sie konnte das Blut förmlich riechen, das an seinen Händen klebte.

»Sieh mich gefälligst an, wenn ich mit dir rede«, befahl er ihr in scharfem Ton.

Widerwillig folgte Elysa seinem Befehl.

»Ich habe nicht die geringste Ahnung«, gab sie leise zur Antwort.

»Wenn du es wagen solltest mich anzulügen, werde ich dich meinen Männern überlassen«, fuhr er sie brutal an. »Sie machen keinen Unterschied zwischen Huren und Ketzerweibern.«

Elysa erschrak.

»Ich sage Euch die Wahrheit, Herr.«

»Ich warne dich«, seine Stimme klang gefährlich leise. »Ich will wissen, was Arnold Amaury von dir will, und genau das wirst du mir jetzt verraten.«

Vor dem Zelt wurden Stimmen laut. Wenig später drängte sich Arnold Amaury rücksichtslos an der Wache vorbei ins Zelt. Die wagte es nicht ihn aufzuhalten, doch das schlechte Gewissen stand dem Mann ins Gesicht geschrieben, als er dem Abt hinterherkam und sich an den Feldherrn wandte.

»Ich habe ihm gesagt, dass Ihr nicht gestört werden wollt, Herr«, brachte er entschuldigend hervor.

Simon von Montfort bedachte ihn mit einem ärgerlichen Blick, bevor er sich an den Abt wandte.

»Die Nichte des Ketzers Nicola ist wohlbehalten eingetroffen, ich wollte gerade einen Boten zu Euch senden«, sagte er glatt.

Mit einem Blick in das angespannte Gesicht des Mädchens wusste Arnold Amaury, dass Montfort log, doch er ließ sich nichts anmerken.

»Ich danke Euch«, sagte er knapp.

»Wohin werdet Ihr das Mädchen bringen?«, fragte Montfort.

Arnold Amaury sah ihn scharf an. Sein blässliches Gesicht hatte durch den ständigen Aufenthalt im Freien eine gesunde Bräune bekommen.

»Das Mädchen ist für Euch ohne Interesse. Es geht um rein geistliche Dinge, die nur die Kirche betreffen«, sagte er mit Nachdruck.

Die Blicke der beiden so unterschiedlichen Männer prallten aufeinander.

Das teigige Gesicht des Abtes nahm unerwartet scharfe Konturen an, er hatte endlich seine Maske fallen lassen.

Montfort begann zu frösteln. Er hatte das Gefühl, als würde die Spitze eines Dolches langsam über seinen Nacken gezogen. In Arnold Amaurys eisigem Blick manifestierte sich die geballte Macht der Kurie, die gegenüber ihren Gegnern unerbittlich war, wenn es darum ging, ihre Stellung zu behaupten. Und um nichts anderes ging es hier.

Montforts Gesichtszüge verhärteten sich. Seine gerunzelte Stirn und die zusammengekniffenen schwarzen Augenbrauen verrieten seinen nur mühsam unterdrückten Widerspruchsgeist, als er zur Seite trat, um Arnold Amaury mit dem Mädchen ziehen zu lassen. Das Geheimnis, welches der Abt so sorgsam vor ihm zu verbergen suchte, schien von größter Wichtigkeit für die Kirche zu sein.

Doch obwohl er gerne mehr darüber erfahren hätte, blieb ihm nichts anderes übrig, als für heute klein beizugeben.

Sofort nachdem Arnold Amaury das Zelt verlassen hatte, ließ er Prades zu sich rufen, um alles über den Kampf zu erfahren, der drei seiner Männer das Leben gekostet hatte. Als er erfuhr, dass ein Ritter des Grafen von Toulouse die Männer getötet hatte, um die Tochter des Webers an sich zu bringen, wusste er, dass ihn sein Gefühl nicht getrogen hatte. Dieses Mädchen barg ein Geheimnis, das Raimund VI. ebenso wichtig war wie dem undurchsichtigen Abt.

Prades genoss das Interesse des mächtigen Feldherrn. Montfort hatte ihn aufgefordert, sich zu ihm zu setzen, als wäre er seinesgleichen, und seine Diener angewiesen, ihnen von dem guten Wein einzuschenken.

