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ОглавлениеProlog – Der schlimmste Anruf meines Lebens
2019 gab es mal eine ganz kurze Zeit, in der ich grübelte, ob ich mir nicht doch etwas vormache. Ob ich tief innendrin doch gar nicht so normal bin, wie ich immer glaubte. Ob ich das nicht immer nur mir und der ganzen Welt erzählte. Und ob meine fröhliche und lustige Art, die mir angeboren schien, nicht das typische Verhalten eines Clowns war. Des Clowns, der hinter seiner Maske ein trauriges Ich verbirgt. Und dessen Lustigsein eine Kompensation ist. Ein Verstecken des wahren Ichs. Oder sogar ein Bekämpfen innerer Dämonen.
Es ging mir damals über Wochen und Monate schlecht. Seelisch. Tatsächlich übermannten mich des Öfteren eine Traurigkeit, eine Dunkelheit und eine Hilflosigkeit, die ich nicht kannte. Ich war in passender Gesellschaft und in passenden Momenten durchaus gut drauf. Aber sobald ich alleine war, schien es, als habe jemand einen Stecker gezogen. Als werfe mir jemand eine schwarze Decke über den Kopf. Oder als rufe jemand lauthals: „Jetzt ist aber Schluss mit lustig.“
Und weil ich das alles nicht kannte, warf es mich zwischenzeitlich fast aus der Bahn. Mein Leben lang war ich immer nur dann traurig gewesen, wenn es in dieser Sekunde einen konkreten Grund gab. Ein verlorenes Fußballspiel oder eine andere sportliche Enttäuschung. Eine geplatzte Liebe. Eine schlechte Note. Sorgen um einen geliebten Menschen. Ja, und manchmal eben auch Zurückweisungen. Aber mit alledem bin ich immer gut fertiggeworden, die Probleme haben sich schnell in Luft aufgelöst und ich war der fröhliche alte Matze.
Diesmal hatte ich das Gefühl, in einer Abwärtsspirale zu sein, und ich kam da irgendwie nicht raus. Und in ganz schlimmen Momenten überfiel mich schon während des Fröhlichseins die Angst, dass nachher alles wieder anders sein wird. Dass die Traurigkeit mich wieder hinterrücks übermannen wird.
Heute weiß ich, dass ich eigentlich noch an gar keinem dramatischen Punkt war. Aber weil es mich so unvorbereitet traf und weil es so komplett wider mein Naturell war, zog es mir beinahe die Füße weg. Es überfiel mich im Schlaf, hielt mich fest im Schwitzkasten und hinterließ mich ratlos und hilflos. Weil ich nicht einmal genau wusste, was das eigentlich war. Also kamen kurzzeitig eben auch diese Gedanken: War ich also doch gar nicht so normal? War die Phase die Quittung für über 30 Jahre des unbewussten Selbstbelügens? Des Irrglaubens, ich sei normal und mein Kleinwuchs nun wirklich das geringste Problem? Auch diese Gedanken sorgten sicher dafür, dass ich mir schneller Hilfe suchte, als es die meisten anderen getan hätten. Dass ich das Problem schon im frühen Stadium viel größer machte, als es eigentlich war. Was im Nachhinein mein Glück war.
Ich hatte das Gefühl, ich rauschte mit einem Flugzeug aus 10.000 Metern auf den Abgrund zu und der harte Aufschlag sei nicht mehr allzu fern. Heute weiß ich – um im Bild zu bleiben –, dass ich wohl noch ein paar Tausend Meter Höhe hatte, als ich mir eingestand, Hilfe zu brauchen. Aber wie gesagt: Genau das war mein Glück. Denn heute geht es mir wieder richtig gut.
Ich suchte mir also Hilfe. Erst bei einem Sportpsychologen, dann bald bei einer Psychologin. Ich erzählte, erzählte und erzählte. Erst etwas zögerlich, bald sprudelte es wie ein Wasserfall aus mir heraus. Die Dame hörte geduldig zu, nickte zwischendurch immer wieder wissend und machte sich Notizen. Und wie es bei alledem wohl üblich ist, blickten wir auch zurück in meine Kindheit. Irgendwann stellte sich dann auch die Frage: Hat das alles vielleicht doch mit meiner Größe zu tun? Habe ich mir über 30 Jahre etwas vorgemacht? Habe ich mich selbst belogen? Holt mich nun alles ein? Nein, sagte meine Psychologin. „Nein, Herr Mester, ganz sicher nicht.“
Die Erleichterung stellte sich nicht gleich ein. Denn ich hatte mir diese Frage mein Leben lang nie so wirklich gestellt. Und nun, da sie auf dem Tisch war, wollte ich sie auch zufriedenstellend beantwortet haben. Doch die Psychologin versicherte mir mit fester Stimme, dass alles, was ich nun durchmache, völlig normal sei. Ich hatte eben in einem kurzen Zeitraum einige Dinge erlebt, die mich belasteten. Aber keines der Symptome sei schlimmer oder auch nur markant anders als bei normal großen Menschen. Und deshalb habe nach ihrer Erkenntnis nichts, was mich belastet, direkt oder indirekt mit meiner Größe zu tun. Wäre ich 1,90 Meter, würde es mir unter den gegebenen Umständen sehr wahrscheinlich genauso gehen.
