Читать книгу Das Kreuz des Schweigens / Die Sühnetochter - Zwei Romane in einem Band - Hildegard Burri-Bayer - Страница 12

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Abtei Cîteaux

Die Stille im behaglich eingerichteten Arbeitszimmer des Abtes wurde nur vom Knistern der Flammen in dem hohen, aus altem römischem Stein erbauten Kamin durchbrochen.

Arnold Amaury saß hinter seinem schweren, mit Schnitzwerk versehenen Arbeitstisch, auf dem wohlgeordnet mehrere gespitzte Gänsekiele sowie Siegelwachs und Tintenhorn bereitlagen.

Nur mit Mühe gelang es ihm, seine Erregung zu unterdrücken. Seine Hände waren feucht vor Aufregung, und seine Finger hinterließen hässliche Flecken auf dem päpstlichen Schreiben.

Er hielt das Pergament so fest, als fürchtete er, jemand könnte es ihm entreißen. Seine blaugrauen Augen blitzten triumphierend auf, als sie über die Buchstaben glitten, um den alles entscheidenden Satz noch einmal zu lesen.

... gewähren wir Euch uneingeschränkte Vollmacht zu zerstören, zu vertilgen und auszureißen, was Ihr als zerstörerisch, vertilgens- und ausreißenswert erkennt.

Er schluckte hart, bevor er weiterlas.

Die Häretiker beachten nicht einmal die Gesetze der Kirche: Sie sammeln die Pfründe an und vergeben die Priesterämter und kirchlichen Würden an selbst ernannte, würdelose Priester und leseunkundige Kinder.

Von daher kommt die Anmaßung der Häretiker, von daher die Verachtung der Herren und des Volkes für Gott und seine Kirche. Die Prälaten sind in dieser Gegend das Gespött der Laien.

Bekämpft die Anhänger der Häresie mit kraftvoller Hand und mit starkem Arm und mit noch größerer Unerschrockenheit als die Sarazenen, denn die Ketzer sind noch schlimmer als diese.

Für diejenigen, die treu zur Kirche stehend gegen die Ungläubigen aufgetreten sind, wünschen wir die gleiche Vergebung der Sünden, wie wir sie denen gewähren, die zur Rettung des Heiligen Landes übers Meer geeilt sind.

Die Ketzer haben außerdem etwas, das Uns gehört und das Wir unter allen Umständen in Unseren Besitz zurückbringen müssen. Sie bezeichnen sich als die Wahren Christen und leiten diesen Anspruch aus den Schriften des Apostels Johannes ab, die sich, wie Wir in Erfahrung bringen konnten, in ihrem Besitz befinden. Wir müssen diese Schriften finden, um diese ketzerische Lehre an den Wurzeln packen und mit Stumpf und Stiel für immer vernichten zu können.

Das Schreiben war gezeichnet von seiner Heiligkeit Papst lnnozenz III.

Die Schriften des Apostels Johannes! Arnold Amaury rieb sich die Augen und las den letzten Absatz noch einmal. Wenn er die Worte des Heiligen Vaters richtig verstanden hatte, verbargen sich hinter dem sogenannten Tröster, von dem Pater Stephan ihm berichtet hatte, also die Schriften des Johannes, die vor über tausend Jahren geschrieben worden waren. Und der Papst beauftragte nun ihn damit, diese heiligen Dokumente zu finden und nach Rom zu überstellen. Ihn, Arnold Amaury, und nicht etwa Peter von Castelnau oder den Bischof von Toulouse. Es war eine gute Idee von Peter von Castelnau gewesen, Pater Stephan als Spitzel einzusetzen. Denn ohne diesen Schachzug hätte er sicher nie von dem Tröster erfahren, und der Heilige Vater hätte ihn gewiss nicht in dieses wichtige Geheimnis eingeweiht. Es gelang ihm kaum noch, klar zu denken, zu viele Gedanken stürmten auf ihn ein, während sich gleichzeitig ungeahnte Möglichkeiten vor ihm auftaten.

In seiner Aufregung hatte Arnold Amaury den päpstlichen Gesandten, der noch immer vor seinem Schreibtisch stand, völlig vergessen. Erst dessen deutlich vernehmbares Räuspern riss ihn aus seinen selbstvergessenen Überlegungen. Sofort hatte er sich wieder in der Gewalt. Er musterte den noch jungen Mann prüfend. Hatte er sich etwa durch sein Mienenspiel verraten und seine innersten Gedanken preisgegeben?

Doch im Gesicht des Gesandten wies nichts darauf hin. Höflich, beinahe gelassen erwiderte dieser seinen Blick, trotzdem glaubte Amaury, einen leicht abfälligen Zug um seine Mundwinkel herum spielen zu sehen, was ihn ärgerte.

»Ich brauche Euch nicht mehr«, sagte er schroff und fügte etwas freundlicher hinzu. »Lasst Euch in der Küche etwas zu essen geben.«

Als der Gesandte den Raum verlassen hatte, lehnte er sich mit stolzgeschwellter Brust in seinem Stuhl zurück.

Der Heilige Vater vertraute ihm! Seine Worte waren eindeutig.

Papst Innozenz hatte ihm, Arnold Amaury, den Auftrag zur Lösung der Negotium pacis et fidei, der albigensischen Gefahr, erteilt und ihm dabei freie Hand in der Wahl der Mittel gelassen. Und dieses Mal würde er Innozenz III. nicht enttäuschen, so wie er es mit seinem erfolglosen Versuch, die Ketzer zu bekehren, getan hatte. Dieses Mal würde er mit aller Kraft, die ihm zur Verfügung stand, gegen diese Ungläubigen vorgehen. Man musste das Übel an der Wurzel packen, um es zu vernichten. Mit Gottes Hilfe würde er den heiligen Auftrag erfüllen und das Land für immer von den Ungläubigen befreien.

Ein zufriedenes Lächeln breitete sich auf seinem blässlichen Gesicht aus und nahm ihm die Strenge. Er fühlte sich beinahe so, als hätte er den Kampf schon gewonnen.

Er hielt inne, um noch einen Moment länger in dieser herrlichen Vorstellung zu schwelgen, bevor er sich den grundsätzlicheren Überlegungen seines Auftrags zuwandte.

Welche Mittel standen ihm für ein solches Unternehmen überhaupt zur Verfügung? Schlagartig erlosch seine fast schon euphorische Stimmung.

Er konnte keinen Krieg ohne die Soldaten des französischen Königs gegen die Ketzer führen. Das wäre ungefähr so, als würde man von ihm verlangen, eine Kirche zu bauen, und ihm gleichzeitig die benötigten Steine und das Holz dafür verweigern.

Und ohne König Philipp Augusts Hilfe würden seine hochfahrenden Pläne in der Tat von Anfang an zum Scheitern verurteilt sein.

Doch dieser hatte trotz der wiederholten Aufforderungen Innozenz’ III. bisher gezögert, seine Truppen für den heiligen Krieg gegen die Ketzer in Okzitanien zur Verfügung zu stellen.

Begriff der König denn nicht, welche Gefahr für die Kirche von deren häretischen Umtrieben ausging?

Eine steile Falte erschien auf Arnold Amaurys breiter Stirn, als er angestrengt nach einer Lösung für dieses Problem suchte.

Der Gedanke, der wie aus dem Nichts in seinem Kopf auftauchte, war ungeheuerlich. Erregt sprang er auf und trat an das hohe, bleiverglaste Fenster. Nein, das konnte er nicht tun! Aber wenn dies nun der einzig gangbare Weg wäre? Er überlegte hin und her, rang mit sich und seinem Gewissen, bis er sich schließlich mit der Bitte um Beistand direkt an seinen Gott wandte. »Wenn du es nicht geschehen lassen willst, dann lähme meine Gedanken, Herr, und lasse sie für immer aus meinem Kopf verschwinden.« Mit diesen Worten und einem Kreuzzeichen beschloss er sein Gebet. Die gewohnte Bewegung beruhigte ihn. Der Papst hatte ihn unmissverständlich aufgefordert zu handeln. Entsprach sein ungeheuerlicher Gedanke etwa genau dem, was der Papst ihm zwischen den Zeilen hatte mitteilen wollen? Dass er einen triftigen Grund für einen Krieg finden sollte? Einen Anlass, der es dem französischen König unmöglich machen würde, seine Unterstützung noch länger zu verweigern?

Er lief ruhelos in seiner Klause auf und ab und versuchte, den finsteren Gedanken zu vertreiben, doch je mehr er sich darum bemühte, diesen aus seinem Kopf zu verbannen, umso hartnäckiger schien er sich in ihm festzusetzen.

Arnold Amaury warf sich vor dem schlichten Holzkreuz an der Wand auf die Knie, um Buße zu tun für diesen Gedanken, der für einen Mann Gottes unwürdig war.

Dem jungen Mönch, der ihn wenig später zur Vesper holen wollte, gab er ungeduldig zu verstehen, dass er keine weiteren Störungen mehr wünschte. Er betete bis weit nach Mitternacht. Dann erst erhob er sich mit steifen Gliedern und genoss den Schmerz, als er in sein Schlafgemach humpelte. Gab ihm dieser doch das beruhigende Gefühl, der Versuchung widerstanden zu haben.

Kurz vor Beginn der Frühmesse wachte er auf. Düstere Träume hatten ihn während des kurzen Schlafes gequält, deren Schatten ihn auch jetzt noch gefangen hielten. Seine Stimmung war denkbar schlecht und besserte sich auch nicht beim Anblick seiner Mitbrüder, die mit verschlafenen Gesichtern in die Kapelle schlurften.

Der hässliche Gedanke des gestrigen Abends war noch immer nicht verschwunden, sondern hatte sich fest in seinem Kopf eingenistet. Er versuchte zwar nach wie vor, ihn zu vertreiben, doch es wollte ihm einfach nicht gelingen. Dann geschah etwas Erstaunliches. Der Gedanke ließ sich nicht nur nicht vertreiben, sondern wurde mit jeder Stunde, die verging, vertrauter, bis ihm zuletzt nichts Befremdliches mehr anhaftete und Arnold Amaury sich dabei ertappte, dass er sich, ohne es zu wollen, ernsthaft mit ihm auseinandersetzte.

Schließlich gab er, eine Woche, nachdem der Gesandte des Papstes ihm das Schreiben überbracht hatte, auf.

Er war jetzt überzeugt davon, dass Papst Innozenz III. genau das von ihm erwartete, was in seinem Kopf herangereift war.

Es war seine heiligste Pflicht, das Land von den Ketzern zu befreien, die sich schneller im Süden ausbreiteten als Beulen am Körper eines Pestkranken.

Das Opfer, das er bringen musste, um dieses Ziel zu erreichen, schien ihm auf einmal nicht mehr ganz so groß zu sein. Auch der Gedanke, im Auftrag des Papstes, und damit im Namen des Herrn, zu handeln, half ihm, sein Gewissen zu beruhigen.

Er setzte sich an seinen Arbeitstisch, nahm ein schon zurechtgeschnittenes Pergament und legte es vor sich auf die Schreibfläche. Eine Weile starrte er auf das leere Blatt und rührte gedankenverloren mit dem Federkiel in seinem Tintenfass.

Ja, manchmal war es eben notwendig, ein Opfer zu bringen, um ein höheres Ziel zu erreichen. War Jesu Tod am Kreuz nicht das beste Beispiel dafür? Der Mord an einem päpstlichen Legaten, begangen von einem Katharer, würde den offiziellen Grund für einen Krieg liefern. Natürlich durfte er den Mord nicht selbst in Auftrag geben. Unter keinen Umständen durfte dieser jemals mit ihm in Verbindung gebracht werden. Und um Peter von Castelnau war es nun wirklich nicht schade. Mehr als siebenhundert Tage und Nächte hatte er diesen überheblichen Kerl, der mit der ihm vom Papst verliehenen Macht wie ein Fürst aufgetreten war, während ihrer Missionsreise durch Frankreichs Süden ertragen müssen.

Dabei war es ihnen nicht einmal gelungen, auch nur einen einzigen Ungläubigen auf den rechten Pfad zurückzuführen. Für ihn bestand kein Zweifel daran, dass es die Schuld von Peter von Castelnau war, dass sie so jämmerlich versagt hatten.

In seiner Verzweiflung hatte er den Heiligen Vater schon um seine Abberufung bitten wollen, als sie durch eine glückliche Fügung auf den Subprior des Bischofs von Osma, Dominikus Guzman, getroffen waren.

»Von prachtvollen Zelten aus und mit einem Heer von Dienern lässt es sich nicht gut von Jesus Christus predigen, der arm war und barfuß ging«, hatte dieser ihnen geraten, aber während er selbst bereit war, alles zu tun, um ihren Auftrag zu erfüllen, hatte Peter von Castelnau sich nur schwer von der Notwendigkeit überzeugen lassen, seine prächtigen Gewänder gegen härene Kutten zu tauschen. Und selbst als er es schließlich getan hatte, schreckte er die Menschen, die ihnen begegneten, immer noch mit seinem unerträglichen Hochmut ab. Die Sache schien aussichtslos, aber nichtsdestotrotz war es am Ende Peter von Castelnau gewesen, der die rettende Idee gehabt hatte und kurzerhand die Bischöfe von Béziers und Toulouse suspendiert und den Grafen von Toulouse exkommuniziert hatte.

Die Bekämpfung der Ketzer hatte daraufhin eine unerwartete Wende genommen. Peter von Castelnau stellte strenge Bedingungen für die Aufhebung der von ihm verhängten Interdikte, ließ sich von dem verunsicherten Adel und dem hohen Klerus bewirten wie ein Fürst und scherte sich nicht darum, dass er sich dadurch immer mächtigere und gefährlichere Feinde unter diesen machte.

Peter von Castelnau erwartete, dass der Papst ihn für all seine Mühen mit einem Bistum belohnen würde. Nun wähnte er sich seinem Ziel schon ganz nah. Er wusste eben noch nicht, dass er nun, anstatt Erzbischof zu werden, schon bald als Märtyrer enden und damit, obwohl es niemanden gab, der diese Auszeichnung weniger verdiente als er, vielleicht – und bei diesem Gedanken wurde Arnold Amaury ganz übel – eines Tages sogar heiliggesprochen werden würde.

Das Treffen fand acht Wochen später unter größter Geheimhaltung statt.

Simon von Montfort, der fünfte Earl of Leicester, zog sich seine Kapuze noch tiefer ins Gesicht, obwohl es bereits so dunkel war, dass man die Hand vor Augen nicht mehr erkennen konnte. Er parierte seinen Hengst durch und wartete, bis der Mond, der hinter einer dicken Wolkendecke verschwunden war, wieder hervorkam. Dann erst trieb er sein Pferd an und ritt weiter.

Sein Knappe Guido hielt sich dicht neben ihm. Dass sein Herr ihm nicht den Befehl erteilt hatte, ein Quartier zu suchen, solange es noch hell war, war ihm ebenso wenig geheuer wie die Mönchskutte, die sich der Graf über sein Kettenhemd gestreift hatte. Obwohl jeder wusste, dass es im Süden Frankreichs von Banditen und Räubern nur so wimmelte, hatte Simon von Montfort außerdem auf seine Gefolgsleute verzichtet.

Was zum Teufel war so wichtig, dass es nicht bis zum nächsten Tag warten konnte und sie die ganze Nacht durchreiten mussten?

Das Schreien einer Katze durchbrach die Stille. Guido begann, vor Angst zu schlottern. Katzen waren Geschöpfe des Satans. An den Orten, an denen sie sich aufhielten, war auch der Leibhaftige nicht mehr weit. Hastig schlug er ein Kreuzzeichen.

Endlich tauchten die Mauern eines Klosters vor ihnen auf. Im fahlen Licht des Mondes wirkten sie abweisend und düster. Trotzdem wurde Guido augenblicklich ruhiger. Hinter dem Schutz der heiligen Mauern konnte der Teufel ihm nichts mehr anhaben.

Doch seine Hoffnung wurde enttäuscht. Noch bevor sie das Kloster erreichten, stieg Simon von Montfort von seinem Pferd.

»Du wartest hier«, befahl er, warf Guido die Zügel seines Pferdes zu und lief mit weit ausholenden Schritten auf die Pforte zu. Er schien bereits erwartet zu werden, denn die Pforte wurde geöffnet, ohne dass Simon von Montfort sich die Mühe machen musste zu klopfen. Guido drängte sich enger an die warmen Pferdeleiber, die Tiere würden ihn warnen, sobald Gefahr drohte.