Die eisenbeschlagenen Truhen, in denen Prades Kriegsbeute vermutete, zogen ihn magisch an, und es gelang ihm kaum, seinen Blick von ihnen zu wenden.

Montfort bemerkte die Gier in den Augen des Söldners und beschloss, sie für seine Zwecke zu nutzen.

»Hast du in Erfahrung bringen können, warum der Graf von Toulouse sich für das Mädchen interessiert und was es in Bélesta wollte? Wenn du mir Informationen dazu lieferst, werde ich dich reich belohnen.«

Das Interesse Montforts an dem Mädchen war nicht zu übersehen. Prades überlegte, ob er ihm von dem Kreuz erzählen sollte, das er dem Schäfer abgenommen hatte.

Eigentlich hatte er es für sich behalten wollen, doch vielleicht konnte er sich damit Montforts Vertrauen erwerben?

Kurz entschlossen öffnete er seinen Beutel und zog das Kreuz hervor.

»Das Mädchen hat sich in Bélesta mit einem Schäfer getroffen, der unter seinem Umhang das Gewand eines Ketzerführers trug, und ihm dieses Kreuz übergeben. Ich hatte es beinahe vergessen.« Er reichte Montfort das Kreuz.

Neugierig betrachtete Montfort die Zeichen und Symbole, die sich auf dem kleeblattförmigen Kreuz befanden. Er konnte weder schreiben noch lesen, aber die Symbole zwischen den Buchstaben kamen ihm merkwürdig vor, vermutlich stellten sie eine geheime Botschaft dar. Doch eine Botschaft für wen?

Das Kreuz stammte von einem Führer der Katharer und war durch das Mädchen einem Schäfer übergeben worden. Die Vermutung lag nahe, dass dieser Schäfer nicht nur ein einfacher Ketzer, sondern ebenfalls ein Führer dieser verfluchten Häretiker war. Es handelte sich also tatsächlich um ein Geheimnis. Er schlug sich mit der flachen Hand gegen die Stirn, als ihm klar wurde, worum es wirklich ging: Arnold Amaury war hinter dem geheimnisumwobenen Schatz der Katharer her, über den überall im Lager hinter vorgehaltener Hand getuschelt wurde. Aus diesem Grund war der Abt auch so wütend über den Tod dieses ketzerischen Webers gewesen. Warum war er nicht schon eher darauf gekommen?

Prades beobachtete ihn erwartungsvoll.

»Du hast gute Arbeit geleistet.« Simon von Montfort öffnete seinen Beutel und entnahm ihm zwanzig Sols.

»Du hast dir die Münzen verdient«, sagte er und reichte sie Prades.

»Sprich mit niemandem über das Kreuz und bleib in der Nähe, es kann sein, dass ich schon bald einen neuen Auftrag für dich habe. Zuverlässige und tapfere Männer wie dich kann ich gut gebrauchen.«

Mit stolzgeschwellter Brust verließ Prades Montforts Zelt. Seine Geduld hatte sich also gelohnt. Gutgelaunt kaufte er sich einen Schlauch Wein und begab sich zu seinen Landsleuten, die ihr Lager zwischen den Zelten der Kriegsknechte und Huren aufgeschlagen hatten.

Nachdenklich trank Montfort seinen Wein. Er hatte schon von dem Geheimnis gehört, um das sich die wildesten Gerüchte und Legenden rankten. Manche Leute behaupteten, die Ketzer wären im Besitz des kostbarsten Teils von König Salomos Tempelschatz, eines Teils, der angeblich weder aus Gold noch aus Juwelen bestand. Aber aus was dann?

Konnte es sein, dass der eigentliche Grund für diesen Kreuzzug der war, an den Schatz der Ketzer zu gelangen?

Einen Moment war er geschockt über diesen Gedanken, dann aber sagte ihm seine innere Stimme, dass er mit dieser Annahme richtiglag. Er hatte mehr als gut daran getan, dem Abt zu misstrauen. Sein Jagdinstinkt war erwacht. Er musste es genau wissen.

Das Kreuz in seiner Hand war sein größter Trumpf. Mit ihm würde er Arnold Amaury zum Reden bringen.

Seine Gesichtszüge verhärteten sich, als er über sein weiteres Vorgehen nachdachte.