Es dauerte ein paar Tage, bis sich die Worte in mir setzten. Bis ich sie wirklich tief und fest glaubte. Diese ungewohnten Zweifel hatten sich klammheimlich und hinterrücks in mich hineingeschlichen und dort breitgemacht. Und es dauerte nun auch eine Weile, bis sie geschlagen das Feld räumten. Als sie es taten, machte sich für einige Tage eine Euphorie in mir breit. Die aber noch nicht reichte, um mich von meiner dunklen Traurigkeit zu befreien. Was mir eben auch noch mal versicherte, dass die Probleme andere waren.
Und es war ja auch wirklich vieles passiert. Das Schlimmste von allem war der tödliche Autounfall von Janina, der Verlobten meines Bruders. Sie war gerade mal 26. Mein Bruder und ich haben ein sehr gutes Verhältnis. Und auch mit Janina habe ich mich richtig gut verstanden. Sie war für mich immer eine Bezugsperson. So etwas wie ein Anker. Mit ihr habe ich über sehr viele Dinge gesprochen. Sie war immer für mich da, hatte immer ein offenes Ohr und meist auch einen sehr guten Ratschlag.
Zudem lebten Janina und mein Bruder für mich den Prototyp einer glücklichen Beziehung. Eines Paares, das füreinander gemacht schien. Sie lernten sich früh kennen, schon in der Schule. Wussten schnell, dass sie zusammengehören. Nun, nach zehn Jahren Beziehung, hatten sie zwei Hunde, Emmy und Bruno, der Hausbau und die Hochzeit waren geplant und jedem in ihrem Umfeld war klar, dass das der logische und richtige Weg war. Die größte Frage in diesem Zusammenhang war die, wann ich Onkel werden würde.
Und dann kam dieser schreckliche Anruf. Es war der 10. Mai 2019. Ich war gerade ins Schwabenland gezogen, hatte morgens in Stuttgart trainiert und freute mich schon auf den Abend. Denn meine Mutter, meine Schwester, mein Bruder und Janina wollten mich in meinem Wohnort Esslingen am Neckar besuchen. Am Tag zuvor hatte ich eingekauft und wollte kochen, obwohl ich das grundsätzlich weder gerne mache noch gut kann. Aber für besondere Anlässe entwickele ich projektbezogen dann doch eine gewisse Freude daran.
Mitten im Training kam dann ein Anruf meiner Schwester, die völlig aufgelöst war. Es sei etwas Schlimmes passiert, schluchzte sie. „Janina hatte einen Unfall.“ Mehr brachte sie im ersten Moment nicht heraus. „Einen Unfall?“, fragte ich: „Was für einen Unfall? Was ist passiert?“ Für wahrscheinlich zwei, gefühlt aber 20 Sekunden herrschte Stille. Und dann sagte meine Schwester die schlimmsten Worte, die ich je in meinem Leben gehört habe: „Janina ist tot.“ Ich fühlte mich, als habe mich ein Blitz getroffen. Ich stand unter Schock. Aber für mich war sofort klar: „Alles klar, ich komme!“
Im Auflegen hörte ich noch, wie sie mir zurief, ich solle bloß vorsichtig fahren. Von Stuttgart bis ins Münsterland sind es immerhin fünf Stunden. Aber ich kannte nur noch ein Ziel. Ich schnappte mir meine Sporttasche, verabschiedete mich von meinem Freund und Trainingskumpel Niko Kappel sowie von meiner damaligen Freundin, die ebenfalls zur Trainingsgruppe gehörte, und stieg ungeduscht und in Trainingsklamotten ins Auto.
Während der Fahrt erlebte ich das komplette Kopfkino. Im einen Moment die totale Leere, im anderen Moment kullerten mir hemmungslos die Tränen herunter. Ich dachte an Janina, an meinen Bruder, an ihre Eltern und an meine Eltern, die sich wahrscheinlich Sorgen machten, ob ich unter diesen Umständen heil ankommen würde. Ich drehte die Musik auf, machte sie immer lauter und schließlich ganz aus, weil ich Musik nun nicht mehr ertragen konnte.
In Coesfeld angekommen, schloss ich meinen Bruder wortlos in die Arme. Minutenlang sagte keiner von uns beiden etwas. Wir trauerten einfach gemeinsam.
Mit einer solchen Geschichte umzugehen, ist unglaublich schwer. Weil du nicht darauf vorbereitet sein kannst. Und weil sie so unglaublich viele Ebenen hat. Du trauerst um einen Menschen, den auch du sehr gerne gemocht hast. Und du siehst um dich herum trauernde Menschen, die diesem Menschen noch näherstanden. Für die der Verlust im Alltag jede Sekunde spürbar ist und schmerzt. Und du leidest auch mit diesen, von dir so geliebten Menschen.
