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ОглавлениеEinmal Karneval als Zwerg gehen
Es ist ein Spruch, der eigentlich keinen Sinn ergibt. Doch er schoss mir irgendwann mal spontan in den Sinn. Die Frage, welche Ziele ich im Leben habe, fand ich nämlich immer seltsam. Sie ist so allgemein, so schnell dahingefragt, erwartet aber eine tiefgründige Antwort. Eine, die ich nicht geben konnte. Denn was ist das eine Ziel im Leben? Also reagierte ich das eine oder andere Mal mit einem Spruch. „Mein Lebensziel? Einmal im Leben an Karneval als Zwerg gehen.“ Ich hielt das für eine super Antwort. Sie lässt das Gegenüber immer erst stutzen und dann lachen. Und ich merke immer, wie es in ihnen arbeitet. Lassen sie das Ganze nun einfach als Witz stehen oder haken sie nach? Meistens entschieden sie sich für Ersteres.
Und je öfter ich den Spruch bringe, desto mehr denke ich: Irgendwann solltest Du das wirklich mal tun. Ich habe mich an Karneval immer „normal“ verkleidet. Mal ging ich als Superman. Sehr gerne trug ich einen pinken Bademantel. Eben immer das, worauf ich gerade Lust hatte. Doch eines Tages werde ich mir Niko Kappel und fünf andere Kleinwüchsige packen, wir ziehen uns rote Mützen auf und gehen als die „7 Zwerge“. Das ist zwar nicht mein großes Lebensziel. Aber es wird ganz sicher ein großer Spaß.
Als Weihnachtself bin ich einmal gegangen. Aber das war kein Vergnügen. Zig Mal an dem Abend kam irgendwer auf mich zu, nannte mir irgendwelche Weihnachts-Wünsche und bat mich, sie dem Weihnachtsmann zu übergeben. Zumindest scheine ich authentisch gewirkt zu haben.
Karneval habe ich trotzdem eigentlich immer gemocht, in meinen Jahren in Köln habe ich ihn sogar richtig lieben gelernt. Im Karneval falle ich weniger auf. Normal sieht da keiner aus, da wirkt Kleinsein höchstens wie ein besonderes Gimmick. Und wenn jemand auf mich zukommt und sagt „coole Verkleidung“, dann empfinde ich es wirklich als normale Aussage in Bezug auf meine Verkleidung und nicht als Spruch über meine Größe.
Aber dass man in der Masse untertauchen kann, ist nicht der Hauptgrund, warum ich Karneval so mag. Es liegt eher an der Unbeschwertheit, am Miteinander, an der Lebensfreude. Alle sind fröhlich, alle liegen sich in den Armen, selten scheinen die Sorgen des Alltags weiter weg. Wenn „Viva Colonia“ erklingt, wenn „et Trömmelche jeht“ oder wenn sich die ganze Bar zur FC-Hymne „Mer stonn zo Dir, FC Kölle“ in den Armen liegt, dann fühle ich mich selig.
Und auch einige der witzigsten Erinnerungen verbinde ich mit Karneval. Ein Kumpel hat in einer eng besetzten Kneipe die ganze Zeit mit einer Frau gesprochen, die als Neytiri aus „Avatar“ verkleidet war. Sie war von oben bis unten blau angemalt. Irgendwann war mein Kumpel für eine Weile verschwunden. Als er zurückkam, fragte ich ihn, ob er mit der Frau rumgeknutscht habe. Er bestritt es heftigst, ich bekam einen Lachanfall und musste direkt ein Foto machen. Sein komplett blau verschmiertes Gesicht verriet ihn nämlich. Blaue Nase, blauer Mund, blaue Wange, da waren keine Fragen mehr offen.