Arnold Amaury brachte Elysa in das Zelt, in dem die Gegenstände und heiligen Reliquien für die Feldgottesdienste aufbewahrt wurden, und befahl Remigius, dafür zu sorgen, dass er von niemandem gestört wurde.

Elysa kämpfte gegen den Hass an, der sie erfüllte. Das also war der Mann, der ihren Onkel und fast die gesamte Einwohnerschaft Rhedaes im Namen des Kreuzes getötet und ihr Zuhause zerstört hatte. Nur die dunklen Augen in seinem teigigen Gesicht mit dem breiten Kinn ließen auf die unerbittliche Härte schließen, die sich hinter seinem ansonsten eher harmlos wirkenden Äußeren verbarg. Etwas Düsteres ging von seinem Blick aus, ein Eindruck, der von den dunklen, schwer hängenden Tränensäcken unter seinen Augen noch verstärkt wurde.

Lauernd trat er auf sie zu. Sie wandte ihren Kopf ab, da ihr vor den Ausdünstungen seines Körpers ekelte, die sie nun deutlich riechen konnte. »Dein Onkel ist wegen seines schrecklichen Irrglaubens gestorben und schmort jetzt im ewigen Feuer der Hölle. Du allein kannst seine Seele retten.«

Das war zu viel! Elysa wurde von heißer Wut gepackt. Ihr Kinn schob sich kampflustig nach vorn, und der Ausdruck in ihren Augen verriet Unbeugsamkeit und Entschlossenheit.

»Mein Onkel hat seine Seele von allem Irdischen befreit und ist in die ewige Heimat zurückgekehrt«, entgegnete sie trotzig.

Dieses Mädchen ist ebenso verblendet, wie sein Onkel es war, dachte sich Arnold Amaury und unterdrückte mühsam den Zorn, der in ihm hochstieg. Ein verschlagener Ausdruck huschte über sein Gesicht.

»Erzähl mir mehr von deinem Glauben, damit ich ihn verstehen kann. Was muss man tun, um ein Vollkommener zu werden?«, fragte er mit falscher Freundlichkeit. Er musste versuchen, ihr Vertrauen zu gewinnen, vielleicht käme er ja auf diese Weise hinter das Geheimnis dieser verfluchten Ketzer.

»Ihr hättet besser daran getan, meinen Onkel danach zu befragen, anstatt ihn zu töten. Ich bin nur eine einfache Gläubige, die nichts über die höheren Weihen weiß«, kam es kühl zurück.

»Warum hat dein Onkel dich vor der Schlacht aus der Stadt geschafft, wo doch alle anderen Familien gemeinsam in den Tod gegangen sind?«, versuchte Arnold Amaury es erneut.

»Das hat er mir nicht gesagt.«

Er sah den Zorn in ihren Augen und merkte, dass er so nicht weiterkommen würde. Wahrhaftig, das Mädchen war ebenso verstockt wie die anderen Ketzer. Es würde nicht einfach sein, es zum Reden zu bringen. Die junge Frau machte den Eindruck intelligenter und gebildeter zu sein, als es einem Mädchen ihres Standes zukam. Außerdem war sie von gefährlicher Schönheit. Er musste sie aus dem Lager schaffen, irgendwohin, wo er sich in Ruhe mit ihr befassen konnte, und vor allem weit weg von Simon von Montfort, dessen Interesse an ihr nicht zu übersehen gewesen war.

Die Idee, die plötzlich in seinem Kopf auftauchte, schien ihm vom Herrn selbst eingegeben worden zu sein.

Er wandte sich von Elysa ab und rief Remigius zu sich, der zusammen mit einigen anderen Mönchen für die Seelsorge der Soldaten während des Kreuzzuges zuständig war, und befahl ihm, Elysa noch vor Sonnenaufgang nach Prouille zu schaffen. Er wies ihn an, Elysa auf dem Weg dorthin nicht aus den Augen zu lassen, sie nach seiner Ankunft sofort der Klostervorsteherin zu übergeben und dann so lange im Kloster zu bleiben, bis Dominikus Guzman dort eingetroffen war.

