Читать книгу Der kleine Kapitän - Holger Antz - Страница 8

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Unerwartetes Wiedersehen

Unter Deck war nur wenig Licht und Manolito achtete gut auf die Stufen, während sie gemeinsam hinunterstiegen. Dort angekommen, tat sich ein erstaunlich großer Raum auf mit einem ausladenden Tisch und Sitzbänken, die ihn wie ein großes U umrahmten. Auf der Bank saß ein betagter Mann, der ihn von oben bis unten musterte. Ohne ein weiteres Wort zu sagen, schaute der Alte ihm nun direkt in die Augen und Manolito bemühte sich, dem Blick standzuhalten.

Viel vom Gesicht des Mannes war nicht zu erkennen, denn einen großen Teil davon bedeckte ein krauser, dunkler Bart, wie ihn viele Seeleute tragen, und auf seinem Kopf saß eine fusselige Wollmütze, die wahrscheinlich genauso alt war wie der Träger selbst. Die Augen, die Manolito anschauten, waren dunkel, aber freundlich, das zumindest glaubte er zu erkennen. „Wie heißt du halbe Portion und was hast du auf meinem Schiff zu suchen, wenn du kein Dieb bist?“, erhob jetzt der Mann seine Stimme. „Ich heiße Manolito“, kam die Antwort fast flüsternd aus dem Mund des Jungen. Während Manolito seinerseits den Alten ansah, überlegte er, ob er diesen Mann vielleicht schon einmal gesehen hatte. Denn irgendwie erinnerte ihn der Seebär vor ihm an jemanden, nur wollte ihm einfach nicht einfallen, an wen.

„Manolito heißt du also und du wohnst hier in Portimao?“, fuhr der Alte mit knurriger Stimme fort. „Ja, ich bin hier sogar geboren und jeder im Hafen kennt mich.“ „So, so“, murmelte der Schiffsbesitzer, „der Manolito bist du“, und sah ihn dabei weiterhin so an, als wolle er geradewegs in dessen Kopf hineinschauen. Zumindest fühlte es sich für Manolito so an. Denn die Augen des Alten bohrten sich förmlich in die seinen hinein.

Mit den letzten Worten hatte sich die Stimme verändert. Sie klang nicht mehr so streng wie noch zu Beginn. Hätte der Mann Manolito nicht weiterhin so irritierend angestarrt, hätte der Junge wahrscheinlich bemerkt, dass die Stimme geradezu freundlich klang. Aber das entging ihm in diesem Moment. Während er sich in dem Raum umsah, fiel ihm etwa zwei Meter vor ihm ein etwas verblichenes Foto auf, das an der Schiffswand mit einer Nadel angepinnt war. Manolito stutzte. Wenn er sich nicht völlig irrte, dann war das auf dem Bild da vor ihm seine Mutter!

Auf dem Arm hielt sie ein Baby und neben ihr, das war doch der Alte, der gerade vor ihm saß! Auf dem Foto trug er zwar keinen Bart, aber dieselbe gelbliche Mütze, die auch jetzt auf seinem Kopf thronte. Die Frau war eindeutig seine Mutter, nur war sie auf dem Bild noch etwas jünger als jetzt und der Alte ebenfalls. Manolito hatte keinen Zweifel, das da war seine Mama. „Merkwürdig“, dachte Manolito, wie passte das zusammen? Warum war sie dort mit dem Mann auf dem Foto, und warum hing es ausgerechnet hier in dieser Kajüte? „Du kannst dich wohl nicht an mich erinnern, Manolito“, fuhr der Alte jetzt freundlich lächelnd fort, „ich habe dich aber gleich erkannt, als du vor mir standst! Du hast mich sofort an deinen Vater erinnert, als der in deinem Alter war.“ Nun war Manolitos Verwirrung komplett. In seinem Kopf fing es regelrecht an zu brausen, es rasten einfach zu viele Gedanken gleichzeitig durch sein kleines Gehirn und für einen Moment wurde ihm ganz schwindelig. Erst langsam begannen sich seine Gedanken zu ordnen und Manolito fing an zu verstehen. Der Mann vor ihm musste sein Großvater sein! Deshalb war er auf dem Foto und auch deshalb kam er ihm bekannt vor. Er konnte sich zwar nicht mehr erinnern, wann er seinen Opa zuletzt gesehen hatte, aber so musste es sein. Das machte Sinn, darum hatte er auch das Gefühl gehabt, die Stimme zu kennen. Nun endlich fiel ihm auch ein, wonach er krampfhaft in seinen Erinnerungen gesucht hatte: Zu Hause in der Küche gab es ein ähnliches Foto. Jeden Tag lief er daran vorbei, ohne es wirklich anzusehen. Aber jetzt war es ihm wieder eingefallen und er fühlte sich förmlich erleichtert. Die Jungs um ihn herum schienen so sprachlos zu sein wie Manolito selbst. Denn auch sie waren mucksmäuschenstill und staunten über das, was sie da gerade zu hören bekamen.