Die kleine Nähmaschine
Niko Kappel nennt sich selbst „Bonsai“. So tauften ihn die Kollegen, als er in Sindelfingen in eine Trainingsgruppe Nichtbehinderter kam. Und da er auch über eine Menge Selbstironie verfügt, war er begeistert und hat sich den Namen gleich als Markenzeichen angeeignet. „Bonsai“ finde ich auch gut. Diese kleinen Bäume sind stark, gesund und schön. Das passt zweifellos zu Niko. Außer schön. Okay, war nur Spaß. Niko und ich necken uns den ganzen Tag auf diesem Niveau.
Doch alles in allem bin ich froh, dass ich einen Vornamen habe, der praktisch automatisch einen Spitznamen generiert. Als Mathias – mit einem „t“ natürlich, die mit zwei „t“ sind die Großen – war ich vom ersten Tag an eben „Matze“. Das klingt frech und pfiffig und nach einem Kumpel-Typ. Deshalb passt es wohl ganz gut zu mir. Und deshalb hat sich auch nie jemand wirklich Gedanken darüber gemacht, ob man mir denn nicht einen „echten“ Spitznamen verpassen müsste.
Doch einmal, während meiner Zeit als Fußballer, bekam ich kurzzeitig doch einen neuen Namen. Weil ich beim Laufen so kleine Trippelschrittchen machte, nannte ein Mitspieler mich „Die kleine Nähmaschine“. Ich selbst fand das gut, musste herzhaft lachen und nannte mich in der Folge manchmal selbst so. Aber irgendwann verlief das wieder im Sande. Den Transfer vom Fußball in die Leichtathletik hat der Name nicht wirklich geschafft. Zwar gibt es beim Speerwurf den sehr wichtigen Anlauf und auch den absolviere ich natürlich mit Nähmaschinen-Schrittchen. Doch das entscheidende ist der Wurf. Ich bin nun mal Speerwerfer und wenn mir einen Sportler-Spitznamen verpassen wollte, dann hätte dieser wohl eher mit dem Werfen zu tun und nicht mit dem Laufen.
In Marketing-Angelegenheiten oder beim Posten benutze ich gerne den „Weltmester“. Es ist ein Markenname. Naheliegend und doch einmalig. Aber ein klassischer Spitzname ist das nicht. Gerufen werde ich so eher selten. Alles in allem bin ich mit Matze mehr als zufrieden. Das gefällt mir, so kennt man mich und es erspart mir und den anderen die Gedanken, ob dieser oder jener Spitzname nun passend, schmeichelhaft oder vielleicht doch mit Blick auf meinen Kleinwuchs zwiespältig oder untauglich ist.
Klein anfangen ...
Jeder fängt mal klein an. Das gilt für mich natürlich im Besonderen. Wobei der Rückstand bei der Geburt gar nicht so furchtbar groß war. Als ich auf die Welt kam, war ich 48 Zentimeter groß. Das durchschnittliche Baby in Deutschland liegt bei 51 Zentimetern. Ich war also nur sechs Prozent kleiner als der Durchschnitt. Da der erwachsene Mann in Deutschland im Schnitt 1,80 Meter groß ist, wäre ich demnach bei gleichem Abstand heute 1,69 Meter groß. Oder andersherum gerechnet: Wäre der Unterschied schon bei der Geburt so groß wie heute, wäre ich mit 40 Zentimetern geboren worden.
Zum ersten Mal wirklich gemerkt, dass ich anders bin, habe ich im Kindergarten. Weil die anderen beim Sitzen alle längst mit den Füßen auf den Boden kamen und ich noch nicht. Und ich dann auch schnell farblich abgegrenzt war. Denn wir hatten zwei Sorten Stühle. Die mit dem grünen Punkt waren die kleinen, die mit dem roten Punkt die etwas größeren. Und manchmal saßen wir dann zusammen, ich auf einem grünen Stuhl inmitten ganz vieler roter. Es war gut gedacht vom Kindergarten, die Stühle farblich anders zu gestalten, damit man gleich sieht, ob es ein kleiner oder ein großer ist. Aber im Endeffekt wurde ich dadurch gebrandmarkt, auch wenn es kein größeres Trauma bei mir hinterließ.