Simon von Montfort folgte dem alten Mönch, der ihn am Einlass in Empfang genommen hatte, über den Klosterhof. Feiner Kies knirschte unter seinen Stiefeln, sonst blieb alles still. Die Bewohner des Klosters schienen noch zu schlafen, doch es konnte nicht mehr lange dauern, bis sie sich von ihren harten Lagern erheben würden, um sich zur Matutin, dem ersten Gebet des neuen Tages, in der Kapelle zu versammeln. Das Kloster besitzt beinahe die Ausmaße einer Burg, dachte Montfort und staunte nicht schlecht über die Größe der Anlage, als es weiter durch einen zum üppig begrünten Innenhof hin offenen Kreuzgang ging. Im Schein der Fackel sah er die auf Zwillingssäulen ruhenden, überreich mit Blattwerk geschmückten Arkaden. Von der Westseite des mit Rundbögen gewölbten Kreuzgangs aus gelangten sie in die Abteikirche, in der eine Treppe zuerst auf eine Galerie und von dort aus zu den Schlafsälen der Mönche führte.

Vor einer kostbar geschnitzten Eichentüre blieb der Mönch stehen und klopfte leise an.

Arnold Amaury öffnete eigenhändig die Türe.

Er trug einen schlichten, weißen Habit mit schwarzem Scapulier.

Sein teigiges Gesicht war gerötet vom Wein, den er getrunken hatte, während er ungeduldig auf seinen Besucher wartete.

»Ich brauche dich nicht mehr«, sagte er an den Mönch gewandt, ohne diesen weiter zu beachten. Der Mönch wandte sich daraufhin gehorsam um und war nach wenigen Augenblicken in der Dunkelheit verschwunden.

Mit einem raschen Blick musterte der Abt Simon von Montfort.

Der Graf war selbst in der schlichten Mönchskutte eine imposante Erscheinung. Seine Haltung strahlte Selbstvertrauen und eiserne Entschlossenheit aus. Obwohl er bereits weit über fünfzig war, konnte der Abt in den wohlgefälligen, markanten Gesichtszügen kein Anzeichen von Müdigkeit erkennen. Neun Jahre lang hatte Montfort einen gnadenlosen Kreuzzug geführt. Dieser Mann war es gewohnt zu befehlen. Er würde niemals aufgeben, bevor er sein Ziel nicht erreicht hatte. Die kalten, dunklen Augen des Grafen bohrten sich in die von Arnold Amaury. Der musste unwillkürlich an die Berichte denken, die er über seinen Besucher eingeholt, aber als Schauermärchen abgetan hatte. Nun war er sich jedoch nicht mehr so sicher, ob sie nicht doch der Wahrheit entsprachen.

... Der Feldherr selbst hat den Befehl erteilt, die abgeschnittenen Köpfe und Gliedmaßen der gefangenen Sarazenen als Wurfgeschosse für unsere Kriegsmaschinen zu benutzen, um den Feind zu erschrecken. Nachdem die Stadt endlich gefallen war, gab es ein sehr unterhaltsames Spektakel. Niemand konnte dem Tod entgehen. Schon bald war die Erde mit Blut getränkt, und die in Stücke gehauenen Leiber der Türken verstopften sogar das Aquädukt, das Wasser in die Stadt hineinführt. Den Frauen und Kindern aber fügte der Feldherr kein Leid zu, außer dem, sie auf Lanzen aufzuspießen.

Obwohl Arnold Amaury sich mehrmals räusperte, gelang es ihm nicht, den Kloß in seiner Kehle loszuwerden.

»Ich hoffe, Ihr hattet nicht zu viele Unannehmlichkeiten auf Eurer Reise?«, stieß er heiser hervor.

»Es war nicht der Rede wert«, erwiderte Simon von Montfort knapp.

Arnold Amaury führte seinen Besucher zu den Stühlen am Kamin, in dem ein helles Feuer loderte und eine warme Atmosphäre verbreitete.

Die kunstvoll geschnitzten breiten Stühle waren mit weichen Decken und Kissen für die hohen Besucher ausgelegt. Teure Kerzen aus Bienenwachs erhellten zusätzlich den Raum. Arnold Amaury liebte ihren feinen Duft, der sich wohltuend von dem stinkender Rindertalgkerzen und ewig rußender Öllampen unterschied.

Simon von Montfort warf seinen Umhang achtlos über die Lehne eines Stuhls, bevor er sich setzte. Der Abt reichte ihm einen Becher Wein.

»Eure Nachricht klang recht geheimnisvoll«, kam der Graf sofort zur Sache. Er hasste es, lange um eine Sache herumzureden, und jegliches diplomatische Getue war ihm ein Gräuel.

In die schläfrig dreinblickenden Augen Arnold Amaurys trat ein lauernder Ausdruck, als er sich leicht nach vorne beugte. Sein blässliches Gesicht mit dem breiten Kinn verriet, dass er sich in den letzten Wochen mehr in seiner Kammer als an der frischen Luft aufgehalten hatte. Etwas Düsteres ging von ihm aus, das durch die schweren Tränensäcke unter seinen Augen noch verstärkt wurde. Simon von Montfort beschloss, auf jeden Fall vorsichtig zu sein.

Arnold Amaury war überzeugt davon, dass der Graf der richtige Mann für seine Pläne war. Simon von Montfort galt der Kirche als pflichtgetreuer Christ und war außerdem der beste Feldherr, den man sich wünschen konnte.

Seine Hände wurden feucht vor Aufregung. Er räusperte sich noch einmal, um Zeit zu gewinnen, während er bei sich dachte:

Herr, wenn du es nicht geschehen lassen willst, lähme meine Zunge und meinen Atem und bewirke, dass ich nicht mehr sprechen kann.

Simon von Montfort beobachtete ihn. Seinen kalten Augen entging weder die Aufregung noch das Zögern des Abtes. Ein leises Lächeln spielte um seine schmalen Lippen. Der Abt schien hochfliegende Pläne zu haben, für die er seine Hilfe brauchte. Gespannt wartete er auf das, was Arnold Amaury ihm zu sagen hatte.

»Der Heilige Vater hat mich bevollmächtigt, gegen die Ungläubigen vorzugehen und der Häresie in Okzitanien ein für alle Mal ein Ende zu bereiten.« Seine Worte klangen stolz. Doch es war zu spät, um sie zurückzunehmen. Beschämt bat der Abt Gott insgeheim um Vergebung und flehte ihn nochmals an, seine Zunge zu lähmen, sollte er gegen seinen Willen sprechen.

Er fühlte sich unwohl unter dem scharfen Blick des Grafen, der ihn keinen Augenblick aus den Augen ließ und dessen unbewegte Gesichtszüge nicht im Mindesten erahnen ließen, was in seinem Kopf vorging.

Nervös fuhr er sich mit der Zungenspitze über die trockenen Lippen.

»Leider gibt es da ein Problem, für das wir eine Lösung finden müssen.«

Der Versuch des Abtes, ihn schon jetzt in seine Pläne mit einzubeziehen, belustigte Simon von Montfort, aber er ließ sich nichts anmerken. Mit unbewegtem Gesicht wartete er darauf, dass dieser fortfuhr.

»Die Fürsten und Grafen des Südens, allen voran der treulose Graf von Toulouse, der die Kirche schon einmal verraten hat, halten schützend ihre Hände über die Ketzer. Man könnte fast glauben, dass sie mittlerweile selbst zu Ketzern geworden sind.«

Das war eine schwere Anschuldigung. Montforts Gesichtszüge verhärteten sich, doch er schwieg beharrlich.

Arnold Amaury zögerte ein letztes Mal, dann holte er tief Luft und fuhr entschlossen fort.

»König Philipp August hält es bisher nicht für nötig, mit seinen Truppen einzugreifen, doch ohne die Truppen des Königs haben wir keine Chance, erfolgreich gegen diese Pestilenz des katholischen Glaubens vorzugehen. Die zuletzt vom Papst beauftragten Legaten mussten unverrichteter Dinge wieder zurückkehren und befinden sich nun auf dem Weg nach Montpellier.«

Amaury griff nach seinem Becher und leerte ihn in einem Zug. Ein Ausdruck von Verschlagenheit huschte über sein blasses Gesicht, als er fortfuhr.

»In dieser ausweglosen Situation ersuche ich Euch um Euren Rat. Man hat mir berichtet, dass Ihr sehr erfahren in der Kriegskunst seid.«

Erwartungsvoll sah er den Grafen an.

Simon von Montfort brauchte nicht lange, um zu verstehen, was der Abt von ihm erwartete, und er war sich sicher, dass dieser schon längst einen Plan hatte. Warum sonst hätte er ihn bei Nacht und Nebel in die Abtei gebeten?

Sein Mund verzog sich spöttisch.

Dieser hinterhältige Abt hatte vor, ihn zu benutzen, um sich nicht selbst mit einer schmutzigen Tat belasten zu müssen!

Amaury brauchte die Truppen des Königs für seinen Kampf gegen die Ketzer, und aus diesem Grund suchte er nach einem Anlass für einen Krieg. Alles, was es dazu brauchte, hatte er ihm in wenigen Sätzen geliefert. Die Figuren auf seinem Schachbrett waren der Graf von Toulouse und die Legaten des Papstes. Wenn Amaurys Plan aufginge, weil er, Montfort, ihm dabei half, würde ihm der Abt im Gegenzug vermutlich die Ländereien Raimunds VI. anbieten, die nicht zu verachten waren.

Der sich anschließende Krieg würde dann im Namen des Kreuzes stattfinden und für Amaury kein Risiko darstellen. Das Angebot war verlockend, und obwohl ihm der Abt für einen Mann Gottes ein wenig zu ehrgeizig war, sah er keinen Grund es abzulehnen.

»Wenn ich Euch richtig verstanden habe, wäre Euch ein Anlass für einen Krieg nicht unwillkommen, und Ihr erwartet von mir, dass ich Euch zu diesem verhelfe?«, fragte er unvermittelt.

Im ersten Moment war Arnold Amaury schockiert. Die direkte Art des Grafen war fast schon unverschämt. Ärger stieg in ihm auf, doch schnell hatte er sich wieder in der Gewalt, und es gelang ihm sogar ein dünnes Lächeln.

»Ich sehe, Ihr habt mich verstanden«, sagte er bedächtig und war insgeheim erleichtert darüber, dass das Gespräch so glatt verlief.

»Die Ländereien des Grafen von Toulouse sind fruchtbar und reich und werden erst der Anfang sein. Jeder dieser hohen Herren, der uns seine Unterstützung verweigert, wird enteignet werden.« Er legte eine kurze Pause ein, um dem Grafen Zeit zu geben, die volle Tragweite seiner Worte zu erfassen.

»Wie könnt Ihr so sicher sein, dass der von Euch beschlossene Kreuzzug tatsächlich Gottes Wille ist?«, warf dieser da auf einmal ein. Arnold Amaury erschrak. War es möglich, dass er sich in Simon von Montfort getäuscht hatte? Oder waren ihm die Ländereien des Grafen von Toulouse etwa nicht genug?

Die Miene des Grafen wirkte ernst, und Arnold Amaury begriff, dass es ihm nicht um noch mehr Land ging, sondern um sein Seelenheil.

»Der Heilige Vater hat jedem Kreuzfahrer, der gegen die Ketzer im Süden zieht, die Absolution all seiner Sünden zugesagt sowie die sofortige Aufnahme ins Paradies«, erklärte er rasch.

»Damit habt Ihr meine Frage nicht beantwortet.«

»Der Papst hat den Kreuzzug beschlossen, ich bin nur sein Diener«, sagte Arnold Amaury bescheiden und hoffte, dass Simon von Montfort sich damit zufriedengeben würde.

Doch anstelle einer Antwort zog Simon von Montfort einen abgegriffenen Psalter aus seiner Beuteltasche, öffnete ihn aufs Geratewohl und reichte ihn dann Arnold Amaury. »Wenn es der Wille des Herrn ist, dass ich diesen Kreuzzug führe, so möchte ich es von Ihm selbst hören. Würdet Ihr mir wohl diesen Psalm übersetzen?«

Arnold Amaury tat, wie ihm geheißen, und beugte sich über das Buch. Simon Montfort hatte, Zufall oder nicht, den einundneunzigsten Psalm des Alten Testaments aufgeschlagen.

»Denn er hat seinen Engeln befohlen«, begann der Abt vorzutragen, »dass sie dich behüten auf allen deinen Wegen, dass sie dich auf Händen tragen und du deinen Fuß nicht an einen Stein stoßest. Auf Löwen und Ottern wirst du gehen und treten auf junge Löwen und Drachen. Er begehrt mein, so will ich ihm aushelfen; er kennt meinen Namen, darum will ich ihn schützen. Ich will ihn herausreißen und zu Ehren bringen.«

So lautete der Psalm, den Simon von Montforts Finger aufgeschlagen hatten.

Die beiden Männer sahen sich an. Der eine ergriffen von den Worten des Herrn, der andere triumphierend.

Simon von Montfort nickte bedächtig. In seinen kalten Augen glitzerten Tränen der Rührung, und Arnold Amaury wusste, dass er gewonnen hatte. Er begleitete Simon von Montfort zur Tür.

»Es wäre besser, wenn man uns vorerst nicht miteinander in Verbindung bringt. Ich bin davon überzeugt, dass Ihr das Richtige tun werdet. Der Segen des Herrn ist Euch gewiss.«

Dieser Abt ist verschlagen und hinterhältig, dachte Simon von Montfort, als er sich vor dem Kloster wieder auf sein Pferd schwang. Er würde seine Hände in Unschuld waschen, während er selbst eine schwere Sünde auf sich laden würde. Geschickt hatte der Abt seine Worte gewählt, sodass sie nur im Raum gestanden und nicht wirklich greifbar gewesen waren. Da war ihm ein ehrlicher Kampf mit dem Schwert doch weit lieber als diese Art von Gespräch, bei dem das, was tatsächlich gemeint war, nicht ausgesprochen wurde.

Er überlegte, ob es eine Todsünde wäre, einen Gesandten des Papstes zu töten, um dadurch einen Krieg herbeizuführen, und kam zu dem Schluss, dass es so verwerflich nicht sein konnte, wenn selbst der Papst es für notwendig hielt, das Land von den Ketzern zu befreien und die Menschen in den heiligen Schoß der Mutter Kirche zurückzuführen.

Er setzte sich im Sattel zurecht, gab Guido ein kurzes Zeichen mit der Hand und trieb dann sein Pferd zu einem flotten Trab an. Der Gedanke, noch einmal an einem Kreuzzug teilzunehmen, gefiel ihm. Er war neunundfünfzig Jahre alt und hatte nicht vor, sein Leben als sabbernder Greis in einem weichen Bett zu beenden. Noch mehr gefiel ihm allerdings die Aussicht auf die Ländereien des Grafen von Toulouse, die ihn zum mächtigsten Vasallen der französischen Krone machen würden.

Guido, der erleichtert darüber war, dass sein Herr so schnell wieder zurück war, folgte ihm mit einer Pferdelänge Abstand. Er hatte schon befürchtet, die ganze Nacht im Freien verbringen zu müssen.

Er konnte nicht ahnen, dass in dieser Nacht das Schicksal von Frankreichs Süden endgültig besiegelt worden war.

Dicke, graue Wolken bedeckten den Himmel, als Peter von Castelnau mit seinen beiden Begleitern eine Woche später Saint-Gilles verließ. Er hatte den Graf von Toulouse in die Knie gezwungen und somit seinen Auftrag erfüllt. Der Heilige Vater würde stolz auf ihn sein.

Die beiden Männer an seiner Seite, Bruder Raoul und Ritter Albert, wagten es nicht, ihn in seinen Gedanken zu stören. Schweigend ritten sie neben ihm her.

Raimund VI. war ein Verräter, über den der Papst zu Recht das zweite Mal den Bann geschleudert hatte. Dreist hatte er versucht, ihn zu benutzen, um in den Schoß der Kirche zurückkriechen zu können und in ihrem Schutz weiter seine intriganten Pläne zu schmieden, die allesamt darauf abzielten, der Kurie zu schaden und die Ketzer weiterhin heimlich zu unterstützen.

Aber er, Peter von Castelnau, hatte sich nicht blenden lassen von dem prunkvollen Festmahl und dem Glanz am Hof des Grafen, sondern ihn öffentlich angeprangert. Vor dem Herrn waren alle Sünder gleich, ob sie nun einen Grafentitel trugen oder nicht.