Danach setzte er einen Brief an Dominikus auf, in dem er diesen um Hilfe bat, und versiegelte ihn sorgfältig. Der spanische Prediger hatte den Heiligen Vater um die Erlaubnis ersucht, einen Orden gründen zu dürfen, und in Prouille bereits ein Kloster für konvertierte Katharerfrauen errichtet, um dem Papst seinen Eifer zu beweisen. Das Mädchen wäre dort vollkommen von der Außenwelt abgeschnitten, und er könnte es sich in aller Ruhe vornehmen und befragen.

Am nächsten Morgen, noch bevor der erste helle Streifen am Horizont erschien, verließen drei Mönche mit hochgeschlagenen Kapuzen auf ihren Maultieren das Lager. Die Hände des mittleren Mönchs waren wie im Gebet gehalten, weshalb einer seiner Mitbrüder die Zügel seines Tieres übernommen hatte.

Sie wurden nicht weiter beachtet und entgingen selbst den scharfen Augen von Montforts Leuten, der seine Spitzel überall hatte.

Den Barden, der sich im Schatten der Zelte verbarg und ihnen mit glühenden Augen hinterhersah, bemerkten sie nicht.

Als die Sonne höher stieg, begann Elysa, unter der übel riechenden Kutte zu schwitzen. Die Haut auf ihrem Rücken juckte, doch sie konnte sich nicht einmal kratzen, da man ihr die Hände fest zusammengebunden hatte. Die Zunge klebte ihr am Gaumen, und das halb blinde Maultier stolperte immer wieder auf dem steinigen Weg, sodass sie Mühe hatte, sich auf seinem Rücken zu halten. Sie fühlte sich elend und machte sich Vorwürfe, weil sie nicht vorsichtiger gewesen war und genau das eingetreten war, was sie hatte verhindern wollen. Sie war in die Hände der Mächtigen geraten. Ob es ihr wohl gelingen würde, den Abt davon zu überzeugen, dass sie nichts wusste? Und wenn er ihr wehtun würde? Würde sie stark genug sein, um zu schweigen?

Bei diesen Gedanken wurde ihr noch elender zumute, und sie klammerte sich an die Hoffnung, eine Möglichkeit zur Flucht zu finden.

Bei der nächsten kurzen Rast, in der die Maultiere getränkt wurden, bat sie Remigius, ihr die Fesseln abzunehmen.

»Ich bitte Euch, ehrwürdiger Vater. Ich muss mich erleichtern, und das kann ich nicht mit gefesselten Händen.«

Remigius zuckte bei ihren Worten zusammen und wechselte einen kurzen Blick mit seinem Begleiter. Misstrauisch starrte er sie an. Die Ketzer waren mit dem Teufel im Bund, und auch wenn das Mädchen so unschuldig wirkte wie die heilige Jungfrau, war dies doch nur der äußere Schein.

Elysa merkte, wie er zögerte, und verlegte sich aufs Bitten. Sie hielt ihm die gefesselten Hände hin. »Wie soll ich damit meinen Rock anheben?«

Remigius’ Gesicht verzog sich voller Abscheu. Er starrte sie an, als hätte er irgendein giftiges Gewürm vor sich.

»Bruder Johannes wird dir die Fesseln abnehmen. Danach wird er mit dir gehen, sich aber abwenden und seine Augen schließen«, entschied er dann. Der Abt hatte ihn vor der Hinterlist und Heimtücke der Frauen gewarnt und ihm außerdem eingeschärft, Elysa nicht aus den Augen zu lassen.

Nachdem Elysa ihre Notdurft verrichtet hatte, drängte er Bruder Johannes zur Eile. Er wollte den unangenehmen Auftrag so schnell wie möglich hinter sich bringen.

Gegen Abend kamen sie in ein abgelegenes Tal, durch das sich ein kleines Flüsschen schlängelte, das an mehreren Stellen zu Teichen aufgestaut war, in denen die Nonnen Forellen und fette Karpfen züchteten.

Das Kloster selbst war nicht weit entfernt von den Teichen errichtet worden und von einer hohen Mauer umgeben.

Remigius und Johannes ritten mit Elysa auf das eisenbeschlagene Holztor zu und klopften, gleich nachdem sie es erreicht hatten, mit Nachdruck an den Einlass. Es dauerte eine ganze Weile, bis die kleine Klappe in Augenhöhe des Tores geöffnet wurde und ein rundes von Falten durchzogenes Gesicht dahinter erschien.