Körperlich wurde der Abstand zu den normal großen Kindern aber immer größer und größer. Ich wuchs zwar, aber die Stühle und andere Dinge wuchsen ungleich mehr. In der Grundschule waren die meisten anderen schon ein gutes Stück größer als ich. Nur ein Junge, der Kleinste unter den normal Großen, überragte mich gerade mal um einen Kopf. Bei den Bundesjugendspielen musste er deshalb immer im Lauf-Duell gegen mich ran. War für den armen Kerl sicher auch eine ziemlich peinliche Situation. Aber er hat es sich zumindest nicht anmerken lassen. Zu mir persönlich war er immer sehr locker, aber sein Ehrgeiz, wenigstens mich zu schlagen, war umso größer. Was ihm nicht immer gelang. Ausgewachsen mit meinen einmeterzweiundvierzigkommafünf war ich dann etwa im selben Alter wie die normalen Großen.
Der Hausmeister unserer Schule war mein Freund. Er baute mir einen eigenen Haken, etwas tiefer als die der anderen, direkt neben der Tür. Auf der einen Seite hingen die Jacke des Hausmeisters und meine und auf der anderen Seite all die anderen. Das fand ich cool. Wer hat schon seinen eigenen, ganz persönlichen Haken? Ich war der Einzige, etwas Besonderes, und die anderen hatten einen 08/15-Haken. Das fühlte sich anders an als ein grüner Punkt.
In Goxel, meinem 800 Einwohner zählenden Heimatdorf, war ich nicht nur der einzige Kleinwüchsige, sondern auch der einzige Behinderte. Ich hätte jetzt, um das Wort zu vermeiden, eigentlich sagen wollen, der Einzige, der komplett anders war als die „Normalen“. Doch das hätte wiederum nicht gestimmt. Jedenfalls klingt diese Ausgangslage nach Problemen, nach Außenseitertum, nach Hänseleien und vielem mehr. Doch das Gegenteil war der Fall. Die Kinder eines Alters hingen auf dem Dorf immer zusammen rum. Und Kinder kennen noch keine Barriere. Bis wir in das Alter kamen, in dem man sich über so etwas Gedanken macht, war ich längst voll geachtetes und normales Mitglied unserer Clique.
Übermäßige Hänseleien oder sogar Mobbing musste ich nicht ertragen. Kinder sind zwar gemein, aber sie stürzen sich auf alles und jeden und suchen dessen Schwachstelle und beleidigen sich immer über das Offensichtliche. Der Dicke ist ein „Fettsack“, der Dünne eine „Bohnenstange“, der Große ein „Langes Elend“, der Kleine ein „Zwerg“. Man wird für seine Frisur gehänselt, seine Klamotten oder sonst irgendwas. Irgendeine Art von Behinderung hat ja jeder. Und sei es eine Vorstufe. Sechs Dioptrien auf einem Auge, eine überdimensional große Nase, was weiß ich. Bei mir hieß es dann eben: „Ey, du Zwerg“, wenn mich einer ärgern wollte. Aber darauf konnte ich mich einstellen. Mitschüler, die in der Pubertät Akne bekamen und plötzlich als „Pickelfresse“ oder „Streuselkuchen“ verunglimpft wurden, hatten es da wahrscheinlich schwerer. Und bei mir kamen die Sprüche in dieser Zeit wirklich verdammt selten. Wahrscheinlich, weil die anderen schnell den Eindruck bekamen, dass sie mich damit nicht ärgern konnten. Denn selbst, wenn sie mich genervt haben, schluckte ich meinen Ärger runter und reagierte nicht groß.