Ritter Albert griff fester in die Zügel seines Pferdes, sodass es aus dem Trab zum Stehen kam. Er richtete sich im Sattel auf, um besser sehen zu können. Als Bruder Raoul sein Pferd daraufhin ebenfalls anhielt, blieb auch das von Peter von Castelnau stehen.

Vor ihnen lag der Fluss. Eine schmale Holzbrücke war die einzige Möglichkeit, ihn zu überqueren.

»Was sind das für Leute auf der anderen Seite der Brücke? Sie scheinen den Übergang zu blockieren. Das kann nichts Gutes bedeuten«, sagte Albert beunruhigt, immerhin war er für den Schutz der beiden päpstlichen Legaten verantwortlich. Er dachte an die vielen Räuberbanden, die mordend und plündernd durchs Land zogen, immer auf der Suche nach wehrlosen Opfern.

Darüber verärgert, dass man ihn in seinen Gedanken gestört hatte, blickte Peter von Castelnau auf.

»Einfaches Volk, um das wir uns nicht zu kümmern brauchen«, sagte er scharf.

Unbesorgt drückte er seinem Pferd die Fersen in die Flanken und trieb es direkt auf die Brücke zu. Die Pferde seiner Begleiter passten sich seinem Tempo an.

»Ich weiß nicht«, gab Albert zu bedenken. »Sie sind bewaffnet, und es sieht für mich ganz danach aus, als würden sie uns absichtlich den Weg versperren. Vielleicht wäre es besser umzukehren?«, schlug er besorgt vor.

»Warum sollte ich das tun? Niemand hat es bisher gewagt, mir unehrerbietig entgegenzutreten. Ich bin im Auftrag des Heiligen Vaters unterwegs«, erklärte Peter von Castelnau voller Hochmut. Stolz aufgerichtet ritt er weiter.

»Gebt sofort den Weg frei«, schnauzte er die Männer an, die ihm mit finsteren Mienen entgegensahen. Sie sahen wild und verwahrlost aus und waren mit Lanzen und Schwertern bewaffnet.

Alberts Sorge wuchs, als er in ihnen die gefürchteten Routiers erkannte, spanische Söldner, die sich jedem Herrn verdingten, solange er sie anständig bezahlte.

»Wir sollten unseren Pferden die Sporen geben und nach einer anderen Möglichkeit suchen, den Fluss zu überqueren«, schlug er noch einmal vor.

»Den Teufel werden wir tun«, erwiderte Peter von Castelnau mit Nachdruck.

Er wandte sich an den offensichtlichen Anführer der Gruppe, einen finster aussehenden, grobschlächtigen Kerl mit zusammengewachsenen Augenbrauen und langem, schwarzem Bart.

»Ihr wisst nicht, mit wem ihr es zu tun habt«, sagte er überheblich. »Wenn ihr nicht auf der Stelle den Weg freigebt, werdet ihr es bereuen«, drohte er.

Statt einer Antwort zog der Mann sein Schwert. Er schien von Castelnaus forschem Auftreten nicht im Geringsten beeindruckt zu sein.

»Und mit wem haben wir es zu tun?«, fragte er, wobei ein hämischer Ausdruck in sein Gesicht trat.

»Ich bin päpstlicher Legat und in einem wichtigen Auftrag des Heiligen Vaters unterwegs«, erwiderte Peter von Castelnau, ärgerlich darüber, auch noch eine Erklärung abgeben zu müssen. »Und jetzt gebt endlich den Weg frei.«

Er machte Anstalten, den Mann einfach über den Haufen zu reiten, als einer der hinteren Routiers blitzschnell seinen Speer warf.

Der Speer traf Peter von Castelnau mitten in die Brust und durchbohrte sie. Ein Blutschwall schoss aus seinem Mund. Seine vor Schreck weit aufgerissenen Augen brachen sofort, und lautlos kippte er vornüber vom Pferd. Noch bevor Albert sein Schwert ziehen konnte, hatten ihn die Routiers schon erreicht, rissen ihm die Zügel aus der Hand und zerrten ihn vom Pferd. Bruder Raoul versuchte noch, sein Pferd zu wenden, um zu fliehen, doch auch für ihn gab es kein Entkommen.

»Der Gesandte des Papstes, Peter von Castelnau, ist ermordet aufgefunden worden.«

Der Graf von Toulouse ließ seine Feder sinken und sah auf. Er war gerade dabei gewesen, einen Brief an seinen Schwager, Peter von Aragon, zu schreiben, als Gordon von Longchamp in sein Schreibzimmer gekommen war, in das er sich immer häufiger ohne seine Schreiber zurückzog. Er hatte Zeit gewonnen, aber er ahnte, dass die Kirche keine Ruhe geben würde, solange er nicht das tat, was sie von ihm verlangte. Doch selbst wenn er gewollt hätte, wäre es ihm unmöglich gewesen, alle Katharer und Juden aus dem Land zu jagen. So gut wie jede südfranzösische Familie unterhielt verwandtschaftliche oder wirtschaftliche Beziehungen mit ihnen, die nicht so einfach aufgelöst werden konnten. So viele Dinge mussten im Vorfeld geregelt werden, für die er keine Zeugen gebrauchen konnte. Bündnisse mussten geschlossen, Fehden beigelegt, Vermögenswerte in Sicherheit gebracht werden.

Seine Augen verengten sich, und eine steile Falte erschien auf seiner hohen Stirn. »Wie ist das geschehen?«, fragte er.

»Etwas Genaues weiß man nicht«, erklärte Gordon, »aber es gibt Gerüchte.«

Raimund nickte. Sein Blick war nachdenklich geworden.

»Gerüchte, die besagen, dass wir etwas mit dem Mord zu tun haben«, meinte er dann. Es war mehr eine Feststellung denn eine Frage.

Gordon nickte.

»Die Kurie wird den Mord an einem ihrer Gesandten nicht ungesühnt lassen.« Noch während Raimund sprach, keimte ein furchtbarer Verdacht in ihm auf.

»Nach diesem Mord, der uns angelastet wird, kann der König dem Papst seine Truppen nicht länger verweigern, und die Kirche kann endlich den von ihr so heiß ersehnten Kreuzzug gegen uns beginnen.« Gordon schwieg. Er wusste, dass der Graf nur laut dachte.

Raimund von Toulouse hielt es nicht länger auf seinem Stuhl. Unruhig begann er, in dem länglichen Raum auf und ab zu gehen.

»Es spielt keine Rolle, wer die wahren Mörder sind. Die Kirche hat mit der Ermordung Peter Castelnaus einen neuen Märtyrer und damit einen Grund für einen Feldzug. Es war alles vergebens. Ich habe mich erniedrigt und einen Meineid geleistet, weil ich meinem Land einen weiteren Krieg ersparen wollte, dabei hätte ich wissen müssen, dass die Kurie nicht eher Ruhe gibt, als dass sie ihr Ziel erreicht hat. Und dieses Ziel ist es, jeden, der etwas anderes denkt oder glaubt, als sie gestattet, zu vernichten.«

Er blieb stehen und fuhr sich mit der Hand über die Stirn, der Ausdruck in seinem Gesicht war schrecklich. Ein kalter Schauer lief Gordon über den Rücken. Noch nie zuvor hatte er den Grafen von Toulouse so verzweifelt gesehen. Ihre Blicke trafen sich.

»Wenn wir nicht alles verlieren wollen, was wir besitzen, und zudem noch unsere Freiheit, werden wir den Papst in Rom von unserer Unschuld überzeugen müssen. Aber wenn sich mein Verdacht bestätigt und der Tod Peter von Castelnaus kein zufälliger, sondern ein von ganz oben gewollter war, dann gnade uns Gott.«

Papst Innozenz, der im Jahre elfhundertsechzig als Sohn des Grafen Trasimondo Conti und der Claricia Scotti zwei Tagesreisen südöstlich von Rom geboren worden war und Lotario di Segni geheißen hatte, bevor er zum Papst gewählt worden war, betrachtete sich nicht nur als Stellvertreter Petri, sondern auch als Statthalter Christi auf Erden, wie er sofort nach seinem Amtsantritt deutlich gemacht hatte. »Der Papst jedoch ist geringer als Gott, aber größer als der Mensch«, hatte er den erstaunten Kardinälen bei seiner ersten Ansprache verkündet und sich entschlossen auf seine neuen Aufgaben gestürzt, deren vordringlichste für ihn die Machterweiterung der Kirche und die Vernichtung jeglicher Häresie waren.

Der päpstliche Audienzsaal hatte die Ausmaße einer Kathedrale. Der mächtige Wandteppich, der in silberner und goldener Stickerei die Einschiffung des dritten Kreuzzugs wiedergab und die Blicke der Besucher auf sich zog, stammte noch von einem seiner Vorgänger, ebenso wie der in Gold und Purpur gehaltene, prunkvolle Sessel, über dem sein Wappen – ein Blitze schleudernder Adler – prangte. Innozenz hatte gerade auf ihm Platz genommen, als der Hauptmann seiner Garde, gefolgt von einem Boten, eilig den Saal durchquerte. Der Mann war erschöpft, sein Umhang verdreckt. Er konnte sich kaum noch auf den Beinen halten, die offensichtlich steif von dem langen Ritt waren, und hatte Mühe, dem Hauptmann zu folgen.

»Heiliger Vater, bitte verzeiht unser ungebührliches Eindringen, aber der Bote hat behauptet, der Abt Arnold Amaury habe ihn geschickt und seine Nachricht wäre von allerhöchster Dringlichkeit und nur für Euch persönlich bestimmt«, erklärte der Hauptmann der Garde und verbeugte sich ehrerbietig. Wie alle Bewohner des Vatikans wusste auch er, dass der Papst nichts mehr verabscheute als Schmutz und Gestank.

Doch Innozenz III. ließ sich seinen Ärger über den Mann, der es wagte, ungewaschen und in schmutzigen Kleidern vor ihn zu treten, nicht anmerken.

»Er möge sagen, was er zu sagen hat«, erklärte er. »Aber er soll sich beeilen.« Der Hauptmann gab dem Boten daraufhin das Zeichen zu sprechen, trat dann hinter ihn zurück und beobachtete, die Hand am Schwert, jede seiner Bewegungen.

»Nun redet endlich«, zischte er dem Boten nach einer Weile zu. »Und gnade Euch Gott, wenn Ihr gelogen habt.«

Der Bote straffte den Rücken und hob an: »Ich bringe schlechte Nachrichten, Eure Heiligkeit. Der päpstliche Legat Peter von Castelnau und seine beiden Begleiter sind auf ihrer Reise nach Montpellier heimtückisch ermordet worden«, verkündete er und sah dem Papst vorsichtig in die Augen. Papst Innozenz’ schmale Augenbrauen hoben sich unmerklich. Doch sonst war ihm in keiner Weise anzusehen, was er fühlte oder dachte. Kühl blickte er auf den Boten hinab.

»Weiß man schon, wer dieses schändliche Verbrechen begangen hat?«, fragte er.

»Einer der Begleiter Eures Legaten hat noch gelebt, als man ihn gefunden hat. Er hat gesagt, er hätte das Wappen des Grafen von Toulouse auf den Waffenröcken der Mörder wiedererkannt.«

Papst Innozenz atmete hörbar aus. Er spürte, dass etwas in Bewegung geraten war, was nicht mehr aufzuhalten war, und kämpfte die aufsteigende Erregung nieder.

»Weiß man, wer dieser Begleiter war?«

»Er hat gesagt, sein Name wäre Bruder Raoul, aber es gibt noch einen weiteren Zeugen, der seine Worte bestätigt hat. Ein Bauer aus der Gegend ist von einem Trupp bewaffneter Reiter beinahe über den Haufen geritten worden und hat berichtet, dass es die Männer des Grafen von Toulouse waren. Er war sich ganz sicher.«

Papst Innozenz hatte in wenigen Augenblicken seine Entscheidung getroffen und wandte sich an den anwesenden Schreiber. »Entlohnt den Boten und sagt die Audienz für heute ab. Dann lasst die Glocken in ganz Rom läuten und Messen für die Seelen unserer verstorbenen Brüder lesen. Jeder Priester im Land soll die Gläubigen aufrufen, das Kreuz zu nehmen, um der Herrschaft des Bösen endlich ein Ende zu setzen.« Er senkte seine Stimme und fügte leiser hinzu: »In der Hölle gibt es keine Erlösung.«

Sein Blick wanderte zu dem Wandbehang, der ihn ständig daran erinnerte, dass der von ihm ausgerufene vierte Kreuzzug das Heilige Land nie erreicht hatte. Von diesem Kreuzzug würde es keinen Wandbehang geben, der späteren Generationen seine ruhmreichen Taten verkündete. Es war ein Fehler gewesen, sich mit den Venezianern einzulassen, die für ihre Vertragsbrüchigkeit bekannt waren. Als Gegenleistung für den Schiffstransport der Kreuzfahrer hatte die Republik Venedig verlangt, dass sie das Heer auch für ihre eigenen Interessen einsetzen konnte, und obwohl er die Kreuzfahrer eindringlich davor gewarnt hatte, Christen in anderen Ländern anzugreifen, waren sie, aufgehetzt durch die Venezianer, über Zara und Konstantinopel, den größten Handelsrivalen Venedigs, hergefallen und hatten ein Blutbad unter der Bevölkerung angerichtet. Simon von Montfort hätte die Plünderung vielleicht verhindern können, aber er hatte sich geweigert, die Venezianer bei ihrem schändlichen Vorhaben zu unterstützen, und war mit einigen Gleichgesinnten nach Syrien weitergereist.

Innozenz drängte die Gedanken an die damaligen Ereignisse zurück. Der missglückte Kreuzzug hatte sowohl seinem als auch dem Ansehen der Kirche schwer geschadet, aber er war fest entschlossen, die Kirche wieder aufzurichten und ihre Macht zu festigen.

Immerhin hatte er Arnold Amaury richtig eingeschätzt. Und auch wenn er die Einzelheiten, die zu Peter von Castelnaus Ermordung geführt hatten, nicht kannte, worauf er im Übrigen auch keinen großen Wert legte, zeugte diese Tat einmal mehr von der Verdorbenheit der Menschen, die nicht einmal vor dem Klerus haltmachte. Er hatte wahrhaftig nicht übertrieben, als er in seinem vor Kurzem fertiggestellten Werk »Über den elenden Zustand des Menschen« geschrieben hatte: »... aus Erde geformt, ist der Mensch empfangen in Schuld und geboren zur Pein. Er handelt schlecht, gleichwohl es ihm verboten ist, er verübt Schändliches, das sich nicht geziemt, und setzt seine Hoffnung auf eitle Dinge. Er endet als Raub der Flammen, als Speise der Würmer, oder er vermodert. Aus ihm kommt nur Schleim, Urin und Kot, und er hinterlässt einen abscheulichen Gestank.«

Gott der Herr hatte ihn auserwählt, um dieses Elend zu beenden! In dieser Gewissheit verließ er den Audienzsaal, befahl seine Schreiber zu sich und verhängte zum dritten Mal den Bann über Raimund VI. von Toulouse sowie über die unbekannten Mörder und alle Mitschuldigen. An jedem Sonntag sollten sie fortan in allen Kirchen des Abendlandes mit Glocke, Buch und Kerze aufs Neue exkommuniziert werden. Gleichzeitig sprach er die Vasallen des Grafen von Toulouse von ihrem Eid los. Der Graf selbst, diktierte Innozenz, dürfe erst dann wieder auf Verzeihung hoffen, wenn er seine Reue mit der Verjagung aller Ketzer aus seinem Land bewiesen habe oder aber selbst an dem Kreuzzug gegen diese teilnähme und die Kirche nicht nur mit Worten, sondern endlich auch mit Taten unterstütze.

Anschließend forderte er König Philipp August auf, nicht länger zu zaudern, rief die gesamte Christenheit zu den Waffen und befahl seinen Bischöfen, Raimund VI. aus Toulouse zu verjagen, falls er der Kirche seine Unterstützung verweigerte. Danach sollten sie seine häretischen Untergebenen vom Erdboden tilgen und durch Katholiken ersetzen.