„Komm mal her, Manolito“, unterbrach der Alte die Stille, „ich kann gerade nicht so gut gehen, aber ich muss meinen kleinen Enkel zur Begrüßung unbedingt in den Arm nehmen!“ Während er das sagte, streckte er seine Arme bittend aus und forderte Manolito so zusätzlich auf, zu ihm zu kommen. Obwohl der Junge verstanden hatte, was der Alte gerade zu ihm gesagt hatte, zögerte er einen Moment, bevor er immer noch ein wenig skeptisch auf ihn zuging. Die Jungs traten beiseite und zwei starke Hände griffen nach ihm und hoben ihn auf die Sitzbank.

„Bist du wirklich sein Opa?“, fragte der lange Dünne mit ungläubigem Gesichtsausdruck. „Echt?“, fügte der Kleine mit den Locken hinzu. „Ja, das ist mein kleiner Manolito, der Sohn meiner Tochter.“ Die drei Burschen kamen aus dem Staunen nicht heraus. Sie hatten das Foto an der Wand auch nie besonders beachtet und außerdem hatte Mario, wie der Mann hieß, bis zu diesem Tage nichts von einem Enkel erwähnt. Vor der Reise hatte er auch keinem von ihnen verraten, dass er seine Familie besuchen wolle. Noch nicht einmal, nachdem er sich schlimm am Bein verletzt hatte und die Jungs fast allein nach Portugal hätten segeln müssen. Die Kinder hätten am liebsten die Reise abgebrochen, als Mario nicht mehr am Steuerrad stehen konnte, aber er bestand darauf, weiterzufahren.

„Ich weiß jetzt, warum wir hier sind“, sagte der Kleine mit heller Stimme, „Mario will seine Familie besuchen und uns ihr vorstellen.“ „Genau“, antwortete dieser, „du hast es erraten, Toto, außerdem gibt es hier einen Arzt.“ „Warum brauchst du denn einen Arzt?“, fragte Manolito erschrocken. „Ich glaube, mein Bein ist gebrochen“, sagte der Alte. „Der Rum ist fast ausgetrunken und jetzt gibt es nichts mehr an Bord, was mir gegen die Schmerzen helfen könnte.“ Manolito bekam einen großen Schreck. „Gebrochen?“, stammelte er. „Da müssen wir sofort zu Onkel Johny, der wird dir bestimmt gleich helfen, wenn ich dich bringe.“ „Und wie bekommen wir ihn hier raus?“, fragte der lange Dünne. „Mario ist zu schwer für uns und mit dem kaputten Bein wird das nicht einfacher.“

Einer plötzlichen Eingebung folgend rief Manolito seinem Opa zu: „Warte, ich bin gleich wieder da!“ Kaum hatte er das ausgesprochen, da rannte er auch schon aus dem Raum und flog förmlich die Treppe hinauf nach oben an Deck. Die vier im Zimmer schauten sich nur fragend an, denn sie konnten natürlich nicht wissen, was Manolito vorhatte.