Aber tief in mir drin ließ es mich natürlich nicht komplett unberührt. Fast alle anderen hatten die Möglichkeit, sich zu überlegen: Ärgert mich das alles so sehr, dass ich etwas ändere? Oder stehe ich bewusst drüber? Wer zu dick war, konnte abnehmen. Wer eine zu dicke Brille hatte, konnte auf Kontaktlinsen umsteigen. Wer rote Haare hatte, konnte sie färben. Abstehende Ohren konnte man anlegen lassen. Ich konnte nicht wachsen. Ich konnte mich nicht entscheiden, das einfach zu ändern. Irgendwann drehte sich dieser Gedanke aber komplett. Irgendwann nahm ich das „Ich kann es ja nicht ändern“ nicht mehr als Belastung hin. Es war die Begründung, sich nicht mit solchen Dingen zu beschäftigen.
Was kurios war und ich erst im Rückblick so richtig registrierte: Ich hatte immer einen Beschützer. Egal, ob im Kindergarten, in der Grundschule oder später auf der weiterführenden Schule, es war immer jemand da, der auf mich aufpasste. Mein Helfer, mein Bodyguard. Im Kindergarten bestand die Hilfe eher darin, mir mal die Jacke auf- oder abzuhängen. Später sind meine Beschützer dazwischengegangen, wenn es doch einmal jemand wagte, mir einen blöden Spruch wegen meiner Größe zu drücken. Meist sprangen sie mir verbal zur Seite. In seltenen Fällen drohten sie denjenigen auch Dresche an. In manchen Zeiten habe ich mich gefühlt wie ein Banden-Boss, wie ein Ober-Mafioso. Zum einen hatte ich immer meinen eigenen Bodyguard dabei, zum anderen habe ich als Typ doch auch gerne mal den Ton angegeben. Ich glaube auch, dass es diese Mischung aus Mitleid und Respekt vor mir als Anführer-Persönlichkeit war, die in dem ein oder anderen den Instinkt geweckt hat, mein Beschützer sein zu müssen und zu wollen. Hätte ich damals gesagt: „Der mit der schwarzen Jacke und den Pickeln da drüben hat mich blöd angeschaut. Erteilt dem mal eine Lektion“, wären sie losgezogen und hätten ihn vermöbelt. In der Grundschule ist es dann auch das eine oder andere Mal vorgekommen, dass jemand, der mich beleidigt hatte, danach Ärger mit meinen Freunden bekam. Die handelten aber tatsächlich immer auf eigene Initiative. Einen Auftrag dazu habe ich nie erteilt. Später hat mich einer dieser Bodyguards – mein Nachbar, mit dem ich immer gemeinsam den Schulweg gegangen bin – vor einer Schlägerei bewahrt. Ich wollte gerade aus dem Bus aussteigen, als mir ein Mitschüler einen fiesen Spruch drückte. Ich habe natürlich entsprechend reagiert, er wollte sich auf mich stürzen und mein Nachbar ging dazwischen.
Im Endeffekt hatte ich während meiner gesamten Schulzeit nur eine einzige Schlägerei. Ansonsten hat mich mein friedliches Gemüt davor bewahrt, in den Kampf zu ziehen. Ich hatte einfach kein Interesse daran. Ich habe mich verbal gegen Beleidigungen gewehrt, aber ich war nicht aggressiv oder gar streitlustig. Und es hat sich vielleicht auch niemand so richtig an mich rangetraut. Weil sie sicher Respekt vor meiner Stärke hatten. Die hatte sich in der Schule schnell rumgesprochen, und ich tat im Sportunterricht auch einiges dafür, sie unter Beweis zu stellen. In letzter Konsequenz traute sich aber sicher auch deswegen keiner an mich heran, weil du bei einer solchen Nummer nur verlieren kannst. Vermöbelst du den armen Kleinwüchsigen, bist du ein Arsch. Verlierst du gegen den Kleinen, bist du die Lachnummer der ganzen Schule.