Arnold Amaury wurde zu Papst Innozenz’ eifrigstem Diener. Mit seinen Ordensbrüdern durchkämmte er das Land, und viele Menschen aus dem Norden Frankreichs folgten seinem Aufruf zum Kreuzzug, der ihnen himmlischen Lohn und reiche Beute versprach. Die Kirchen im Norden von Frankreich, in Deutschland und in Burgund hallten wider von den Predigten, in denen alle Katholiken aufgefordert wurden, für die Sache Gottes zu den Waffen zu greifen. »Jeder noch so große Sünder, der vierzig Tage lang gegen die Ketzer kämpft, wird den Qualen der Hölle entgehen und ewige Seligkeit erlangen.«

Der Graf von Toulouse setzte ein Schreiben auf, in dem er Papst Innozenz III. versicherte, nichts mit dem Mord an Peter von Castelnau zu tun zu haben. Die erneute Exkommunikation, fügte er hinzu, sei deshalb ein großes Unrecht. Er siegelte den Brief und schickte seinen schnellsten Boten damit nach Rom.

Die Antwort des Papstes war kühl und knapp. Er verlangte von Raimund, seinen Gehorsam und seinen guten Willen zu beweisen, indem er der Kirche sieben seiner stärksten Festungen übergäbe. Sollte er dann zusätzlich noch seine Unschuld beweisen können, wolle er ihn anhören und vom Banne lossprechen.

Raimund ahnte, dass er den bevorstehenden Kreuzzug nicht mehr verhindern und den Schaden nur noch in Grenzen halten konnte, indem er den Forderungen des Papstes nachgab und selbst das Kreuz nahm. Vierzig Tage lang, so hatte es die Kirche allen Kreuzfahrern versichert. Vierzig Tage, in denen sich jeder das ewige Leben erkämpfen und, mit reicher Beute beladen, wieder nach Hause zurückkehren konnte. Vierzig Tage, in denen Katharer und Juden sich aus dem öffentlichen Leben zurückziehen und er die Kirche davon überzeugen musste, ein guter Christ zu sein.

Vierzig Tage waren eine überschaubare Zeit.

Er hatte seinen Neffen Roger von Trencavel zu sich rufen lassen, um sich noch einmal mit ihm zu besprechen und ihn gleichzeitig davon zu überzeugen, dass alle Fürsten des Südens der Kirche keine weitere Angriffsfläche mehr bieten durften. Und noch weniger dem König von Frankreich, der dem Papst, nun, da der Kreuzzug unmittelbar bevorstand, seine Truppen nicht länger verweigern würde, zumal er die territoriale Hoheit über den Süden Frankreichs ganz sicher nicht der Kirche überlassen wollte.

Raimund wurde in seinen Gedanken unterbrochen, als die Türe zu seinem Arbeitszimmer mit einem Schlag aufflog und Roger von Trencavel hereinkam. Er war von gleich hohem Wuchs wie sein Onkel und wirkte nicht weniger kraftvoll als dieser, obwohl er schmaler gebaut war. Die Luft schien beim Eintritt des jungen Vicomte in Bewegung geraten zu sein, eine Art Wirbelsturm seine Schritte zu begleiten. Er war erhitzt von dem scharfen Ritt, sein längliches Gesicht gerötet.

»Ihr habt mich rufen lassen, Onkel?«

»Die Antwort aus Rom ist da.«

Rogers etwas zu eng beieinanderstehende graue Augen musterten Raimund misstrauisch. »Und was lässt der Heilige Vater uns armen Sündern mitteilen?« Er machte keinen Hehl aus seiner Abneigung gegen das Oberhaupt der katholischen Kirche. Raimund seufzte. Sein Neffe war nach dem Tod seines Vaters unter der Obhut von dessen Vasallen Bernhard von Saissac aufgewachsen, der sich selbst als Schutzherr aller Katharer bezeichnete.

Zudem war Roger jung und ungestüm und nicht bereit, Kompromisse einzugehen. Es würde schwer werden, ihn zu überzeugen.

Er reichte ihm das päpstliche Schreiben und verfolgte, wie die Augen seines Neffen über die wenigen Zeilen huschten.

»Ich kann nicht glauben, dass Ihr Euch auf einen solchen Handel einlassen wollt, Onkel«, platzte Roger heraus, nachdem er den Brief gelesen hatte, und schüttelte ungläubig den Kopf, als er darauf keine Antwort erhielt. Er warf einen feindseligen Blick auf das päpstliche Siegel. Eine Unterwerfung kam für ihn nicht in Frage, und er konnte nicht begreifen, dass ausgerechnet sein Onkel, der mächtigste der Fürsten und Grafen im Süden Frankreichs, dem Druck der Kirche nachgeben wollte. Einen falschen Eid zu schwören war schon schlimm genug, aber sieben Festungen zu übergeben, die sie im Falle eines Krieges dringend benötigen würden, war einfach zu viel des Guten. Roger von Trencavel, seine Gemahlin und seine Schwester gehörten ebenso zu den Guten Christen wie der überwiegende Teil seiner Vasallen und Ritter. Für ihn gab es keine Entscheidung, die er zu treffen hatte, und Raimund beneidete ihn heimlich darum.

Der Graf nahm das Pergament wieder entgegen und beobachtete seinen Neffen dann aus den Augenwinkeln.

Der junge Vicomte marschierte sichtlich erregt auf und ab. Seine grauen Augen funkelten, und die Glieder seines Kettenhemdes rieben bei jeder Bewegung leise schnarrend aneinander.

»Unsere Burgen sind uneinnehmbar, und meine Truppen stehen bereit, jeden zu vernichten, der es wagt, uns anzugreifen. Wenn wir uns alle zusammenschließen, können wir das Heer des Königs abwehren.«

Während er sprach, glitt sein Blick an seinem Onkel vorbei durch das hohe, schmale Fenster nach draußen, als könne er die Angreifer bereits in der Ferne ausmachen.

Raimund folgte unwillkürlich seinem Blick. Bilder von vergangenen Schlachten stiegen in ihm auf. Heere, die wie tosende Wellen übereinanderschlugen. Der ganze Kampf ein einziges Schreien, Hauen und Stechen. Das hämische Krächzen der Krähen, die bei keiner Schlacht fehlten. Zurück blieben Zerstörung, Wut und Leid sowie ein totes Land, das die Überlebenden nicht mehr ernährte.

Wie viele Schlachten mussten wohl noch geschlagen werden, bis die Menschen erkannten, wie sinnlos diese waren und dass man den Frieden auch ohne Schwert und Lanze erringen konnte? Durch Hochzeiten und Verträge, die keinen neuen Hass säten, der wieder nur durch Blut gestillt werden konnte.

Er fuhr sich mit der Hand über die hohe Stirn, um seine Gedanken zu sammeln. Wenn wir uns alle zusammenschließen, dachte er grimmig, und wenn uns der König von Aragon, der unser Schwager ist, beistehen würde, ja, dann hätten wir tatsächlich eine Chance. Aber das wird nicht geschehen. Er dachte an den päpstlichen Legaten, der ihm mit selbstgefälliger Miene nicht nur die Rache des Herrn im Diesseits und Jenseits angedroht hatte, so als wäre er höchstpersönlich der verlängerte Arm Gottes, sondern ihm außerdem noch verkündet hatte, er würde alle christlichen Grafen im Namen Gottes dazu auffordern, ihn aus Toulouse zu vertreiben. Eine Aufforderung, die einem Freibrief für seine Feinde, die Adligen aus Frankreichs Norden und im eigenen Land, gleichkam, welche ihn immer wieder in Fehden verstrickten und diesem Aufruf nur allzu gern Folge leisten würden.

»Wir können gegen den König von Frankreich kämpfen, aber nicht gegen die gesamte Christenheit«, sagte er bitter.

Ein Schatten glitt über Rogers Gesicht, der dem Grafen zeigte, dass seinem Neffen der Ernst der Lage sehr wohl bewusst war.

»Die Guten Christen sind unsere Freunde, und unsere Tradition gebietet uns, sie ebenso zu schützen wie jeden anderen unserer Untertanen. Verlangt Ihr etwa, dass ich meine Familie der Kirche ausliefere und mich selbst gleich mit dazu?«

Raimund sah in Rogers entschlossenes Gesicht und erkannte, dass jedes weitere Wort sinnlos war. Trotzdem unternahm er noch einen letzten Versuch, um den jungen Mann umzustimmen.

»Es ist ein Krieg, den wir nicht gewinnen können und der uns keinen Nutzen bringt. Wir können die Guten Christen, die Juden und auch unser Land besser schützen, wenn wir zum Schein auf die Bedingungen der Kirche eingehen«, sagte er beschwörend, doch seine Argumente prallten an Roger von Trencavel ab.

Ein wissender Ausdruck trat in dessen Gesicht.

»Bitte verzeiht, wenn ich Euch widerspreche, lieber Onkel, aber habt Ihr das nicht schon zwei Mal versucht, nachdem die Kirche den Bann über Euch verhängt hat? Es ist Euch schon damals nicht gelungen, sie von Eurer Aufrichtigkeit zu überzeugen, und vielleicht will die Kirche ja auch gar nicht überzeugt werden, sondern nur ihre volle Macht und vor allem ihren Zehnten zurückgewinnen. Habt Ihr darüber schon einmal nachgedacht, wo Ihr doch vorhabt, Euch ihr auf Gedeih und Verderb auszuliefern?«

Ein Hauch von Verachtung schwang in seiner Stimme mit, die Verachtung des Kriegers für die, die kampflos aufgeben wollten.

Raimund legte das Schreiben des Papstes in seine Schatulle zurück und unterdrückte seinen Ärger über die respektlosen Worte seines Neffen.

»Das habe ich, doch mir bleibt keine andere Wahl«, erklärte er schärfer als beabsichtigt, »denn ich trage die Verantwortung für dieses Land. Meine Familie hat der Kirche zeitlebens die Treue gehalten, mein Vater und mein Großvater haben sogar ihr Leben für sie gegeben. Unsere Tradition gebietet es, Andersgläubige zu respektieren, aber es ist eine Tradition, die im Norden von Frankreich ebenso wie in Deutschland und England auf Unverständnis stößt. Wir können die Guten Christen und die Juden nicht länger schützen, weil wir dazu verpflichtet sind, nicht nur einzelne Bevölkerungsgruppen, sondern das gesamte Volk zu schützen. Und aus diesem Grund müssen wir auch mit allen Mitteln verhindern, dass ein Heer plündernder Kreuzfahrer über unser Land herfällt, es verwüstet und brandschatzt. Oder glaubt Ihr wirklich, die Kreuzfahrer würden diesbezüglich einen Unterschied machen und jeden Einzelnen zuerst danach fragen, welchem Glauben er angehört, bevor sie sein Haus plündern? Wir müssen versuchen, den Schaden zu begrenzen, und irgendwie diese vierzig Tage überstehen. Selbst wenn wir dafür der Kirche unsere Burgen abtreten und das Kreuz nehmen müssen, sollten wir es tun. Weil wir nur auf diese Weise das Schlimmste von unserem Land abwenden können.«

Roger von Trencavel kniff die Augen zusammen. Ein verächtlicher Zug legte sich um seinen Mund, den er nicht zu verbergen suchte. »Ihr wollt tatsächlich gemeinsame Sache mit unseren Feinden machen?« Er schüttelte den Kopf, als könne er nicht glauben, dass sein Onkel dazu fähig sein würde.

Doch als der Graf daraufhin nur langsam nickte, wandte Roger sich brüsk von ihm ab, drehte sich dann nach einer Weile des Schweigens wieder zu ihm um und meinte: »Sie müssen an Béziers und Carcassonne vorbei, und ich werde schon dafür sorgen, dass dem König und auch dem Papst die Lust am Krieg vergeht.« Seine Gedanken schienen bereits ganz auf die bevorstehende Schlacht gerichtet zu sein.

Raimund betrachtete den kämpferischen jungen Mann, der fest entschlossen war, in einen aussichtslosen Kampf zu ziehen, ohne die weitreichenden Konsequenzen seiner Entscheidung bedacht zu haben. Es ist nicht nur die Freiheit des Glaubens, die in Gefahr ist, dachte er, sondern auch all die anderen Freiheiten, die wir uns erkämpft haben.

Ohne ein weiteres Wort der Erklärung entließ er seinen Neffen nun mit einer Handbewegung und wartete, bis sein Diener die Türe hinter Roger geschlossen hatte.

Der Graf ahnte nichts von Pater Stephans Verrat, davon, dass die Kirche sein doppeltes Spiel durchschaut hatte und dass seine Vernichtung längst beschlossene Sache war.

Obwohl er sich nicht selbst an dem bevorstehenden Kreuzzug beteiligen würde, war Philipp August zuletzt nichts anderes mehr übrig geblieben, als dem Papst, und damit Arnold Amaury, einen Teil seiner Vasallen zur Verfügung zu stellen.

Arnold Amaury dankte dem Herrn für diese glückliche Fügung des Schicksals. Er war überzeugt davon, in dessen Namen zu handeln, als er von Lyon aus an der Seite Simon de Montforts mit einem Heer von zwanzigtausend Rittern und sechzigtausend Fußsoldaten in Richtung Süden ritt.

Dichter Nebel verhüllte die schmalen, lautlos durch das Wasser gleitenden Boote, die sich zielstrebig auf die von hohem Schilf umgebene Anlegestelle in Ornolac zubewegten.

Dort angekommen stiegen mehrere Männer in langen, schwarzen Gewändern aus den Booten und schritten hintereinander den steinigen Pfad am See hinauf, bis ihnen eine undurchdringliche Mauer den Weg versperrte.

Einer von ihnen klopfte im vereinbarten Rhythmus an das massive, eisenbeschlagene Tor, das den einzigen Zugang zu der ringsum befestigten Anlage darstellte, die im Schutz eines riesigen Felsens errichtet worden war.

Der bartlose Kopf eines Wächters erschien in der schmalen Öffnung eines kleinen, im Tor eingelassenen Fensters, um zu sehen, wer zu dieser frühen Morgenstunde Einlass begehrte.

Als er die Männer erkannte, öffnete er schweigend das Tor und ließ sie ein. Über einen kurzen steinigen Weg erreichten diese die letzte Grenze der äußeren Welt, die mystische Pforte, ein hohes gemauertes Torgewölbe inmitten einer aus Natursteinen gefügten Wand, durch das nur die Eingeweihten hindurchtreten durften.

Einer der Hüter dieses Ortes erwartete sie bereits vor der Pforte, öffnete sie und führte sie über eine kleine, mit Kräutern und Blumen bewachsene Fläche einen steil ansteigenden Pfad hinauf, bis zu einem großen Platz, der mehr als zur Hälfte unter einem riesigen Felsüberhang lag. Wie eine mächtige, nach vorne hin abgebrochene Domkuppel überdachte dieser das unter ihm liegende dreistöckige Steinhaus.

Von der Westseite des Hauses führte ein gepflasterter Weg zu einer Grotte, deren eigentlicher Eingang durch eine weitere gemauerte Wand und ein schweres Holztor versperrt war. Der Hüter, der sie geführt hatte, öffnete das Tor und trat dann ehrfürchtig zur Seite, um die Vollkommenen einzulassen. Zwischen Tropfsteinen aus blütenweißem Kalk, tiefbraunem Marmor und glitzerndem Bergkristall wand sich ein von Fackeln beleuchteter Gang zwischen den Felsen hindurch und endete in einem tempelähnlichen Gewölbe mit einer vierhundert Ellen hohen Decke.

Kein Geräusch drang von der Außenwelt in das lichte Innere der Grotte.

Das Gesicht des Mannes, der dort an einer zu einem spitzen Dreieck geformten Tafel saß, lag im Schatten seiner weiten Kapuze verborgen.

Er begrüßte jeden Einzelnen der elf Eingeweihten mit einem Friedenskuss und wartete geduldig, bis ein jeder seinen Platz eingenommen hatte, dann erst erhob er seine Stimme.

»Ich, Amiel, Apostel unseres Herrn Jesu Christi nach dem Willen Gottes, dem Vater der Wahrheit, von dem ich stamme, der lebt und währt in alle Ewigkeit, der vor allem war und nach allem sein wird.

Von ihm stamme ich. Aus seinem Willen bin ich. Von ihm wurde mir alle Wahrheit offenbart. Und so bin ich aus seiner Wahrheit.

Diese Wahrheit tat ich euch, meinen treuen Weggefährten, kund. Ich habe Frieden und Hoffnung verkündet und euch den Pfad zur Höhe gewiesen.

Doch die römische Kirche ist unter der Führung des Bösen vom sanften Lamm zur reißenden Bestie geworden, die schlimmer unter den Gläubigen und den Freunden Gottes wütet als jemals zuvor.