Das zweite Problem in dieser Phase war, dass ich gerade mit allen Hochs und Tiefs gegen das Ende einer langen Beziehung kämpfte. Es hatte alles wunderbar begonnen. Sie war zwar 1,82 Meter und damit genau neununddreißigeinhalb Zentimeter größer als ich. Doch am Anfang schien alles zu passen. Sie riss mich mit, sie verstand mich als Leistungssportler, meine Größe war für sie nie ein Thema. Um ihr nahe zu sein, zog ich sogar ins Schwabenland, wo ich des Öfteren mit Niko trainiert und sie so kennengelernt hatte. Irgendwann wurde aber leider klar, dass es in die falsche Richtung läuft. Wir taten uns gegenseitig nicht mehr gut, obwohl wir das doch so unbedingt wollten. Immer wieder kämpften wir uns nach oben, immer wieder gab es Rückschläge mit großer emotionaler Wucht. Und die Erkenntnis, es so sehr zu wollen, aber nicht in den Griff zu bekommen, war immer wieder eine Niederlage. Monatelang konnten wir nicht miteinander, aber auch nicht ohne einander. Gingen uns auf die Nerven, kamen aber auch nicht voneinander los. Heute habe ich mit der Sache meinen Frieden geschlossen. Weil ich mir nichts vorwerfen kann.
Dazu habe ich diese Phase eben in Esslingen verbracht, weit ab von meinem gewohnten Umfeld. Ich bin ein lockerer Typ, der schnell Bekanntschaften schließt, aber in einer solchen Situation willst du nicht irgendwen um dich herum. Da helfen nur echte Freunde. Und so gesehen hatte ich hier nur Niko. Zumal ich mich ohnehin schwertat. Die schwäbische Mentalität, die mir so viel negativer und skeptischer vorkam als die rheinländische oder auch die westfälische, war nicht die meine. Außerdem war ich weit weg von meinem Bruder, dem ich in diesem Moment so gerne zur Seite gestanden hätte. Und zu dem ich später bei meiner Rückkehr in die Heimat dann auch gezogen bin. Meine sportlichen Leistungen litten auch. Und mein Leben als öffentliche Person war schon so ins Rollen gekommen, dass sich die Termine ballten. Ich nahm damals einfach alles an, weil ich alles miterleben wollte und noch nicht so filtern konnte, wie ich es heute tue. Es war ein Teufelskreis.
Doch wie gesagt: Ich habe den Absprung rechtzeitig geschafft. Bekam die Kurve ein gutes Stück vor dem harten Aufprall. Und bekam quasi obendrauf die Bestätigung dessen, was ich gedacht hatte, immer zu wissen und vielleicht bis dahin doch in erster Linie nur gehofft hatte: Dass ich eigentlich komplett normal bin.
Wobei, nein, normal bin ich keineswegs. Ich bin schon anders. Augenscheinlich. Nur etwas mehr als jeder tausendste Mensch in Deutschland ist offiziell kleinwüchsig. Normal ist bei mir somit schon mal grundsätzlich fast gar nichts. Fast alles ist anders. Manches ist schlechter, vieles sogar besser. Das meiste aber eben einfach nur anders. Und für mich hat sowieso jeder Mensch irgendeine Behinderung. Der eine hat eine Brille, die anderen sind groß, dick, dünn, was auch immer. Und ich werde Ihnen nachher auch noch erklären, warum ich Größe ab einem bestimmten Punkt ebenso für eine Behinderung halte wie Kleinwuchs.
Natürlich hat mich mein Kleinwuchs geprägt. Natürlich habe ich vielleicht ein paar Hänseleien mehr einstecken müssen. Habe bei der Bewältigung mancher Probleme mehr Kreativität entwickeln müssen. Habe mir ein paar Dinge mehr erlauben dürfen. Und so manchen Erfolg etwas mehr genossen, weil ich es Spöttern und Skeptikern gezeigt hatte. Das alles hat meinen Charakter zweifelsohne geprägt. Und dennoch bin ich sicher: So furchtbar anders wäre ich nicht, wenn ich 1,80 Meter groß wäre.
Dennoch habe ich mich entschlossen, Ihnen von meinem Leben zu erzählen. Von den kleinen und großen Widrigkeiten. Und von den Erfolgen. Vor allem aber von dem, was ich erleben durfte. Als Mensch. Wenn Sie so wollen als „normaler Unnormaler“. Als Sportler, der Höhen und Tiefen erlebt und die Welt gesehen hat. Als Lausbub. Als Optimist.
Manche sagen, ich sei ein Vorbild. Für Kleinwüchsige, für Behinderte im Allgemeinen. Das war nie etwas, was ich angestrebt oder wonach ich gelebt habe. Spätestens als ich in der Öffentlichkeit stand, war mir aber schon bewusst, dass viele mein Handeln auf alle Kleinwüchsigen übertragen würden. Und dass daraus eine große Verantwortung entsteht. Doch ich habe mein Handeln nie danach ausgerichtet. Weil ich mich nicht verstellen will. Weil ich authentisch sein will und sein muss. Weil ich so am glücklichsten bin. Und all den rund 100.000 Kleinwüchsigen in Deutschland, quasi als Nebeneffekt, so auch am meisten nutze.