Eigentlich hatte ich deshalb nicht das Gefühl, einen Beschützer zu brauchen. Angenommen habe ich das aber doch immer sehr gerne. Es hat sich ja auch gut angefühlt. Thematisiert hat diese Rollenverteilung nie jemand. Es hat auch nie jemand theatralisch angekündigt: „Matze, ich passe ab heute auf dich auf!“ Es hatte sich immer einfach ergeben. Und ich habe es dann so hingenommen und belassen.
Im Rückblick war ich wohl immer auch einer der Klassen-Clowns, auch wenn ich das selbst damals nie so empfunden habe. Das Problem war: Ich konnte immer schon gut austeilen, weil mir immer lockere Sprüche in den Kopf geschossen sind und ich sie einfach rausgehauen habe. Im Gegenzug konnte ich am Anfang gar nicht gut einstecken. Ich musste mich erst daran gewöhnen, dass mir jemand auch mal fiese Sprüche drückte. Drüberzustehen, ohne alles persönlich zu nehmen. Aber Übung macht den Meister, inzwischen bin ich darin ein echter Profi.
Nur ein einziges Mal habe ich mich in der Schulzeit handgreiflich gewehrt. Ein deutlich größerer Typ mit raspelkurzen Haaren, gut anderthalb Köpfe größer als ich, hatte mich in der Turnhalle so sehr aufgezogen, dass mir die Nerven durchgegangen sind. Ich habe ihm zuerst in den Magen geboxt und dann, als er sich gebückt hat, rammte ich ihm mein Knie an die Nase. Er hat sich nicht einmal gewehrt. Und ich hatte nachher ein ganz schlechtes Gewissen – obwohl er es verdient hatte. Auch wenn ich heute nicht mehr weiß, worum es ging.
Als ich 19 war, geriet ich dann doch einmal in eine Schlägerei. Allerdings in eine ziemlich kuriose. Denn mit meinem Kleinwuchs und etwaigen Sprüchen oder Hänseleien hatte es damals nicht im Geringsten etwas zu tun. Ich war mit zwei Freunden unterwegs, einer von ihnen wurde provoziert und ging den Pöbler an. Also habe ich – zunächst zögernd und etwas widerwillig, aber doch im vollen Einsatz für meinen Kumpel – mitgemacht, um ihm zu helfen. Das Blöde dabei war: Irgendwann hatte sich ein kleiner Knäuel aus Jungs gebildet und ich wuselte natürlich unten rum. Mein Kumpel schlug dann mehrfach drauf – und traf jedes Mal mich, weil er mich nicht sah. Als wir später gemeinsam im Taxi saßen, brüstete er sich: „Dem hab ich’s aber gezeigt. Hast du das gesehen?“ Und er hat sich dann auch tatsächlich sehr geschämt, als ich antwortete: „Von wegen. Du Idiot hast mir auf den Kopf geschlagen. Immer und immer wieder.“
Fabian Thier: „Sein T-Shirt-Helikopter ist Kult“
Matze und ich kennen uns schon länger als unser halbes Leben. Und genauso lange sind wir schon befreundet. Ich habe in der Vorbereitung auf diese Zeilen überlegt, wo ich diesen Typen eigentlich aufgegabelt habe. Wann und zu welchem Anlass er in mein Leben trat. Ich weiß es nicht mehr. Er war irgendwann einfach da. Wir dürften elf oder zwölf gewesen sein. Wir sahen uns, wir mochten uns – und waren fortan befreundet. Und wir sind es immer noch.