Wir allein sind dem Tod entronnen, der keine Saat der Befreiung in sich trägt und nichts als Verwesung und Zerfall bewirkt!

Die Seele, ohne Stolz, unangesehen, unberühmt und ohne Gunst – sie gewinnt nichts in den Zeiträumen der Angst. Dieser Welt des Irrtums sind wir entronnen. Wir haben die Löwenfelle, die unsere Glieder bedeckten, von uns geworfen und ein heiliges Gewand empfangen.

Unser Leben lang sind wir nach links und rechts gelaufen und haben den Feinden nicht erlaubt, unsere Lampen zu löschen. In dem mächtigen Rennen liefen wir mit, das nur selten einer vollendet. Wir haben dieses Rennen zu einem guten Ende gebracht. Mit Jubel und Gesang kehren wir in unsere Heimat zurück. Seht, wir sind dabei, dem Körper des Todes zu entsteigen.«

Seine Stimme hatte bislang mahnend, fast schon beschwörend geklungen, doch als er jetzt fortfuhr, schwangen Trauer und Endgültigkeit in ihr mit.

Ehrfürchtige Schauer liefen den Männern über den Rücken, und jeder Einzelne von ihnen wusste, dass es von nun an kein Zurück mehr geben würde.

»Der Tröster wird die Schreckensherrschaft des Bösen überdauern, doch die Menschheit hat sich immer weiter von ihm entfernt, und bald wird niemand mehr da sein, der ihn erkennt. Wir müssen unser Vermächtnis in Sicherheit bringen, bevor wir diese Welt verlassen. Lasst uns jetzt ein letztes Mal gemeinsam das Vaterunser beten, bevor wir uns aufmachen, das zu tun, was getan werden muss.«

Ein Schatten fiel durch die niedrige Tür der Feinschmiede auf den Boden der Werkstatt und ließ Meister Priscus, den Juden, aufsehen.

Er saß in einer mit Holz verschalten, rechteckigen Grube an einem tischartigen Werkbrett. Zwischen ihm und dem Werkbrett hing ein aufgespanntes Fangleder, das die bei seiner Arbeit hinabfallenden Edelmetallspäne auffing. Trotz der unerträglichen Sommerhitze brannten Gusstiegel auf beiden Feuerstellen, die von unzähligen zerbrochenen Schmelztiegeln umgeben waren.

Meister Priscus legte die Punze, mit der er an einer Gewandspange gearbeitet hatte, neben Gänsefederkiel und Stichel ab.

Der Mann, der ihn besuchte, war kein Fremder. Priscus neigte seinen weißhaarigen Kopf zum Gruß und lächelte ihm freundlich zu.

»Setz dich, mein Freund«, forderte er ihn ruhig auf.

Nicola kam der Aufforderung nach. In der Hand hielt er eine Pergamentrolle, die er mit raschen Bewegungen vor dem Meister ausbreitete.

»Ich habe einen Auftrag für dich, der schnell erledigt werden muss.«

Meister Priscus warf einen Blick auf das Pergament und betrachtete das kleeblattförmige Kreuz, das mit Buchstaben und Symbolen versehen war, dann bohrten sich seine rot geränderten Augen in die seines Besuchers und erfassten die Dringlichkeit seines Anliegens. Er nickte zustimmend und begab sich ohne ein weiteres Wort wieder an die Arbeit.

Die Feuer, die im Süden Frankreichs brannten, kamen lautlos näher. So nah, dass die Menschen in dem einstmals glanzvollen Rhedae ihren tödlichen Geruch bereits wahrzunehmen glaubten.

Handwerker und Bauern ließen vor Furcht ihre Arbeit liegen. Die schreckliche Botschaft hatte ihre Hände gelähmt. In ihren grob gewebten, grauen Leibröcken standen sie vor ihren Stuben und Werkstätten mit vor Ohnmacht geballten Fäusten und einem hilflosen Ausdruck in den Gesichtern.

Nur allzu lebendig waren in ihnen noch die Erinnerungen an die Truppen des Königs von Aragon, der Rhedae im Jahre elfhundertundneunzig bis auf die Grundmauern zerstört hatte, nachdem die Streitigkeiten um die Stadt zwischen ihm und den Trencavels eskaliert waren. Lediglich die Zitadelle hatte seiner Zerstörungswut standgehalten.

»Alle verbrannt«, flüsterte Ludolf, der Weinbauer. Seine von der Sonne dunkel gebräunte Haut wirkte fahl. »Sie haben Béziers niedergebrannt. Männer, Frauen und Kinder, Christen, Juden und die Guten Christen, ohne jeden Unterschied.« Er strich sich mit der schwieligen Hand über den Kopf.

»Der Teufel ist in unser Land gekommen.«

»Dann kann es morgen oder übermorgen auch bei uns brennen.« Angst schwang in der rauen Stimme mit, die aussprach, was alle dachten.

»Unser junger Vicomte ist in Carcassonne, um Truppen auszuheben und die Stadt zu befestigen«, sagte Arno, der Kammschnitzer, zufrieden. Sein gutgläubiges, von Falten zerfurchtes Gesicht zeigte keinerlei Anzeichen von Besorgnis.

»Wenn er nicht bald kommt, wird es zu spät sein.« Mit hängenden Armen stand Ludolf da, ebenso ratlos wie die anderen.

Wieder einmal hatten die Mächtigen des Landes über ihr Schicksal entschieden, der Papst in Rom und der König von Frankreich, dessen Namen sie nicht einmal kannten.

»Was sollen wir tun?« Louis, der Gerber, blickte erwartungsvoll in die Gesichter der anderen Männer, um Zuversicht zu entdecken, wo keine war.

»Wir werden unsere armseligen Waffen nehmen und kämpfen, um unsere Frauen und Kinder zu verteidigen, so wie wir es immer getan haben«, erwiderte Ludolf ergeben.

»Sie werden uns töten.« Louis’ Stimme klang so hoffnungslos, wie es den Männern zumute war.

Es gab nichts weiter zu sagen. Die Männer gingen nach Hause, zu ihren Frauen und Kindern und flehten Gott an, sie zu verschonen.

Auch Rorico hatte nach seiner Rückkehr von den Weiden von den schrecklichen Ereignissen erfahren, die Schafe in ihre Pferche getrieben und war danach sofort nach Hause geeilt. Seine Mutter stand am Feuer und rührte die Gemüsesuppe um, wie sie es immer gegen Mittag tat. Aber sie sah nicht auf wie sonst, als er in die niedrige Stube trat.

»Es ist gut, dass du kommst, Großvater geht es nicht gut«, sagte sie nur. Rorico sah sich in der niedrigen Stube um. Sein Großvater lag auf seinem Strohsack neben dem Kamin, anstatt wie üblich über einer seiner Schnitzereien am Tisch zu sitzen. Seitdem er Rorico die Schafe überlassen hatte, schnitzte er Spielsteine und Würfel aus den Knochen der geschlachteten Tiere. Ihr Nachbar Arno nahm die kleinen Kunstwerke mit auf den Markt in Arques, und wenn er sie verkauft hatte, brachte er dem alten Schäfer dafür von dem guten Wein mit, der diesem die alten Knochen wärmte und die Seele beschwingte.

Der Großvater lag regungslos auf seinem Lager, und einen Moment befürchtete Rorico, er wäre schon tot. Sein Gesicht war eingefallen, seine trüben Augen lagen tief in den Augenhöhlen. Ein dünner Speichelfaden rann aus seinem offen stehenden Mund. Rorico erschrak, beugte sich über das Lager und hörte den rasselnden Atem des alten Mannes. Er zuckte zusammen, als die knochige Hand seines Großvaters ihn unvermittelt am Handgelenk packte, mit einer Kraft, die er bei dem gebrechlichen Mann nicht mehr vermutet hatte. Die trüben Augen des Alten richteten sich auf ihn, flehten ihn an. Seine Lippen bewegten sich, und Rorico beugte sich tiefer, um die mühsam geformten Worte zu verstehen.

»Es ist so weit.«

Der Schmerz traf Rorico unvermittelt und schnürte ihm die Kehle zu. Er kämpfte darum, nicht in Tränen auszubrechen, dann nickte er seinem Großvater wortlos zu und sah die Erleichterung in dessen Blick.

Rorico stürmte an seiner Mutter vorbei aus dem Haus und die enge Gasse bis zu dem Haus hinab, in dem Elysa mit ihrem Onkel wohnte. Er hämmerte gegen die Türe, öffnete sie dann einfach und trat, getrieben von der Angst, zu spät zu kommen, in den Raum. Nicola stand am Küchentisch und schnürte gerade ein Bündel, während Elysa, die neben ihm auf einem Stuhl saß und ihm dabei zuschaute, sich überrascht umwandte. Ein Lächeln huschte über ihr Gesicht, als sie ihn erkannte, aber Rorico hatte keinen Blick für sie, sondern sah an ihr vorbei zu ihrem Onkel.

»Großvater liegt im Sterben und wünscht Euren Segen«, stieß er außer Atem hervor und trat ungeduldig von einem Fuß auf den anderen.

»Wenn wir nicht zu spät kommen wollen, müssen wir uns beeilen«, drängte er. Sein Blick folgte Nicola, der wortlos von dem Bündel abließ, in eine der beiden hinteren Kammern eilte und mit einem weißen Tuch und einer Bibel in der Hand zurückkehrte. Elysa hatte sich von ihrem Platz erhoben. Ihr Onkel hatte sie noch nie mitgenommen, wenn er zu einem Sterbenden ging, aber sie wollte Rorico in seinem Kummer nicht allein lassen.

Roricos Mutter Sybille saß neben dem Strohsack, auf dem der Großvater lag, als Rorico, gefolgt von Nicola und Elysa, die Stube betrat. In der Hand hielt sie eine Schale mit Suppe. »Gott segne dich, gute Frau«, grüßte Nicola sie und nahm ihr nach einem Blick in das eingefallene Gesicht des alten Mannes die Schale aus der Hand. »Dieser gute Mann braucht andere Nahrung als diese«, erklärte er sanft und stellte die Schale auf dem Boden ab. Roricos Mutter erhob sich schwerfällig und trat zur Seite, um Nicola an das Lager des Sterbenden zu lassen. Nicola breitete das weiße Tuch über der Brust des alten Mannes aus. Er ahnte, dass ihm nur noch wenig Zeit blieb.

»Bruder, willst du unseren Glauben annehmen?« Der alte Mann war zu schwach zum Sprechen. Seine Lippen bewegten sich, aber Nicola konnte nicht verstehen, was er sagte. Schließlich gab der Sterbende den Versuch zu sprechen auf und nickte stattdessen langsam.

»Versprichst du, dich Gott und dem Evangelium zu weihen, nie zu lügen, nie zu schwören, nie eine Frau zu berühren, kein Tier zu töten, kein Fleisch zu essen, nur von Früchten zu leben und nie deinen Glauben zu verraten, auch wenn dir der Tod angedroht wird?«

Ein weiteres Nicken.

Nicola legte ihm die Bibel an die Lippen und anschließend aufs Haupt.

»Gott segne dich, mache aus dir einen guten Christen und führe dich zu einem guten Ende.« Er beugte sich über den Sterbenden, gab ihm den Friedenskuss. »Herr, lasse den heiligen und tröstenden Geist über unseren neuen Bruder kommen und ihn von deiner unendlichen Liebe kosten.« Er sah dem alten Mann in die Augen und hielt seinen Blick fest. Rorico starrte wie gebannt auf die Szene. Etwas ging zwischen seinem Großvater und Elysas Onkel vor sich, er konnte es nicht sehen und schon gar nicht begreifen. Aber in seinem Nacken kribbelte es, als würde ein Heer Ameisen darüber hinweglaufen, und ein warmes Gefühl breitete sich tief in seinem Inneren aus.

Die Augen des Alten leuchteten auf, und ein glückliches Lächeln huschte über seine Züge. Rorico hielt den Atem an. Wilde Freude erfüllte ihn. Er hatte gut daran getan, Elysas Onkel zu holen und nicht den Priester, der ohnehin die meiste Zeit über betrunken war. Ein tiefer Seufzer entrang sich der Brust seines Großvaters, dem ein letzter rasselnder Atemzug folgte.

Dann erlosch sein Blick, und Nicola drückte ihm sanft die Augen zu.

Rorico starrte seinen Großvater noch immer wie gebannt an. Er sah aus, als würde er schlafen, und es schien ein friedlicher Schlaf zu sein.

Seine Mutter nahm das kleine Holzkreuz vom Balken über der Eingangstür, legte es auf die Brust des Verstorbenen und schloss seine Hände darum.

Rorico löste sich langsam aus seiner Erstarrung. Ein Ruck ging durch seinen Körper. Er war jetzt der Mann im Haus. »Großvater hat das Kreuz nicht gewollt, Mutter, und ich habe es ihm versprochen«, sagte er fest, schob Sybille entschlossen zur Seite und zog dem Toten das Kreuz wieder aus den Händen. Dann hängte er es zurück an den Balken und warf noch einen prüfenden Blick auf den Verstorbenen, so als wolle er sich davon überzeugen, dass es richtig war, was er tat. Seine Mutter sah ihm mit verkniffenem Gesicht dabei zu.

Nicolas Miene blieb bei alldem unbewegt. »Es ist Zeit«, sagte er zu Elysa, dann wandte er sich Rorico und dessen Mutter zu. »Der Herr segne euch und beschütze euch vor dem Bösen.«

Elysa ging auf Rorico zu und nahm seine Hand. »Du musst nicht traurig sein«, erklärte sie ihm. »Die Seele deines Großvaters ist nun auf dem Weg zu den Sternen, sieh nur, wie glücklich er aussieht.«

Ihre Hand war weich und warm wie ihre Stimme. Lächelnd sah sie zu ihm auf. Ihre Lippen waren halb geöffnet, und ihre hellen Augen sahen ihn voller Verständnis und Mitgefühl an. Rorico fühlte sich von Elysas Blick so intensiv berührt, dass er auf einmal keine Trauer mehr um seinen Großvater empfand, sondern ein so starkes Begehren, dass er nicht aufhören konnte, sie anzustarren.

Elysa ließ seine Hand los und folgte ihrem Onkel zur Tür. Bevor sie hinausging, sah sie sich noch einmal nach ihm um, um sich zu vergewissern, ob sie ihn auch wirklich allein lassen konnte.

Die Sonne war blass wie der Mond und wurde immer wieder von schwarzen Wolkenschwaden verdeckt. Für Nicola war es ein Zeichen, dass das Böse seine Krallen bereits nach dem Licht ausgestreckt hatte.

Es war noch früh am Morgen, und der dichte Nebel machte den freien Blick über die hügelige Landschaft des Razès bis hinunter ins Tal unmöglich.

Nicolas Haus lag geduckt am Westhang des Plateaus, überschattet von den düsteren Mauern der Burg der Trencavels. Von hier aus konnte er die Spitze des heiligen Berges Bugarach sehen, die stolz aus dem Nebel heraus gen Himmel ragte.

In der Nacht hatten die Truppen des Königs Rhedae eingeschlossen. Sie waren schneller da gewesen, als er erwartet hatte. Nun musste er rasch handeln, wenn er das Vermächtnis der Auserwählten in Sicherheit bringen wollte.

Die Geräusche, die seit dem Morgengrauen aus dem undurchsichtigen Nebelsumpf zu ihm heraufstiegen, waren bedrohlich nahe gekommen.

Er konnte den Hufschlag unzähliger Pferde hören, begleitet vom Klirren der Rüstungen und Schwerter, gedämpfte Rufe und Befehle.

Beinahe war er froh darüber, dass der Nebel den Anblick der Feinde noch verdeckte.

Der letzte Überfall auf Rhedae lag erst zwanzig Jahre zurück.

Er sah die nach Blut gierenden, unbarmherzigen Gesichter der vom König von Aragon angeführten Soldaten wieder vor sich, die in ihrer Unwissenheit nicht einmal geahnt hatten, dass sie dem Ruf des Bösen gefolgt waren.

Nicola packte Brot und Käse in ein Tuch, das er an den Enden zusammenknotete. Als er fertig war, sah er Elysa an, die still auf ihrem Stuhl saß.

Sein Blick war eine einzige Umarmung, und die grenzenlose Liebe in seinen dunklen Augen nahm Elysa für einen Augenblick die Angst.

Sie spürte, dass ihr Onkel Abschied von ihr nahm, wollte es nicht wahrhaben und ahnte doch, dass ihr keine andere Wahl blieb, als ihn gehen zu lassen.