»Der Friede des Herrn sei mit Euch, Brüder. Womit können wir Euch dienen?«, erkundigte sich demütig eine Stimme.

»Ich bin Bruder Remigius. Wir sind im Auftrag des Abtes von Citeaux hier und haben eine dringende Nachricht für die Klostervorsteherin.«

Die Klappe wurde zugeschlagen, und sie mussten nochmals warten, bis das Tor geöffnet wurde und man sie einließ. Remigius schien das Kloster zu kennen. Zielstrebig ritt er an der Backstube und den Vorratslagern vorbei zu den Pferdeställen. Ein herumlungernder Knecht eilte mit mürrischem Gesicht herbei, um ihnen die Maultiere abzunehmen und sie zu versorgen.

»Wir sind da, du kannst jetzt absteigen«, forderte Remigius Elysa auf. Mit spitzen Fingern nahm er ihr die Fesseln ab, wobei er es vermied, sie zu berühren.

Danach ließ sich Remigius bei der Klostervorsteherin melden und wies Bruder Johannes an, während seiner Abwesenheit bei Elysa zu bleiben. Es dauerte nicht lange, bis er, gefolgt von zwei Nonnen, zurückkehrte. Unter Remigius’ Aufsicht brachten sie Elysa in eine kleine Dachkammer über der Kapelle, deren sparsame Einrichtung aus einer Strohmatratze und einem schlichten Holzkreuz an der weiß getünchten Wand bestand. Das einzige Fenster in der Kammer lag zu hoch, um hinaussehen zu können, und war zudem so klein, dass nicht einmal ein Kind hindurchgepasst hätte. Elysa hörte, wie von außen der Schlüssel im Schloss herumgedreht wurde. Sie war gefangen, eingesperrt wie eine Verbrecherin.

Müde rieb sie sich die Handgelenke, die noch ganz taub von den Fesseln waren. Sobald sie wieder Gefühl in ihren Händen hatte, befreite sie sich von der übel riechenden Mönchskutte über ihrem Kleid und warf sie angeekelt auf den Boden.

Unruhig wanderte sie in der Kammer auf und ab. Fünf Schritte waren es von einer Wand bis zur anderen. Sie dachte an Gordon. Wäre sie bei ihm geblieben, wäre sie jetzt in der Burg auf dem Montségur. Aber auch dort wäre sie nicht sicher gewesen, weil das Interesse des Grafen von Foix wie auch das des Grafen von Toulouse an ihr etwas mit dem Kreuz zu tun haben musste. Warum sonst hätten sich die hohen Herren alle auf einmal für sie interessieren sollen? Sie tröstete sich damit, dass das Kreuz in Sicherheit war, und das allein zählte. Amiel würde es an seinen Bestimmungsort bringen. Sicher war er längst auf dem Weg dorthin.

Auf dem Flur erklangen Schritte und rissen sie aus ihren Gedanken. Sie hörte, wie der Schlüssel herumgedreht und die Türe geöffnet wurde. Die beiden Nonnen, die sie zuvor schon in die Kammer geführt hatten, kamen erneut herein und brachten ihr einen Krug mit Wasser, dazu eine Schale mit Getreidebrei und einen Nachttopf. Sie stellten die mitgebrachten Sachen auf den Boden und warfen Elysa noch neugierige Blicke zu, bevor sie sich wieder umwandten, um die Kammer zu verlassen.

Elysa hielt sie zurück. »Wo bin ich hier?«, fragte sie.

Die ältere der beiden Nonnen legte den Zeigefinger auf ihre Lippen, um ihr zu bedeuten, dass sie das Schweigegelübde abgelegt hatten, und verließ dann wortlos mit ihrer Mitschwester die Kammer.