Nur einige Minuten später erschien er wieder vor ihnen und stellte eine große Sackkarre vor dem Tisch ab. „Was wird denn das?“, brummte der Alte. „Da hockst du dich gleich drauf und dann ziehen wir dich gemeinsam nach oben“, erklärte Manolito. „Das werde ich ganz bestimmt nicht“, raunte Mario leicht entsetzt. „Da werde ich mich sicherlich nicht draufstellen, gaaanz bestimmt nicht!“

„Das könnte aber funktionieren“, meinte der lange Dünne und grinste über das ganze Gesicht, „ich heiße übrigens Luca und die beiden hier sind Luigi und Toto.“ „Toto, das bin ich“, sagte der Kleine mit den krausen Haaren und reichte Manolito die Hand. „Eigentlich ist es super, dass du hier herumgeschnüffelt hast. Jetzt können wir Mario zusammen zu einem Doktor bringen.“ Erst in diesem Moment bemerkte Manolito, dass Toto kein Junge wie die beiden anderen, sondern ein Mädchen war. Flüsternd fügte sie hinzu: „Er jammert schon den ganzen Morgen und ich glaube, es geht ihm schlechter, als er zugibt.“ „Geht es mir nicht!“, widersprach Mario in Richtung Toto und bemühte sich krampfhaft, ein entspanntes Gesicht zu machen.

„Wie ist denn das überhaupt passiert?“, wollte Manolito wissen. „Naja“, antwortete sein Opa, „das war so: Auf der Fahrt hierher hatten wir regen Seegang, eine große Welle prallte gegen die Schiffswand, und weil ich mich nicht angeseilt hatte, flog ich in hohem Bogen durch die Luft und krachte mit dem Bein gegen eine Deckskiste, das war’s.“ „Genau!“, rief Luigi etwas aufgeregt und mit hoher Stimme, „Immer anbinden bei Sturm, ja, ja!“ „Ich weiß“, brummte Mario entschuldigend, „das war völlig unvernünftig von mir.“ Daraufhin grinsten sich die drei Kinder gegenseitig an, sagten aber besser nichts Zusätzliches, denn der Alte hatte ja bereits eine Strafe für seinen Leichtsinn bekommen. Auf dem Meer, das heißt, beim Segeln, gibt es viele Regeln, das hatte Mario ihnen erklärt. Und er hatte stets penibel darauf geachtet, dass jeder von ihnen die Vorschriften und Kommandos an Bord beachtete. Bevor sie auf diese Fahrt gegangen waren, hatten sie zusammen so häufig Manöver geübt, bis Mario endlich zufrieden gewesen war. Regelrecht trainiert worden waren Luca und Luigi, denn besonders auf sie würde es beim Wenden auf See oder beim Einlaufen in den Hafen ankommen. Zwei ganze Wochen hatte es gedauert, bis Mario sein Okay gab, und die Reise endlich hatte losgehen können.

„Los, schaffen wir ihn auf die Karre!“, lachte Toto schelmisch, „Ich bin gespannt, ob Opa Mario darauf passt.“ Und dabei betonte sie Opa Mario ganz besonders. „Das wird schon“, raunte Mario, „ich kann zur Not ja auch auf einem Bein hüpfen, damit du etwas zu lachen hast, Toto.“ „Mit dem gebrochenen ist das keine gute Idee“, sagte Manolito den Kopf schüttelnd und voller Sorge, dass sein Opa die Situation unterschätzte. Er hatte bei Onkel Johny schon einige Verletzte gesehen und allein der Gedanke, dass sein Opa von der Karre kippen konnte, trieb ihm einige Schweißperlen auf die Stirn.