Nicola prägte sich jede Einzelheit ihres schmalen Gesichts ein. Die hohen Wangenknochen, die sie von ihrer Mutter geerbt hatte, die hellen grünen Augen unter den geschwungenen Augenbrauen, die wohlgeformte Nase, das energische Kinn.

»Warum kommst du nicht mit, Onkel?« Flehend sah sie den Mann an, der ihr Mutter und Vater ersetzt hatte, einen Vater, der noch lebte, dessen Namen sie aber nicht kannte. »Du musst mitkommen, Onkel, ich habe doch niemand anderen als dich.« Ihre Lippen zitterten leicht.

»Jeder von uns hat seine Aufgabe, die er erfüllen muss«, erwiderte Nicola fest, obwohl es ihm schwerfiel. Vor vielen Jahren, nach dem Tod seiner Frau, hatte er sich den Guten Christen angeschlossen, die treu nach den Worten des Apostels Johannes lebten. Er war den siebenfachen Pfad zum ewigen Licht gegangen und hatte die heilige Geisttaufe, das Consolamentum, empfangen. Während er auf dem geheimen Sternenpfad wandelte, war seine Seele erwacht. Er war ein Eingeweihter geworden und hatte den Kampf gegen die materielle Welt, in der seine Seele und auch die aller anderen Menschen gefangen waren, aufgenommen.

»Vergiss nicht, was ich dir gesagt habe«, sagte er mahnend. Es lag nunmehr an ihm, die Kraft aufzubringen, sich von Elysa zu trennen, und in seinen Gedanken hatte er es längst getan. Er erhob sich und trat auf sie zu. Sie schlang ihre Arme um ihn, schluchzte verzweifelt auf. Da schob Nicola sie ein Stück weit von sich weg und legte seine Hände auf ihren Kopf.

Wohltuende Wärme strömte durch ihren Körper. Elysa spürte, wie sie ruhiger wurde. Nicola beugte sich zu ihr hinab und gab ihr den Friedenskuss.

»Es ist an der Zeit.« Wie betäubt folgte Elysa ihm durch die Stadt bis zur steil abfallenden Ostseite des Hügels. Die meisten Bewohner Rhedaes hatten sich schon vor Morgengrauen, mit Lanzen und Äxten bewaffnet, an die äußere Mauer begeben, die sich wie ein Ring um den Fuß des Hügels herumzog. Nicola vermied es, am Brunnen vorbeizugehen, an dem die Frauen Wasser schöpften und mit ihren Eimern lange Ketten bildeten, um sich auf die gefürchteten Brandgeschosse vorzubereiten. Stattdessen führte er Elysa an der Rückseite der Kirche und an dem kleinen Friedhof vorbei.

Er war erleichtert, unterwegs nur einigen Kriegsknechten zu begegnen, die an ihnen vorbeieilten, ohne sie weiter zu beachten.

Bevor sie das Plateau verließen, sah er sich noch einmal sorgfältig um. Erst als er sicher war, von niemandem beobachtet zu werden, kletterte er, gefolgt von Elysa, vorsichtig den Abhang hinunter bis zu einem von dichten Thymiansträuchern verborgenen Spalt im Kreidefelsen, der gerade breit und hoch genug war, dass ein Kind durch ihn hindurchschlüpfen konnte. Nicola hatte die Höhle einst als kleiner Junge entdeckt und sich immer in sie zurückgezogen, wenn er die Welt nicht mehr verstanden hatte.

Nun bog er die Zweige beiseite und half Elysa dabei, durch den kalten Stein in die Höhle zu kriechen. Danach reichte er ihr das Bündel hinein sowie eine warme Decke und einen mit Wein gefüllten Trinkschlauch, in den er eine kleine Menge Opium gegeben hatte, und ganz zuletzt noch eine kleine Tonlampe, die er zuvor im Schutz der herabhängenden Sträucher entzündete. Schließlich ließ er seinen Blick noch einmal prüfend über die Sträucher und die Felsspalte schweifen, bevor er sich zufrieden abwandte. In der Höhle würde Elysa sicher sein und mit ihr das Kreuz, dessen Inschrift das Versteck der kostbaren Schriftrollen verriet. Nur ein Eingeweihter würde deren mit einem Code verschlüsselten Inhalt entziffern können. Das Geheimnis des Apostels Johannes und das Wissen um den Tröster durften nicht verloren gehen.

Er spürte, wie die Erregung in ihm wuchs, nachdem er seine letzte Aufgabe in dieser Welt erfüllt hatte.

Mit weit ausholenden Schritten lief Nicola in die Stadt zurück, um sich auf die Heimkehr seiner Seele in die himmlischen Sphären vorzubereiten und über die Macht der Finsternis zu triumphieren.

In der schmalen Felsspalte war es kalt und dunkel, das Gestein unter Elysas Füßen uneben und rutschig. Zwischendurch war der Durchlass sogar so niedrig, dass Elysa sich bücken musste, um weiterzukommen.

Die Stille um sie herum wurde nur vom Geräusch des Wassers unterbrochen, das, von unsichtbaren Quellen gespeist, die Felswände hinablief und von der Decke tropfte. Nach einer Weile wurde der von Gebirgswasser ausgehöhlte Tunnel breiter, bis er sich schließlich öffnete und in einer halb runden Grotte endete. Elysa stellte die Öllampe auf den Boden, wickelte sich eng in ihre Decke und kauerte sich dann neben dem Licht nieder. Die Flamme der Öllampe flackerte im Rhythmus ihres Atems, und der Lichtschein, so schwach er auch war, ließ flüchtige Schatten an den gelblich schimmernden Wänden entstehen.

Etwas Schreckliches würde da draußen geschehen. Elysa dachte an die alte Anna, an Sarah und an Rorico. Sie alle würden dabei sein, wenn das Böse über Rhedae hereinbrach, während sie selbst in ihrem Versteck ausharren sollte, bis die Gefahr vorüber war. Sie widerstand dem Impuls, aufzuspringen und aus der Höhle zu rennen. Nicola verließ sich auf sie, und sie durfte ihn nicht enttäuschen. Sie würde an dem, was geschah, sowieso nichts ändern können, und sie hatte eine Aufgabe zu erfüllen. Eine wichtige Aufgabe, für die sie all ihre Kraft brauchen würde.

Ihr Onkel wusste, was richtig war, hatte es immer gewusst, solange sie denken konnte, und sie vertraute ihm von ganzem Herzen, auch wenn ihr dies in der Einsamkeit der kalten und dunklen Grotte schwerfiel.

Die Zunge klebte ihr am Gaumen, und ihre Kehle war wie ausgedörrt.

Sie trank einen Schluck von dem verdünnten Wein, den ihr Onkel ihr mitgegeben hatte. Er schmeckte ein wenig bitter, und doch fand Elysa den vertrauten Geschmack der köstlichen Trauben in ihm wieder, die hoch über ihr auf den sonnigen Hängen des Tals wuchsen. Gemeinsam mit den anderen Mädchen und Jungen hatte sie jeden Herbst dabei geholfen, sie zu ernten, und ihre Hände und Lippen waren klebrig gewesen vom Saft der herrlichen Früchte. Während des Pflückens hatten sie fröhliche Lieder gesungen, und ihr Lachen war unbeschwert durch die duftenden Hänge gezogen.

Ihre Lider wurden schwer, sie wehrte sich nicht gegen den Schlaf, der sie in seine dunklen Arme nahm.

Irgendwann erwachte sie wieder und aß ohne großen Appetit ein Stück von dem würzigen Ziegenkäse, den sie selbst geformt hatte. Die Erinnerung daran trieb ihr die Tränen in die Augen, und sie zwang sich dazu, ein weiteres Stück von ihm abzubeißen.

»Du darfst jeden Tag nur ein kleines Stück essen, und erst wenn du alles aufgegessen hast, verlässt du die Höhle und machst dich auf den Weg nach Bélesta. Dort gehst du in die Kirche und erkundigst dich bei dem Pfarrer nach Amiel. Der Pfarrer ist Amiels Bruder, du kannst ihm vertrauen. Wenn du Amiel gefunden hast, gibst du ihm das Kreuz.«

So hatten Nicolas letzte Worte an sie gelautet, und so trank Elysa noch einen Schluck von dem Wein und glitt zurück in die Welt des Vergessens, der einzige Trost, der ihr geblieben war.

Sie wusste nicht, wie viele Tage und Nächte sie in der Dunkelheit vor sich hin gedämmert hatte. Als sie den Käse aufgegessen und den letzten Krümel des hart gewordenen Brotes in den Wein getunkt hatte, bis es so weich war, dass sie es kauen konnte, erhob sie sich und machte sich auf den Weg zurück in ihre Welt. Ihre Glieder waren steif von der langen Bewegungslosigkeit, und der schmale Felsengang erschien ihr endlos lang.

Doch irgendwann tauchte ein heller Punkt vor ihr auf. Ihre Bewegungen wurden schneller, und plötzlich konnte sie es kaum noch erwarten, die Sonne endlich wieder auf ihrer Haut zu spüren. Die dichten Thymiansträucher ließen nur wenig Tageslicht in die Felsspalte dringen, trotzdem begannen ihre Augen von der ungewohnten Helligkeit zu tränen.

Als sie sich langsam an das gleißende Licht der Sonne gewöhnt hatten, kletterte Elysa vorsichtig aus dem Spalt heraus und schlich geduckt den Hügel hinauf. Der triumphierende Schrei eines Falken hoch über ihr durchbrach die Stille. Sie war wieder zurück.

Ob sie auch wirklich lange genug in der Dunkelheit ausgeharrt hatte? Ihr Herz schlug aufgeregt in der Brust. Sie wollte so schnell wie möglich nach Hause eilen, trotzdem zögerte sie immer wieder. Mit all der Kraft, die ihr noch zur Verfügung stand, klammerte sie sich an die Hoffnung, dass alles noch so sein würde, wie sie es zurückgelassen hatte.

Noch drei Schritte, dann würde sie das Plateau erreicht haben.

Die unnatürliche Stille um sie herum verdichtete sich und wurde so drückend, dass ihr das Atmen schwerfiel.

Es roch nach Rauch und verkohltem Holz. Der Rauch brannte ihr im Hals und in den Augen, als sie die letzten Schritte nach oben tat.

Der Anblick der verkohlten Trümmer überstieg ihre Vorstellungskraft. Fassungslos stand sie vor den Resten des Dorfes, das die Truppen des Königs von Frankreich in ihrer unvorstellbaren Zerstörungswut dem Erdboden gleichgemacht hatten.

Rhedae war bis auf die Grundmauern niedergebrannt, selbst von der stolzen Zitadelle war nur noch ein Haufen Steine übrig geblieben. Der Boden auf der Mitte des Dorfplatzes war übersät mit verkohlten Leichen. Elysa hob ihren Blick zum Himmel, um die grässlich verstümmelten Körper ihrer Freunde und Nachbarn nicht sehen zu müssen, die noch immer an der gleichen Stelle lagen, an der sie gestorben waren.

Sie wusste, dass es sich nur um deren sterbliche Hüllen handelte und dass ihre Seelen längst in die himmlischen Sphären eingegangen waren, von allem Irdischen und Bösen befreit. Doch trotz dieses Wissens schmerzte sie der Anblick mehr, als sie ertragen konnte.

Ohne den Blick zu senken, bewegte sie sich mit hölzernen Bewegungen an der zertrümmerten Kirche vorbei auf das ehemals stattliche Eckhaus der Martins zu, das an der südwestlichen Seite des Marktplatzes lag. Die überdachte Vorhalle, in der die Martins immer das geerntete Gemüse und Obst gelagert hatten, war ebenso verschwunden wie die gesamte Vorderfront des Hauses, sodass Elysa nun unmittelbar in die Ställe sehen konnte, die sich neben dem eigentlichen Wohntrakt befanden. Sie bog in die Gasse der Dachdecker und Maurer ein, die parallel zur Burg verlief und in die Gasse der Kardätschenmacher und Schuster überging, die weiter zum Weberviertel führte.

Immer wieder musste sie verkohlten Balken, Gesteinsbrocken oder den Kadavern von Schweinen und Ziegen ausweichen. Im Weberviertel hatten die Häscher des Papstes am schlimmsten gewütet. Die niedrigen Häuser und die ehemals blühenden Gärten waren völlig vernichtet.

Wie versteinert starrte Elysa auf die starr aufragenden Gliedmaßen einer verkohlten Ziege, die sich wie mahnende Zeigefinger aus einem Aschehaufen in den Himmel streckten, genau an der Stelle, wo das Haus ihres Onkels gestanden hatte.

Lautlos sackte sie in sich zusammen.

Sie spürte nicht, wie sie hochgehoben und fortgetragen wurde. Aus weiter Ferne drangen Stimmen an ihr Ohr. Die Stimmen klangen hart und waren voll unterdrückter Trauer. Elysa wollte sie nicht hören. Sie wollte zurück in die Dunkelheit, um zu vergessen.

»Dem Himmel sei Dank. Sie kommt zu sich.« Die Stimme kam Elysa bekannt vor. Sie war ihr sogar so vertraut, dass ihr die Tränen aus den Augen strömten, noch bevor sie sie öffnete.

Eine schwielige Hand strich ihr tröstend über die Wangen, als sie die Augen aufschlug und in das verweinte Gesicht der alten Anna sah, aus dem jede Fröhlichkeit verschwunden war.

»Du warst den ganzen Tag ohne Bewusstsein, und wir dachten schon, du wärest tot.«

Anna reichte ihr eine Schale mit heißer Suppe, doch Elysa weigerte sich, etwas zu essen. Sie befanden sich in der Burgruine der Trencavels, deren heruntergebrannte Mauern immer noch den Anschein von Schutz erweckten. Im Hintergrund standen einige Männer. Elysa erkannte Ludolf, den Weinbauern, und ihren Freund Rorico unter ihnen. Mühsam setzte sie sich auf. Ein Stück von ihnen entfernt befanden sich einige Bauern und Handwerker mit ihren Frauen und Kindern. Ihre Gesichter wirkten seltsam starr, und selbst die Kinder waren merkwürdig still, während sie auf dem Boden hockten und ihre Suppe aßen.

Hinter den Männern lehnten Schaufeln.

Sie wollen die Toten begraben, dachte Elysa und glaubte sich in einem Albtraum zu befinden, der nicht enden wollte.

Die Menschen schwiegen und sahen aneinander vorbei, weil sie die Trauer in den Gesichtern ihrer Nachbarn nicht ertragen konnten. Elysa suchte Roricos Blick, doch der starrte mit leeren Augen vor sich hin und sah nicht einmal auf. Ein bitterer Zug lag um seinen Mund und machte sein junges Gesicht alt. Die dunklen Locken fielen ihm wirr in die breite Stirn und verdeckten einen Teil der weit auseinanderklaffenden Hiebwunde, die sich über seine linke Gesichtshälfte bis hinunter zum Kinn zog, auf dem sich die ersten, noch weichen Barthaare zeigten. Die furchtbaren Ereignisse standen zwischen ihr und all diesen Menschen wie eine unsichtbare Wand, und dass nicht darüber gesprochen wurde, machte es nur noch schrecklicher.

Das Kreuz, das Elysa unter ihrem Gewand verborgen trug, brannte heiß auf ihrer Haut. Sie musste es zu Amiel bringen. Über alles andere würde sie später nachdenken, jedoch nicht hier, in dieser drückenden Atmosphäre, wo Trauer und Verzweiflung keinen Platz für etwas anderes ließen. Sie stand auf, verließ die Burgruine und fühlte sich dabei wie eine Verräterin.

»Wo willst du denn hin, Kind?«, rief Anna ihr nach. Aber Elysa zuckte nur mit den Schultern und lief weiter, über verbrannte Felder und niedergetretene Rebstöcke den Hügel hinunter.

Niemand folgte ihr, und selbst die Vögel schwiegen. Es schien, als wäre alle Fröhlichkeit aus dem Tal verschwunden. Sie lief querfeldein in Richtung Westen und mied die Wege, wann immer sie konnte. Als ganz in ihrer Nähe das Trommeln von Hufen die Erde erbeben ließ, warf sie sich flach auf den Boden und wartete, bis der Trupp Reiter an ihr vorüber war.