Elysa starrte ihnen enttäuscht hinterher. Sie hörte, wie der Schlüssel herumgedreht wurde, dann war sie mit ihren quälenden Gedanken wieder allein. Um sich abzulenken, stocherte sie in dem mit frischen Kräutern gewürzten Brei, bevor sie ihn in einem plötzlichen Wutanfall gegen die Wand schleuderte. Voller Genugtuung beobachtete sie, wie die zähfließende braune Masse langsam die Wand hinunterlief und dabei dunkle Streifen hinterließ. Es war fast dunkel in der kleinen Kammer. Nur der obere Teil unter dem First wurde schwach vom hereinfallenden Mondlicht erleuchtet. Ob Gordon nach ihr suchen würde? Oder war er wütend auf sie, weil sie vor ihm geflohen war? War er vielleicht sogar schon auf dem Weg hierher, um sie erneut zu retten? Doch da fiel ihr ein, dass er ja gar nicht wissen konnte, wo sie sich befand. Elysa sah Gordons Gesicht vor sich, das ihr mit einem Mal so vertraut schien. Vielleicht lag das aber auch nur an der fremden Umgebung, den kalten Mauern und der Ungewissheit darüber, was mit ihr geschehen würde.

Gordon hätte nie etwas getan, das ihr schadete. Wie er auch niemals den Eid gebrochen hätte, den er seinem Herrn geleistet hatte, weshalb es richtig von ihr gewesen war, ihn zu verlassen. Trotzdem wünschte sie nichts sehnlicher, als dass er kommen und sie aus diesem grässlichen Kloster herausholen würde. Sie fühlte sich schmutzig, müde und hungrig und vor allem: schrecklich allein. Ihr Magen knurrte, und sie bereute es, den Getreidebrei an die Wand geschmissen zu haben.

Ihre Gedanken kehrten zu Gordon zurück. Sie hatte sich so geborgen hinter ihm auf dem Pferd gefühlt und während des langen Rittes die Wärme seines Rückens genossen, der wie ein Schild vor ihr aufgeragt war und alles Böse von ihr ferngehalten hatte. Ob sie ihn jemals wiedersehen würde?

Sie legte sich auf die Matratze, die nach frisch geschnittenem Stroh roch, und sank irgendwann in einen unruhigen Schlaf, der immer wieder von dumpfem Glockenläuten unterbrochen wurde.

Als sie am nächsten Morgen erwachte, wusste sie im ersten Moment nicht, wo sie war. Verschlafen rieb sie sich die Augen und hatte sich gerade von der Bettstatt erhoben, als auch schon die Türe geöffnet wurde. Wieder stand eine der beiden Nonnen vom Vortag vor ihr, die sie mit einer unmissverständlichen Handbewegung dazu aufforderte, ihr zu folgen.

Elysa war noch nie zuvor in einem Kloster gewesen. Neugierig sah sie sich um, während sie der Nonne durch nicht enden wollende Gänge folgte. Sie fühlte sich klein und verloren innerhalb der hohen, kühlen Mauern, durch die der Duft von Weihrauch und Wachs zog.

Der Klosterkomplex gliederte sich in drei Bereiche: die Basilika, das eigentliche Kloster mit Dormitorium, Refektorium und Kapitelsaal sowie die Wirtschaftsgebäude und den Nutzgarten. Der mit Säulen geschmückte Kreuzgang umschloss einen verschwenderisch bepflanzten Innenhof mit einem überdachten Steinbrunnen in der Mitte.

Der fröhliche Gesang einiger Vögel war das einzige Geräusch, das von der Welt außerhalb der dicken Mauern ins Kloster drang.

Die Nonnen, die ihnen unterwegs begegneten, nickten ihnen freundlich grüßend zu, sprachen jedoch kein Wort.

Die unnatürliche Stille um sie herum begann Elysa zu erdrücken, und sie fühlte sich mehr denn je als Gefangene. Vor einer dunklen Holztüre mit Schnitzwerk blieb die Nonne stehen und klopfte.

Eine ältere Frau in Ordenstracht öffnete ihnen die Tür. »Du wartest draußen«, befahl sie der Nonne, die Elysa begleitet hatte, und trat dann zur Seite, um diese eintreten zu lassen.

Sie nickte Elysa freundlich zu. »Ich bin Schwester Mathilda, die Klostervorsteherin«, sagte sie.

Mathilda war groß und knochig gebaut und schien unter ständigem Schlafmangel zu leiden. Ihr bleiches Gesicht wirkte abgespannt und müde, aber ihre dunklen Augen blickten freundlich und voller Anteilnahme.

»Du kannst dich dorthin setzen«, forderte sie Elysa auf und wies auf einen Stuhl mit hoher Lehne vor ihrem Schreibtisch.