„Wir stützen dich besser gemeinsam und dann steigst du ganz langsam auf die Sackkarre, Opa. Hüpfen kannst du wieder, wenn dein Bein ganz ist, aber nicht jetzt.“ Nun klang Manolitos Stimme nicht nur ernst, er hatte Mario quasi eine Anweisung gegeben. Und wer hätte es gedacht, der alte Brummbär folgte ihm artig und ächzte lediglich gedehnt „Hmmmm, ok“ in seinen Bart. Zu dritt stützten ihn die Jungs und Toto hielt die Karre so, dass Mario sich mit seinem Hintern darauf abstützen konnte. „Oh mannomann, wenn das mal gut geht!“, rief der Alte mit ängstlicher Stimme, als Manolito und Luca die Karre langsam in Bewegung setzten. „Ich werde mir zusätzlich den Hals brechen oder auch noch das andere Bein! Seid bloß vorsichtig, ihr Leichtmatrosen!“


Es war ein schweres Stück Arbeit, den großen Mann dazu zu bringen, ruhig zu bleiben, und ein noch größeres, das Gleichgewicht der Karre zu halten und Mario nach oben an Deck zu hieven. Ungefähr zehnmal mussten sie anhalten, denn Mario drohte ein ums andere Mal, von der Sackkarre zu rutschten. Inzwischen war sein Gesicht ganz rot vor Aufregung und viele kleine Schweißperlen standen auf seiner Stirn. Manolito und Luca zogen unter ächzen und stöhnen und die anderen beiden schoben den großen Mann von rechts und links zurück, wenn er drohte, zur Seite abzurutschen. Unentwegt gab Mario zweifelnde Kommandos: „Aufpassen! Vorsichtig, oh, oh, ohhh, wenn ich falle, dann breche ich mir bestimmt sämtliche Gräten!“ Natürlich war es verständlich, dass Opa Mario Ängste ausstand. Man hätte es nur mit eigenen Augen sehen müssen! Und wäre er tatsächlich von der Karre gerutscht – kaum auszudenken, was hätte noch alles passieren können. In diesen schweißtreibenden Minuten dachte jedoch keiner von den Vieren daran, was noch hätte schiefgehen können. Jeder von ihnen war vollauf damit beschäftigt, den schweren Mann heil an Deck zu bringen. Eines stand fest, dass Geruckel auf den Stufen hatte Mario nicht gut getan. Er knirschte so laut mit den Zähnen, dass die Kinder es einfach nicht überhören konnten.

Endlich war es geschafft und den Vieren war es gelungen, Mario auch die Gangway hinunter auf den Kai zu schieben. Der Verletzte wischte sich die Stirn mit einem großen Taschentuch ab und die Kinder verschnauften für einen Moment. Die drei großen Jungs wechselten sich nun beim Ziehen der Sackkarre ab, und auch, wenn fünfhundert Meter für gewöhnlich keine wirklich weite Strecke sind, so erschien der Weg zu Onkel Johnys Praxis jedem der Kinder wie eine kleine Ewigkeit.

Auch Toto wollte Mario zumindest ein kleines Stück ziehen und so stoppte sie die Jungs. „Lasst mich auch mal“, forderte sie „ich bin viel stärker, als ich aussehe.“ Was blieb den anderen übrig, sie gaben Toto eine Chance. Mit aller Kraft stemmte das kleine Mädchen seine Beine in den Boden, aber die Sackkarre rührte sich nicht einen Zentimeter. „Mein Gott, bist du schwer, Mario!“, schimpfte Toto. „Da sind zwei Sack Jamaika-Kaffee einfacher zu transportieren als du, du dicker Klops.“ Opa Mario hielt sich den Mund und unterdrückte, so gut er konnte, das in ihm aufkommende Lachen. Nein, auslachen durfte er sie jetzt ganz bestimmt nicht. Denn, wer kannte schon das Temperament dieser kleinen Person besser als er? Hätte Toto bemerkt, dass er sie jetzt auslachte, dann wäre sie ihm, kaputtes Bein hin oder her, garantiert an seinen bärtigen Hals gegangen.

Der kleine Kapitän

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