Ihren aufkommenden Durst stillte sie an den kleinen Bächen, die sich durch das bis vor Kurzem blühende, nun verwüstet daliegende Tal schlängelten. Sie lief weiter, bis es dunkel wurde, und schlief im Schober eines verlassenen Bauernhauses in einem Heuhaufen. Zusammen mit den Reitern des Königs waren auch die Rinder und Schafe von den Weiden verschwunden.

Ihr Onkel hatte ihr einen wichtigen Auftrag erteilt. Er hatte sie nicht auf seine letzte Reise mitgenommen, aber sie würde ihm folgen, sobald sie ihren Auftrag erfüllt hätte. In diesem verbrannten, toten Land, in dem der König und der Papst jede Hoffnung mit dem Schwert erstickt hatten, wollte sie nicht länger bleiben.

Am nächsten Morgen war sie immer noch wie betäubt. Sie kam an einem verwüsteten Anwesen vorbei. Die Tür des Wohnhauses hing schief in den eisernen Angeln. Zwei Tote, ein Mann und eine Frau in braunen Kitteln, lagen mit verrenkten Gliedern davor. Auf einem Heuballen neben der Stalltüre entdeckte sie die Leiche eines kleinen Mädchens.

Sie hatten ihm die Kleider vom Leib gerissen. Elysa schluckte, als ihr Blick auf den blutigen Schnitt fiel, der sich quer über den dünnen Hals des Kindes zog. Tränen des Mitleids strömten ihr über die Wangen. Sie nahm ihren Umhang und legte ihn schützend über den kleinen Körper. Dann wanderte sie weiter.

Ein alter Bauer fuhr mit einem voll beladenen Heuwagen an ihr vorbei. Er musterte sie lange und misstrauisch, bevor er ihr anbot, sie ein Stück mitzunehmen. Aber Elysa lehnte ab, obwohl ihre Fußsohlen vom langen Gehen in den Sandalen bereits brannten. Sie wollte allein sein und lief weiter über sanft ansteigende Hügel, durch Täler und Schluchten. Vorbei an kleinen Dörfern, die von den Häschern des Königs vergessen worden waren und in denen das Leben weiterging, als ob nichts geschehen wäre.

Elysa konnte es nicht fassen und ließ sich schließlich erschöpft auf einer blühenden Wiese niedersinken, auf der einige Kühe grasten, als würde es keinen König und keinen Papst geben. Wie ruhig und friedlich es hier war. Grillen zirpten, und ein mächtiger Adler zog hoch über ihr seine Kreise auf der Suche nach Beute.

Es hielt sie nicht lange auf der Wiese. Verstört stand sie auf und wanderte weiter. Das gleichmäßige Laufen tat ihr gut und lenkte sie von ihren quälenden Gedanken ab. Am frühen Abend erreichte sie ein winziges Dorf, in dem sie früher schon einige Male mit ihrem Onkel gewesen war. Hier wohnten überwiegend Weber, alles Brüder und Schwestern ihrer Gemeinschaft.

Neben einer der Weberhütten blieb sie stehen und sog den vertrauten Duft von Rosmarin und Lavendel ein, der dem kleinen Kräutergarten neben dem Haus entstieg.

Sie trat durch die halb offen stehende Türe des niedrigen Hauses, in dessen Innerem Katharina und Johanna damit beschäftigt waren, das Abendessen vorzubereiten. Sie trugen braune Leinengewänder und hatten ihr Haar unter einem Tuch verborgen. Drei noch kleine Kinder saßen an einem Holztisch und kauten an einem Stück Brot. Über dem Feuer hing ein großer Kessel, dem ein köstlicher Geruch entströmte.

Erst jetzt merkte Elysa, wie hungrig sie war. Fünf Augenpaare starrten sie an, als sie zögernd näher trat. Die ältere der beiden Frauen kam auf sie zu, legte mitfühlend einen Arm um sie und führte sie an den Tisch.

»Setz dich zu uns, Elysa, und iss mit uns«, sagte sie. Ihre Freundlichkeit trieb Elysa die Tränen in die Augen. Katharina reichte ihr einen Becher mit noch warmer Ziegenmilch.

Sie griff nach dem Becher und trank ihn in einem Zug leer. Dann stellte sie den Becher auf den Tisch und starrte ihn schweigend an.

Die beiden Frauen warfen sich hinter ihrem Rücken einen Blick zu. Längst hatten sie von den schrecklichen Überfällen in einigen Dörfern der Umgebung gehört und waren froh, dass die Truppen des Königs an ihnen vorbeigezogen waren. Immer wieder kamen Menschen mit dem gleichen verstörten Gesichtsausdruck wie dieses Mädchen zu ihnen, um sich auszuruhen oder um Speise und Trank zu bitten.

Nicht ein Einziger war in der Verfassung gewesen, über das, was ihm widerfahren war, zu berichten.

Sie sprachen das Vaterunser, dann füllten sie die Holzteller mit dem duftenden Gemüseeintopf. Elysa kämpfte immer wieder gegen die Tränen an, bis sie ihnen schließlich freien Lauf ließ. Es tat so gut, bei diesen freundlichen Frauen zu sitzen und mit ihnen zu essen.

Nach dem Mahl trat Katharina mit einer Schüssel Kräuterwasser zu ihr und zog ihr die Sandalen aus. Elysas Füße waren wund gelaufen und mit Blasen übersät. Das Fußbad war wohltuend und zog die Schmerzen aus ihren Füßen. Nach einer Weile trocknete Katharina ihr die Füße ab und rieb sie dick mit Melkfett ein. Als sie bemerkte, dass Elysa vor Müdigkeit kaum noch die Augen offen halten konnte, wies sie ihr einen Schlafplatz neben den Kindern am Kamin zu. Die weichen, mit Stroh gefüllten Leinensäcke erinnerten Elysa an zu Hause, und sie schlief beinahe sofort ein.

Als sie sich am nächsten Morgen von ihren Gastgeberinnen verabschiedete, schlug Johanna Brot und Käse in ein Tuch ein, genau wie es ihr Onkel getan hatte, bevor er von ihr gegangen war. Beide Frauen umarmten sie, gaben ihr den Friedenskuss und winkten ihr nach, als sie die Dorfstraße hinablief.

Erschöpft ritt Arnold Amaury hinter den betrunkenen und laut grölenden Rittern den schmalen Pfad entlang, der sich in endlosen Schleifen den Hügel hinabwand. Einmal mehr verlagerte er sein Gewicht im Sattel. Mit dem Ärmel seines Gewandes wischte er sich den klebrigen Schweiß von der Stirn, bevor er ihm in die Augen rinnen konnte.

Der widerlich süßliche Geruch verbrannten Fleisches hatte sich ihm durch seine verschwitzten Kleider hindurch auf die Haut gelegt und ließ ihn immer wieder würgen.

Es war unerträglich heiß und schwül. Kein Windhauch löste die staubige Rußwolke auf, die wie eine Glocke über der verwüsteten Ortschaft lag und jeden Atemzug zur Qual werden ließ.

Der laut pöbelnde, noch im Blutrausch schwelgende Haufen vor ihm war nur schwer zu ertragen. Einer brüllenden, tödlichen Woge gleich waren die Ritter des Königs über die Bewohner Rhedaes hergefallen und hatten geschändet, geplündert und gemordet. Allen voran die berüchtigten Männer der Familien Ribautz und Truands, alles Hurenböcke und Leichenfledderer.

Der Abschaum des Abendlandes hatte sich unter seiner Fahne versammelt, angelockt von der reichen Aussicht auf Beute. Den wenigen im Kampfe Gefallenen winkte die sofortige Aufnahme ins Paradies. Allein schon der Gedanke verursachte Arnold Amaury noch mehr Übelkeit.

Plötzlich sehnte er sich nach der ruhigen und schattigen Kühle seiner Abtei. Der mit Säulen geschmückte viereckige Innenhof mit seinem Brunnen erschien ihm wie der Garten Eden; beides war im Moment unerreichbar für ihn.

Es war ein Leichtes gewesen, Rhedae einzunehmen. Die Bewohner hatten sich geweigert, die Ketzer auszuliefern, und der darauffolgenden Belagerung nur einen Tag lang standgehalten.

Er selbst hatte den »Freunden Gottes«, wie sie sich in ihrer Überheblichkeit nannten, zuvor sogar noch angeboten, ihrem falschen Glauben abzuschwören. Doch ohne Erfolg.

In ihrem Wahnsinn hatten sie stattdessen gar die Jungfrau Maria beleidigt und bestritten, dass sie die Mutter von Jesus gewesen sei, da Jesus niemals einen menschlichen Körper besessen habe.

Jeder Einwohner Rhedaes, der sich nach der Einnahme der Stadt geweigert hatte, das Ave Maria aufzusagen, war den Flammen übergeben worden.

Zu seinem Ärger war es ihm jedoch nicht gelungen, etwas über den Aufenthalt der Schriftrollen zu erfahren. Ihre religiösen Riten vollzogen die Eingeweihten in strengster Abgeschiedenheit, und mehr als Gerüchte hatte er darüber nicht in Erfahrung bringen können.

Jeder, der etwas über sie zu sagen habe, werde verschont, so hatte sein großmütiges Angebot gelautet.

Doch die Rhedaer schwiegen hartnäckig und verbohrt.

»Gott wird alle bestrafen, die sich mit den Ketzern verbünden. Sie werden gemeinsam mit ihnen in der Hölle schmoren.« Eindringlich drang seine Stimme durch die hoch auflodernden Flammen. Die heiße, rußige Luft um ihn herum war durchtränkt gewesen von Angst und namenlosem Grauen. Doch selbst dann hatte niemand geredet.

Bis ein burgundischer Ritter sich einen jungen Mann gegriffen und mit erhobenem Schwert gedroht hatte, ihn vor den Augen seiner Mutter zu töten. Halb wahnsinnig vor Angst fiel die Frau ihm daraufhin in den Arm, doch der Ritter konnte den Schlag nur noch abschwächen. Das Schwert hinterließ eine klaffende Wunde im Gesicht des jungen Mannes, aber er lebte.

Zitternd vor Angst berichtete die Witwe eines Schafhirten daraufhin, dass Nicola, der Weber, seine Nichte im letzten Moment aus der Stadt geschafft hatte. Sie schwor bei allen Heiligen, mit eigenen Augen gesehen zu haben, wie er am Morgen vor dem Angriff zusammen mit dem Mädchen und einem geschnürten Bündel sein Haus verlassen hatte und später alleine wieder zurückgekehrt war.

Warum hatte dieser Ketzer seine Nichte aus der Stadt geschafft? Die Ungläubigen waren alle gemeinsam mit ihren Familien in den Tod gegangen – und besagter Nicola war ebenfalls unter ihnen gewesen. Es musste etwas Wichtiges sein, das den Mann dazu veranlasst hatte, seine Nichte in Sicherheit zu bringen.

Sollte diese die anderen Gemeinschaften in der Grafschaft vielleicht warnen? Oder gab es etwas, das sie vor ihm und seinen Truppen in Sicherheit bringen sollte? Niemand würde ein Geheimnis bei einer jungen Frau vermuten. Bei ihr wäre es sicherer, als wenn dieser Ketzer es selbst aus der Stadt geschafft hätte.

Arnold Amaury beschlich das unangenehme Gefühl, einen großen Fehler begangen zu haben. Er rief sich noch einmal alle Einzelheiten des vergangenen Tages ins Gedächtnis zurück.

Sie hatten einen gewaltigen Scheiterhaufen errichtet und mit Öl übergossen. Es gab nicht genügend Pfähle, und die Kreuzfahrer hatten mit ausgestreckten Lanzen einen Kreis um die Verurteilten gebildet, damit niemand entfliehen konnte. Doch sie hätten sich die Mühe sparen können. Frohlockend stürzten diese sich in die auflodernden Flammen, als könnten sie den Tod kaum noch erwarten.

Er selbst hatte Nicola beim Sterben zugesehen. Die Bilder von dessen Tod verfolgten ihn geradezu. Wieder sah er das charismatische Gesicht des Ketzerführers vor sich, während die Flammen sich in rasender Geschwindigkeit durch seine Kleider fraßen, und erinnerte sich an den Ausdruck höchster Glückseligkeit in dessen hellen Augen, ein Ausdruck, den er nie mehr vergessen würde. Es war, als würde der Ketzer in diesem Moment die Herrlichkeit Gottes vor sich sehen und dadurch über ihn, Amaury, triumphieren.

Seit Langem schon sehnte er sich danach, die Herrlichkeit Gottes schauen zu dürfen – und dieser Ketzer hatte sie gesehen! Er hatte es deutlich gespürt.

Oder hatte er sich das nur eingebildet? Hatte hier etwa Satan seine Hände im Spiel, um seine Seele zu verwirren und sie zu sich in die finstersten Abgründe der Hölle hinabzuziehen?

Die Gedanken an den Ketzerführer und seine Nichte lenkten ihn für eine Weile von seiner trostlosen Umgebung wie auch von seinem schlechten Gewissen ab.

Er hatte jedem Ungläubigen die Chance gegeben, seinem teuflischen Irrglauben abzuschwören, doch die Ketzer hatten lieber sterben statt als Christen leben wollen.

»Gott ist Liebe!« Mit diesem Ausruf hatten sie sich in die Flammen gestürzt, die Männer ebenso wie ihre Frauen. Mütter waren gemeinsam mit ihren Kindern in den Tod gegangen, hatten ihre Augen verhüllt und gemeinsam gebetet, bis das Feuer ihre Stimmen verstummen ließ.

Ihr Verhalten war ihm unbegreiflich gewesen und hatte ihn nachdenklich gemacht.

Wo nahmen diese Ketzer nur ihre Glaubensgewissheit und Stärke her? Lag die Antwort darauf vielleicht in den tausend Jahre alten Schriften des Johannes verborgen, ihrem geheimnisvollen Tröster? Oder war alles nur Lug und Trug -ein Blendwerk? Es war seine Aufgabe, dies herauszufinden, und plötzlich wurde ihm klar, dass es vor allem die Glaubensstärke war, die das hiesige Volk und selbst die adligen Herren zu den Guten Christen hinzog. Diese Ketzer waren noch gefährlicher, als er gedacht hatte. Sie konnten nur mit dem Teufel im Bunde sein, der für seine Verführungskünste und Täuschungen bekannt war.

Wenn es sich aber wirklich so verhielt, hatte er es mit einem noch gefährlicheren Gegner zu tun, als er bislang gedacht hatte. Er musste herausfinden, was diese Menschen blind für den einzig wahren Glauben machte und ihnen die Kraft gab, sich der Kirche zu widersetzen.

Simon von Montfort ritt hoch aufgerichtet einige Reihen vor ihm. Er war nicht zu übersehen in seinem prächtigen Umhang und dem glänzenden Helm. Weder der unerträgliche Gestank noch die Hitze schienen ihm etwas auszumachen, wie Arnold Amaury neidvoll feststellte.

Er trieb sein Pferd an und drängte es zwischen den Reitern vor ihm hindurch, bis er auf gleicher Höhe mit Montfort war.

»Eure Männer hätten den Ketzerführer aufhalten sollen«, sagte er vorwurfsvoll. »Jetzt kann er uns nicht mehr sagen, wohin sich seine Nichte geflüchtet hat.«

Simon von Montfort blickte spöttisch zu ihm hinüber. Der Abt bot ein wahres Bild des Jammers, wie er so gekrümmt und blass auf seinem Gaul hockte. Er wäre besser in seinem Kloster geblieben, wo er hingehörte, anstatt am Kreuzzug teilzunehmen und ihm ständig in den Ohren zu liegen.

»Weit kann sie nicht gekommen sein«, bemerkte er trocken. »Was also hindert Euch daran, ihr nachzureiten und sie zu suchen?«

Amaury zuckte bei diesen Worten zusammen, die eine grobe Unhöflichkeit darstellten. Immerhin handelte er im Auftrag des Papstes. Doch schon mehrmals hatte ihn das Gefühl beschlichen, dass der Graf ihm nicht den nötigen Respekt entgegenbrachte und sich insgeheim sogar über ihn lustig machte. Außerdem ärgerte es ihn, dass er nicht selbst auf die Idee gekommen war.

»Ich verlange, dass Ihr einige Männer ausschickt, die nach ihr suchen«, knurrte er gereizt. »Sie sollen ihre schmutzigen Triebe jedoch unterdrücken und mir das Mädchen unversehrt zurückbringen.«

»Wie stellt Ihr Euch das vor? Seht Euch die Männer doch an. Sie haben seit Tagen nicht mehr geschlafen und eine Pause im Lager verdient.«

»Dann müssen sie sich eben zusammenreißen«, beharrte Arnold Amaury stur.