Dabei sind unsere Lebensentwürfe in den vergangenen Jahren weit auseinandergegangen. Matze reist als Sportler um die Welt. Ich bin in Westfalen geblieben, sogar wieder zurück nach Goxel gezogen und habe drei Kinder. An unserem Verhältnis hat all das nichts geändert. Wann immer Matze in seiner Zeit in Köln oder Esslingen hierhergekommen ist, hat er sich gemeldet. Er ist einer der wenigen aus unserer großen Clique, die weggezogen sind, doch wenn er kam, ließen die meisten alles stehen und liegen. Selbst wenn er sich spontan auf den Weg in die Heimat machte und erst auf der Fahrt rundschrieb, kam noch am selben Abend ein großer Teil der Clique wieder zusammen. Und dann war es so, als hätten wir uns gestern das letzte Mal gesehen. Umgekehrt lässt auch Matze vieles stehen und liegen, wenn es bei einem von uns einen wichtigen Anlass gibt. So machte er zwischen zwei Trainingslagern eine Pause, um bei meiner Hochzeit dabei sein zu können.
Dass ich einen Gastbeitrag in seinem Buch schreiben darf, ist eine große Ehre für mich. Klar, Matze und ich waren beste Freunde in Teenager-Zeiten. Aber auch Teil einer großen Clique von 12 bis 14 Jungs. Wir waren allerdings weit mehr als Fußball- und Party-Kumpels. Wir haben uns auch oft sehr privat unterhalten, über Gefühle und Emotionen gesprochen, uns gegenseitig vieles anvertraut. Über die Schule, Eltern, Mädels und das Leben als solches. Sein Kleinwuchs war eher selten Thema. Doch wenn, dann ein intensives und wichtiges. Denn als Freund hat es mich gefordert, wenn er einmal traurig war.
Das passierte allerdings ausgesprochen selten. Denn was mich an Matze immer schon fasziniert hat: Er ist nahezu grenzenlos positiv. Ihn plagen kaum schlechte Gedanken. Und wenn wer anders solche hat, kommt Matze und macht den Tag wieder hell. Er ist ein bodenständiger Typ, steht felsenfest im Leben und sieht immer eher die Chance als das Risiko.
Das galt auch für den Fußball. Er dachte nie darüber nach, was er eventuell nicht schaffen könnte, wie alt, wie groß, wie schwer oder wie stark der Gegner war. Er steckte sich einfach das viel zu große Trikot in die Hose, stapfte auf den Platz und spielte. Und er war richtig gut. Wäre er nicht kleinwüchsig gewesen, hätte richtig was aus ihm werden können. Matze war sicher der beste Fußballer von uns allen in unserer Thekenmannschaft „Goxeler Dream-Team“. Mit Abstand. Die körperlichen Nachteile konnte er natürlich nicht immer ausgleichen, doch wenn er den Ball am Fuß hatte, war er kaum davon zu trennen. Und er hatte einen unglaublich festen und platzierten Schuss. Vor allem in der Halle, wo die körperlichen Nachteile nicht so hervortraten, war er eine echte Waffe. An diese Zeit auf den Bolzplätzen und in den Sporthallen erinnere ich mich noch unheimlich gerne zurück. Seit zwei Knie-Operationen vor mehr als zehn Jahren ist klar, dass ich nie wieder Fußball spielen werde. Aber diese wunderschöne Zeit nimmt mir niemand.
Für uns alle war Matze nie so etwas wie ein Klotz am Bein. Ganz im Gegenteil. Matze war für jeden Einzelnen wie für die gesamte Clique eine Bereicherung. Jemanden wie Matze kannst du mit Geld nicht bezahlen. Es gab in der Clique, wie in jeder anderen auch, unterschiedliche Charaktere. Manche waren eher melancholisch, andere launisch, doch wenn Matze in der Nähe war, hatten immer alle gute Laane.
Am Anfang, als er zu uns stieß, waren wir natürlich alle zunächst etwas abwartend und vorsichtig gewesen. Dass wir ihn mochten, war klar. Doch wir stellten uns die Fragen: Was kann er, was kann er nicht? Worauf müssen wir Rücksicht nehmen? Dürfen wir bestimmte Dinge nicht sagen oder nicht tun, weil er sie nicht kann? Ist er ein Streitfaktor, weil er überreagiert, wenn ihn jemand Fremdes blöd anschaut? Doch keine dieser Befürchtungen erwies sich als berechtigt. Zumal die Menschen, die Matze angafften, höchstens aus Neugier handelten, aber nie feindselig waren. Und so fiel es Matze und uns allen irgendwann leicht, dies einfach zu ignorieren.