Sie selbst nahm hinter dem Schreibtisch Platz und betrachtete Elysa forschend. Das Mädchen vor ihr konnte nicht älter als sechzehn Jahre sein. So jung und voller Leben. Sein schönes Gesicht strahlte Traurigkeit aus, aber auch eine nicht zu unterschätzende Unbeugsamkeit. Ob Elysa wusste, in welcher Gefahr sie sich befand? Das Mädchen tat ihr leid, und sie beschloss, alles zu tun, was in ihrer Macht stand, um ihm zu helfen.

»Wie ich gehört habe, bist du bereit, deinen falschen Glauben abzulegen?«, fragte sie ruhig.

Elysa funkelte Schwester Mathilda empört an.

»Da habt Ihr etwas Falsches gehört. Man hat mich entführt und gegen meinen Willen hierher verschleppt.«

Schwester Mathilda beugte sich etwas vor. Ihre Stimme nahm einen beschwörenden Ton an.

»Wir alle haben einem falschen Glauben angehangen, bevor uns der Herr in seiner großen Güte die Augen geöffnet hat. Hier in diesem Kloster haben wir unseren inneren Frieden gefunden, und das kannst du ebenfalls.«

Elysa wollte schon auffahren, doch etwas in den dunklen Augen der Nonne warnte sie. »Ich soll also meinen Glauben verraten und dem Orden beitreten?«, vergewisserte sie sich.

Mathilda nickte. »Wir alle werden dir dabei helfen, und du wirst dich schon bald an unser schlichtes Leben gewöhnt haben.«

Die dunklen Augen der Nonne bohrten sich in ihre. »Wir sind nur einfache Gläubige, die versuchen, dem Herrn wohlgefällig zu sein und ihm zu dienen.«

»Werde ich dann keine Gefangene mehr sein?«

Mit klopfendem Herzen wartete Elysa auf die Antwort der Klostervorsteherin.

»Du wirst keine Gefangene mehr sein, doch zuvor musst du deinem Glauben abschwören und Dominikus Guzman, den Gründer dieses Klosters, davon überzeugen, dass du von nun an das Wort Gottes befolgen wirst, so wie die Kirche es uns lehrt. Ein Bote ist bereits auf dem Weg zu ihm.«

Ihre Stimme senkte sich zu einem Flüstern.

»Ich kann dir nur raten, sorgfältig auf jedes deiner Worte zu achten.«

»Ich weiß nicht, ob ich das kann, ohne mich zu verraten«, sagte Elysa.

»Dann werden sie dich verbrennen.«

Sie wartete, ob Elysa noch etwas sagen wollte, doch Elysa schwieg.

Mathilda seufzte. »Keiner von uns ist es leichtgefallen abzuschwören, aber wenn der Herr tatsächlich gewollt hätte, dass wir alle brennen, hätte er uns auch die Kraft und den Mut gegeben, den Scheiterhaufen zu besteigen. Deshalb glauben wir, dass der Herr uns dazu erwählt hat, unseren Glauben zu bewahren und weiterzutragen, auch wenn dies im Verborgenen geschieht. Hinter diesen Mauern und unter dem Schutz des Kreuzes.«

Sie lächelte Elysa an, und ihr Lächeln war warm und voller Liebe.

»Das Licht wird zurückkehren auf diese Welt, und wenn der Tag gekommen ist, muss es jemanden geben, der es erkennt.«

Es klang alles so einfach, aber war es auch richtig? Elysa dachte über Mathildas Worte nach. Sie wollte noch nicht sterben, nicht, bevor sie sich entschieden hatte, ob sie den siebenfachen Weg zu den Sternen gehen oder nicht doch lieber als einfache Gläubige leben, heiraten und eine Familie gründen wollte. Erst musste sie sich ganz sicher sein.

Sie dachte an Rorico, aber immer wieder schob sich Gordons Antlitz vor das Bild des Freundes.

Ihre Augen trafen sich mit denen Mathildas, die nun zufrieden nickte.

»Dann werde ich dich jetzt auf das Verhör vorbereiten und dir erklären, wie du auf Bruder Dominikus’ Fragen antworten musst.«

Das Kreuz des Schweigens / Die Sühnetochter - Zwei Romane in einem Band

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