»Darf man fragen, warum Euch das Mädchen so wichtig ist?« Es schien dem Grafen zu gefallen, ihn noch mehr zu reizen.

»Das geht Euch nichts an«, entgegnete er scharf. »Eure Aufgabe ist es, das Heer zu führen und die Männer zur Ordnung zu rufen. Man könnte glauben, Ihr führt einen Haufen verwahrloster Banditen und Wegelagerer an und nicht die Soldaten des Königs.«

Simon von Montfort überhörte den Vorwurf und kam zu dem Schluss, dass es klüger wäre nachzugeben. Er hatte gut daran getan, dem Abt zu misstrauen. Von Anfang an hatte er ihm etwas verschwiegen. Ob das Mädchen etwas damit zu tun hatte? Und welche Rolle spielte Raimund VI., den Arnold Amaury Tag und Nacht heimlich von seinen Spitzeln belauern ließ? Der Abt glaubte, dass er davon nichts mitbekam, aber ein guter Feldherr musste wissen, was in seinem Heer vor sich ging.

Seine Neugier war geweckt. Es war nur eine Frage der Zeit, bis er hinter das Geheimnis des Abtes kommen würde. Er rief einige seiner Männer zu sich und erteilte ihnen den Auftrag, nach dem Mädchen zu suchen.

Die Gesichtszüge des Grafen von Toulouse wirkten verschlossen, und auch dem Blick seiner braunen Augen konnte man keine Gefühlsregung ansehen. Er trauerte um Nicola, den er mit eigenen Augen hatte brennen sehen. Nicola hatte es so gewollt, aber es war unerträglich für ihn gewesen, dabei zu sein und zusehen zu müssen, mit welcher Brutalität die Kirche den Menschen in seinem Land ihren Willen aufzwang. Menschen, die darauf vertraut hatten, von ihm beschützt zu werden. Er spürte das Gewicht sämtlicher Opfer auf sich lasten, die der Kreuzzug bisher gefordert hatte. Aber das Schlimmste für ihn war, dass man ihn dazu gezwungen hatte, ein Teil dieses Kreuzzuges zu werden. Die Kirche hatte geschafft, was keinem seiner Gegner je gelungen war. Sie hatte ihn erniedrigt, ihn gezwungen, ihr zu Willen zu sein, ihm absolut keine Wahl gelassen. Und so grübelte er Tag und Nacht darüber nach, ob er die richtige Entscheidung getroffen hatte oder ob er nicht doch ein Feigling war, der nur seinen Besitz retten wollte und dafür das Wohl seines Landes vorschob. Nicola hätte ihm eine Antwort auf diese Frage geben können, er hatte immer auf alles eine Antwort gehabt. Aber Nicola war nicht mehr da.

Bei ihrer letzten Begegnung hatte Nicola von Elysa gesprochen und ihm erzählt, dass sie ihrer Mutter immer ähnlicher werden würde. Doch weder hatte er ihn gedrängt noch etwas von ihm gefordert. Er hatte ihn einfach nur an seine Tochter erinnert. Gott hatte den Menschen den freien Willen gelassen, und Nicola hatte Gottes Wort gelebt. Warum konnte die katholische Kirche dies nicht ebenfalls tun? Dann würde es diesen verdammten Kreuzzug nicht geben.

Er unterdrückte die Wut, die bei diesem Gedanken in ihm aufstieg, so gut es ging, und zwang seine Gedanken zurück zu Elysa.

Sie war seine Tochter, und auch wenn er sich bisher nicht um sie geschert und ihr insgeheim die Schuld am Tod ihrer Mutter gegeben hatte, war sie doch sein eigen Fleisch und Blut.

Die Witwe des Schafhirten hatte berichtet, dass Nicola Elysa vor der Schlacht aus Rhedae herausgebracht hatte. Wenn Arnold Amaury nun herausfand, dass sie seine Tochter war, würde er diese Tatsache gegen ihn verwenden, um ihn noch mehr unter Druck zu setzen.

Die Haare in seinem Nacken richteten sich auf, und eine eiskalte Faust legte sich um sein Herz, als ihn die Erkenntnis traf, dass alles noch viel schlimmer war. Er hätte die Botschaft in Nicolas Worten erkennen müssen, doch er war zu sehr mit sich selbst beschäftigt gewesen und hatte nur halbherzig zugehört, als Nicola über seine letzten Vorkehrungen sprach, die er sowohl für sein Glaubensvermächtnis als auch für seine Tochter getroffen hatte, weil Elysa ein Teil davon war.

Er hielt sich mit seinen Rittern ein Stück hinter den beiden Heerführern. Weder der machtgierige Simon von Montfort noch der Abt machten einen Hehl aus ihrem Misstrauen und ihrer Abneigung gegen ihn, und er konnte es ihnen nicht einmal verübeln.

Er musste Elysa finden, bevor Arnold Amaury sie fand, der sich ganz offensichtlich für das Vermächtnis der Guten Christen interessierte und jedem Ketzer Gnade versprach, der bereit war, ihm etwas darüber zu berichten.

Ein ungutes Gefühl beschlich ihn. Der Tröster durfte der katholischen Kirche nicht in die Hände fallen, sonst würde es mit der Freiheit des Glaubens für immer vorbei sein, hatte Nicola gewarnt.

Seine von ihm vergessene Tochter war damit in den Mittelpunkt des Geschehens gerückt, und Nicola hatte es gewusst!

Aber wohin hatte er sie geschickt?

Gordon ritt schweigend neben dem Grafen von Toulouse, dessen Schwermut ihn beunruhigte. Sie entsprach nicht der Natur seines Herrn, der zum ersten Mal in seinem Leben gezwungen wurde, sich dem Willen anderer zu beugen.

Gordon fühlte sich kraftlos, sein Haar klebte ihm am Kopf. Er hatte den schweren Helm abgenommen, doch auch das brachte nur wenig Erleichterung in der feuchtschwülen Hitze. Das Kettenhemd über dem Gambeson, seiner gepolsterten Jacke, störte ihn zunehmend. Der viellagige Stoff schützte ihn zwar vor Schlägen, jetzt aber verfluchte er das Kleidungsstück, weil es die Hitze noch verstärkte.

Und die furchtbaren Bilder in seinem Kopf waren ebenfalls nicht dazu angetan, seine Stimmung aufzuhellen.

Einstürzende Mauern, berstende Kirchen, brennende Tote. Kreuzfahrer, die schlimmer als wilde Tiere unter den Einwohnern von Béziers wüteten, sogar Frauen, Kinder und Priester niedermetzelten, bis alles Leben in der Stadt ausgelöscht war. Mit der Zerstörung Béziers hatte der Kreuzzug begonnen. Die Kreuzfahrer waren über seine Bewohner hergefallen, die sich in die beiden großen Kirchen geflüchtet hatten. Die Stadt begann zu brennen, die Mauern der Kathedrale waren durch die Hitze geborsten, ihre Glocken geschmolzen. Der aufsteigende Rauch hatte die Sonne verfinstert. Die Hölle hatte sich geöffnet, und ihr glühender Atem war durch die zerstörte Stadt geweht.

Niemand hatte mit einer solchen Zerstörungswut gerechnet, am allerwenigsten der Graf von Toulouse, der immer noch gehofft hatte, durch seine Teilnahme am Kreuzzug das Schlimmste von seinem Land abwenden zu können. Doch die Erkenntnis, dass dem nicht so war, kam zu spät. Die Kreuzfahrer befanden sich inmitten des Landes und ließen sich durch nichts und niemanden mehr aufhalten.

Plötzlich sprach ihn sein Herr von der Seite an und riss ihn aus seinen trüben Gedanken.

»Reite noch einmal nach Rhedae zurück und sprich mit der Witwe des Schafhirten. Ich muss wissen, ob Nicolas Nichte noch im Ort ist oder nicht«, befahl der Graf und überlegte kurz, ob er Gordon erzählen sollte, wer Elysa in Wirklichkeit war. Dann kam er aber zu dem Schluss, dass es sicherer für sie wäre, wenn so wenig Menschen wie möglich ihre wahre Herkunft kannten.

Das Heer geriet ins Stocken, als einer der unzähligen mit Beutegut beladenen Wagen auf einmal von der Straße abkam, zur Seite kippte und in den Abgrund zu stürzen drohte.

Nacheinander mussten die Reiter an dem auf der Seite liegenden Wagen vorbeiziehen.

Einige der Ritter waren von ihren Pferden gesprungen und halfen dabei, die Zugpferde auszuspannen und das Beutegut auf die anderen Wagen zu verteilen. Der Graf gab ihm daraufhin ein Zeichen, und Gordon nutzte die Situation, um zurückzufallen und kurz darauf unbemerkt zwischen den Büschen zu verschwinden.

Gordon hatte das Heer kaum verlassen, als Bruder Jakob, einer von Arnold Amaurys engsten Vertrauten, neben dem Grafen von Toulouse auftauchte und ihm mitteilte, dass der Abt ihn umgehend zu sprechen wünsche.

Der Kreuzzug scheint dem Mann nicht gut zu bekommen, dachte Raimund voller Genugtuung, als sein Hengst auf gleicher Höhe mit dem des Abtes war. Tatsächlich schien sich Arnold Amaury nur noch mit Mühe auf seinem Pferd halten zu können. Er wirkte sichtlich erschöpft. »Ihr wünschtet, mich zu sprechen?«

Arnold Amaury fuhr herum und betrachtete ihn mit unverhohlenem Misstrauen. »Ich frage mich, wohin und warum Ihr ständig Boten aussendet?«, sagte er und wischte sich mit dem Ärmel den Schweiß von der Stirn.

»Ich wüsste nicht, was Euch das angeht«, gab Raimund VI. zurück. »Ich habe alle Bedingungen der Kirche erfüllt, aber als Landesherr habe ich immer noch Verpflichtungen.«

Arnold Amaury kniff die Augen zusammen und sah ihn böse an. »Ich warne Euch. Wenn ich herausfinde, dass Ihr ein doppeltes Spiel treibt, dann gnade Euch Gott.«

»Wenn ich ein doppeltes Spiel treiben würde, dann müsstet Ihr es doch als Erster erfahren, oder glaubt Ihr tatsächlich, ich würde Eure Spitzel nicht bemerken, die Tag und Nacht um mich und meine Männer herumschleichen?« Es klang so herablassend, das Arnold Amaury sich zusammenreißen musste, um nicht die Beherrschung zu verlieren.

»Wenn Ihr erlaubt, würde ich mich jetzt gerne zurückziehen.« Raimund VI. neigte hoffärtig den Kopf und wendete sein Pferd, ohne eine Antwort abzuwarten.

Gordon ritt nach Rhedae zurück. Die schmale Gasse, die zum Marktplatz führte, war menschenleer, eine Schneise der Verwüstung, die das Heer der Kreuzfahrer hinterlassen hatte. Er hatte die Schreie der Sterbenden wieder in den Ohren, als er an den noch immer schwelenden Trümmern vorbeiritt. Beißender Qualm stieg ihm in die Nase. Er war erleichtert, als er den Marktplatz erreichte und der auffrischende Wind ihm den Duft blühender Gräser ins Gesicht blies. Neben dem Kirchhof, der zu klein war, um all die Toten aufzunehmen, gruben Männer mit Schaufeln ein großes Loch. Totenstille hing über dem Plateau. Die Frauen standen schweigend um den Brunnen herum, und Gordon sah das Entsetzen in ihren Gesichtern, als sie ihn bemerkten. Ein Gefühl der Beschämung ergriff ihn, als er auf sie zuritt. Doch sie flohen nicht vor ihm, und er war froh, dass er alleine hergekommen war.

»Ich bin auf der Suche nach Nicolas Nichte!«, rief er ihnen zu.

»Habt ihr uns nicht schon genug angetan?«, jammerte eine der Frauen. Gordon sah den Zorn in ihren Augen und die Verzweiflung. Wie gerne hätte er ihr gesagt, dass er die ganze Zerstörung nicht gewollt hatte und sein Herr auch nicht, aber sie würden es nicht verstehen. Wie sollten sie auch, verstand er es doch selber nicht.

»Ich habe nichts Böses im Sinn«, sagte er stattdessen und erkannte im gleichen Augenblick, wie sinnlos sein Unterfangen war. Niemand hier würde ihm freiwillig weiterhelfen, und er konnte es den Menschen nicht einmal verdenken.

Die Männer hörten auf zu graben, traten langsam näher und bildeten einen Halbkreis hinter ihm. Die Schaufeln hielten sie mit beiden Händen umfasst.

»Wenn ihr mir nicht antwortet, werden andere kommen, und die werden weniger zimperlich sein als ich.« Es widerstrebte ihm, die verzweifelten Menschen einzuschüchtern. Sie hatten alles verloren. Die meisten Häuser waren zerstört, ihr Vieh fortgetrieben, ihre Felder niedergetrampelt, aber er hatte einen Auftrag, den er erfüllen musste.

»Er ist der Ritter, der uns gerettet hat.« Ein Mädchen mit langen schwarzen Haaren löste sich aus der Gruppe der Frauen und kam auf ihn zu.

»Meine Familie und ich werden immer in Eurer Schuld stehen«, sagte sie so laut, dass jeder es hören konnte, und sah ihn voller Dankbarkeit an.

Als Gordon das letzte Mal in die Augen der kleinen Jüdin geblickt hatte, waren sie vor Entsetzen geweitet gewesen. Er war gerade noch rechtzeitig gekommen. Einer der plündernden Soldaten, ein grobschlächtiger Kerl, hatte sich auf sie geworfen, ihr die Kleider vom Leib gerissen und dem sich heftig wehrenden Mädchen brutal die Beine auseinandergezwungen, während ein zweiter ihre Hände festgehalten hatte. Ein Mann und eine Frau lagen mehr tot als lebendig neben der Haustüre in einer Lache aus Blut, vermutlich die Eltern des Mädchens. Der Mann, der die Beine des Mädchens hielt, grinste ihn an. »Wir lassen dir noch ein bisschen was von der Kleinen übrig«, versprach er und starrte dann wieder gierig auf die spitzen Brüste der Kleinen.

Als Antwort hatte er dem einen Kerl die gepanzerte Faust gegen die Schläfe geschlagen und den anderen mit dem Schwert erledigt.

»Ihr habt freie Hand, aber es darf keine Zeugen geben«, hatte der Graf von Toulouse seinen Rittern eingeschärft. Sie hatten sich weder in Béziers noch in Rhedae an den Kämpfen beteiligt, aber sie waren den Plünderern in die Häuser gefolgt und Witwen und Waisen zu Hilfe geeilt und hatten ihrem Stand alle Ehre gemacht.

Die Männer kehrten nach den Worten der kleinen Jüdin zurück an ihre Arbeit. Es gab so viel zu tun, und bald würde der Herbst kommen.

»Sie ist fortgegangen«, sagte die Witwe des Schafhirten da plötzlich zu Gordon. »Und sie hat niemandem gesagt, wohin.«

Ihre Stimme war voller Hass, und Gordon schloss daraus, dass die Frau aus irgendeinem Grund Nicolas Nichte die Schuld an dem Unglück gab, das so unvermittelt über sie alle hereingebrochen war.

Die Augen des Mädchens vor ihm huschten erschrocken zu der Witwe hinüber. Offensichtlich hatte es nichts von diesem Hass gewusst.

Die Witwe verschränkte die Arme vor ihrer Brust. Ihr ganzer Zorn richtete sich nun gegen das Mädchen.

»Ich sage doch nur, wie es ist«, verteidigte sie sich. »Sie hat sich einfach aus dem Staub gemacht. Es kümmert sie doch einen Dreck, was mit uns ist.«

Ihre Worte fuhren wie ein Axthieb in die Gemeinschaft und spalteten sie in zwei Teile. Aufgeregtes Gemurmel wurde laut.

Die Jüdin hob bittend ihre Hände.

»Herr, wenn Ihr Elysa findet, dann sagt ihr doch, dass sie bei Sarah und ihrer Familie immer ein Zuhause haben wird. Werdet Ihr das tun?«

Gordon nickte, das Mädchen sah ihn noch immer an. »Und würdet Ihr mir Euren Namen sagen? Damit wir Euch in unsere Gebete einschließen und unseren Kindern und Enkelkindern von Eurer großmütigen Tat erzählen können?«

Das Kreuz des Schweigens / Die Sühnetochter - Zwei Romane in einem Band

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