Auch die Pubertät traf Matze nicht so schlimm wie andere. Er war zwar damals nicht so selbstbewusst wie heute, bei weitem nicht. Er war zurückhaltender, beobachtete vieles erst mal. Aber von schlechter Laune war er weit entfernt. Und er machte auch damals schon viele Witze über sich selbst. Machten andere Witze über ihn, prüfte er erst einmal, wie diese gemeint waren. Waren sie böse, nahm er sich das schon zu Herzen oder reagierte wütend. Heute lacht er über gute Witze. Und bei schlechten oder gemeinen dreht er sich einfach um und geht weg.
Ein wichtiges Thema in unseren Gesprächen – und da war er dann doch ganz der normale Teenager – waren die Frauen. Es war eine schwere Situation für ihn. Denn die Mädels standen auf ihn, in gewisser Hinsicht war er der Frauentyp schlechthin in unserer Clique. Alle mochten ihn, alle fanden ihn süß, alle suchten seine Nähe, er war ein sehr beliebter Gesprächspartner. Doch wenn es darum ging, mit einem zu gehen, entschieden sich die meisten lieber für andere Jungs. Für normal Große eben. Bewundernswert war, wie wenig sich Matze davon einschüchtern oder gar unterkriegen ließ. Er ist immer auf die Frauen zugegangen, hat sie angesprochen, hat mit ihnen getanzt und hat immer alles gegeben. Und wenn er eine Abfuhr bekommen hat, hat er nie den Kopf in den Sand gesteckt. Auch da half ihm seine positive Lebenseinstellung. Und das Wissen, dass die Abfuhren selten bis nie mit seiner Persönlichkeit zu tun hatten.
Ich denke, dass sich das heute schon etwas gebessert hat – und ich bin vor allem sicher, dass die Zeit weiter für Matze spielt. Für 16-jährige Mädchen war seine Größe sicher eher ein Problem als für 26-Jährige. Und 36-Jährige werden sich noch weniger daran stören, sondern viel mehr auf das Wesen achten.
Und da kann ich garantieren: Mit niemandem kann man so viel Spaß haben wie mit Matze. Auf meiner Hochzeit hatte er den ganzen Saal im Griff, aber er wird bei so etwas nie peinlich. Er kennt immer seine Grenzen, sowohl in Bezug auf Sprüche und Lautstärke als auch in Bezug auf seinen Alkoholpegel. Er kann für einen solch kleinen Mann unheimlich viel und unheimlich schnell trinken. Aber ich habe ihn in meinem ganzen Leben noch nie ausfallend gesehen. Ich habe auch nie erlebt, dass er abgestürzt wäre. Und aggressiv war er schon gleich gar nie.
Für einen kleinen Tick ist das Partybiest Matze Mester aber heute noch in Coesfeld und im ganzen Umkreis bekannt. Als wir 18 oder 19 waren, lief das Lied „Call On Me“ von Eric Prydz überall rauf und runter und Matze liebte diesen Song über alles. Sobald er die ersten Noten davon hörte – völlig egal, ob es in einem Partykeller war, auf einem Dorffest oder in irgendeiner Disco –, stürmte er sofort auf die Tanzfläche, zog sein T-Shirt aus und schleuderte es wie einen Helikopter über seinem Kopf. Das konnte er einfach nicht sein lassen. Es ging einfach mit ihm durch. Und die Reaktion der Menschen, die ihn nicht kannten, war immer dieselbe: Zuerst schauten sie reserviert, eine Mischung aus schockiert und beschämt. Nach spätestens einer Minute zogen die ersten wildfremden Menschen nach, stürmten auf die Tanzfläche, zogen ihr T-Shirt aus und wirbelten es über den Kopf. Und noch bevor das Lied zu Ende war, war die ganze Tanzfläche voller nackter Jungs mit einem T-Shirt-Helikopter über dem Kopf.
Matze hat damals, obwohl er einfach nur das tat, was ihm in den Kopf schoss und worauf er Lust hatte, einen richtigen Kult geprägt, der bis heute überlebt hat. Auch das zeigt, wie mitreißend er ist. Die Menschen folgen ihm. Selbst in Dingen, die sie am Anfang noch etwas seltsam finden mögen. Der Hype um sein „Call On Me“-Ritual führte schließlich sogar dazu, dass wir unsere Hobby-Mannschaft umbenannten. Aus dem „Goxeler Dream-Team“ wurde das „Team OKF“ – Ober-Körper frei. Und jeder wusste, was gemeint ist.
Wenn ich mir heute anschaue, welche Entwicklung Matze genommen hat, bin ich unglaublich stolz auf ihn. Vor allem, weil ich bei jedem Fernsehauftritt noch genau den Matze Mester erkenne, der damals bei uns in der Goxeler Siedlung wohnte, im zu großen Trikot über den Fußballplatz lief, mit mir im Keller über Mädchen sprach oder in der Disco sein Shirt zu „Call On Me“ auszog. Er ist nicht überheblich oder arrogant geworden, nur weil er nun Aufmerksamkeit oder sogar Berühmtheit erlangt hat oder weil er es vom Kreisliga-Fußballer zum Weltmeister geschafft hat. Und er trägt auch keine Genugtuung vor sich her, ganz nach dem Motto: „Ich hab es doch immer gewusst.“ Auch wenn er zurück nach Goxel kommt, läuft er nicht als Star durchs Dorf, sondern als der Goxeler Jung, der er immer war. Er ist freundlich und offen zu allen, grüßt jeden und macht Witze – am meisten über sich selbst. Selbst Spöttern aus vergangenen Tagen reicht er symbolisch die Hand. Er könnte sagen: „Ihr könnt mich mal, ihr habt damals gelästert, ich brauche euch nicht.“ Doch er, der Harmonie-Mensch Matze Mester, freut sich einfach darüber, dass die Lästerer ihre Meinung geändert haben.
Natürlich weiß Matze schon, dass er mit seiner Prominenz ein Botschafter ist. Er weiß, dass er eine gewisse Verantwortung hat, weil es viele Kleinwüchsige in Deutschland gibt und Dinge, die er tut, auf andere projiziert werden. Diese Verantwortung nimmt er ernst. Er überlegt schon, was er tut, und noch mehr, was er lässt, wenn er sich in der Öffentlichkeit bewegt. Ohne dass er sich dadurch als Mensch verändert hätte.
Oft schickt er mir Fotos, wenn er auf Sportbällen, Ehrungen oder sonstigen Veranstaltungen prominente Menschen trifft. Selfies mit Angela Merkel oder Joachim Gauck, Wladimir Klitschko oder Verona Feldbusch. Nicht, um zu zeigen, wie toll er ist. Sondern weil er selbst darüber staunt und es genießt, was er da alles in der großen, weiten Welt erleben darf. Und wenn ich bei diesen Fotos auf sein Grinsen achte, muss ich immer sofort schmunzeln und denke: Das isser, Matze, mein Freund.
Als wir uns beim letzten Mal darüber unterhalten haben, was er so alles erlebt hat in den vergangenen Monaten und Jahren, da sagte ich irgendwann: „Weißt du was, Matze, eigentlich müsstest du ein Buch schreiben.“ Er grinste verschmitzt und sagte: „Du wirst lachen. Das tue ich gerade.“ Dass er mich auserwählt hat, ein Teil davon zu sein, macht mich unglaublich stolz.
Fabian Thier, Jahrgang 1985, ist einer der besten Jugendfreunde von Mathias Mester.