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ОглавлениеKindermund – Mein Leben als wandelndes Fragezeichen
„Mama, schau mal, da ist David, der Kabauter.“ „Mama, Mama, guck mal, das Kind da hat einen Bart!“ Es war lange Zeit schon gewöhnungsbedürftig für mich, das gebe ich offen zu, wenn Kinder hinter mir in Zimmerlautstärke über mich sprechen. Und das passiert ständig. Immer, mehrfach am Tag. Kinder tragen ihr Herz auf der Zunge. Und sie haben tausend Fragen. Und ich laufe in ihren Augen als wandelndes Fragezeichen durch die Welt. 99 Prozent der Kinder reagieren auf mich. Manche schauen nur, staunen, rätseln. Einmal ist ein Kind sogar mit dem Roller gestürzt, weil es mir so entgeistert nachgeschaut hat. Vor allem aber stellen die allermeisten Kinder Fragen. Ganz ungeniert. Aber nicht an mich. Sondern an ihre Eltern.
Als ich selbst noch ein Kind oder ein Jugendlicher war – die Formulierung „als ich klein war“ wäre bei mir etwas bizarr –, gab es solche Situationen nur vereinzelt. Wir waren alle Kinder, der eine etwas größer, der andere etwas kleiner. Und auch wenn man mir aufgrund der anderen Merkmale deutlich ansieht, dass ich kleiner bin, war es damals vielleicht nicht ganz so augenscheinlich. Nicht in einer Sekunde zu erfassen, wie es das später werden würde. Doch irgendwann war den Kindern klar, dass ich deutlich älter, aber nur unwesentlich größer bin als sie.
„Mama, schau mal, der kleine Mann da“, das höre ich jeden Tag. Oder auch: „Papa, schau mal, da läuft ein Zwerg.“ Am häufigsten höre ich die einfache Frage: „Warum ist der Mann da so klein?“ Die Reaktionen der Mütter und Väter sind dabei extrem unterschiedlich. Manche sind mit der Situation überfordert und verbieten ihrem Kind in panischer Hektik den Mund. „Schhht“, sagen sie und drücken ihnen den Zeigefinger auf die Lippen. Ich weiß nicht, ob sie wirklich glauben, dass ich das nicht mitbekomme. Und ob sie sich darüber Gedanken machen, dass nun sie es waren – und nicht ihr Kind –, die mir das Gefühl gegeben haben, nicht normal zu sein. Und dass sie vor allem ihrem Kind das Gefühl geben, diese armen, kleinen Menschen bloß nicht hören zu lassen, dass man sich fragt, warum sie klein sind. Manche lügen ihre Kinder auch einfach an: „Das ist kein kleiner Mann“, sagen sie: „Das ist ein Kind, das sieht nur älter aus.“ Und wenn die Kinder dann sagen: „Kein Kind hat einen Bart“, ziehen sie sie weg und sagen so was wie: „Schluss jetzt, Ende der Diskussion.“
Die meisten Eltern antworten gut, indem sie es als die normalste und einfachste Sache der Welt behandeln. „Das ist eben so“, sagen sie dann: „Es gibt große Menschen und kleine, dicke und dünne, alte und junge.“ Wenn sie merken, dass ich es mitbekommen, folgt oft ein fragender Blick zu mir herüber. Er will heißen: „War das okay so?“ Ich nicke dann kurz und freundlich und gehe weiter.
Sehr gut gefallen mir die Eltern, die antworten: „Ich weiß es nicht. Frag den Mann doch einfach selbst.“ Sie ziehen mich damit zwar in die Sache hinein, aber es ist mir lieber, wenn ich den Kindern Quatsch erzählen darf, als wenn sie es tun. Unter den Kindern dieser Eltern gibt es dann drei verschiedene Typen. Die einen klammern sich sofort an Mamis Bein, verstecken sich dahinter und genieren sich. Sie spreche ich dann manchmal von mir aus an, um ihnen zu zeigen: Vor mir braucht man keine Angst zu haben. Die zweite Gruppe Kinder, die meisten davon im Grundschulalter, überfällt mich derweil arg ungestüm und fragt mit einem herablassenden Unterton: „Ey du, warum bist du denn so klein?“ Auf solche neunmalklugen Naseweise habe ich keine Lust, und so antworte ich ihnen meist: „Was willst du denn? Ich bin doch größer als du.“ Meist reicht das schon, um sie abzuwimmeln.
Am liebsten sind mir natürlich die Kinder, die leicht scheu, aber doch neugierig, lieb und offen auf mich zukommen und mich in einem netten Ton und vorsichtig fragen. Für sie würde ich mir immer Zeit nehmen, und wenn es hundert an einem Tag wären. Meine liebste Antwort an sie ist aber dennoch eine lustige. Denn mit einem „Das ist halt so“ sind Kinder nicht zufriedenzustellen. Und biologische Erklärungen führen in dem Alter auch zu wenig – zumal ich nicht der Typ dafür wäre, diese liefern zu können. Also sage ich: „Das liegt daran, dass ich, als ich so alt war wie du, meinen Teller nicht immer leer gegessen habe.“ In diesem Moment schaue ich dann fragend zu den Eltern („Okay so?“) und ernte meist ein freudiges Lächeln oder einen in die Luft gereckten Daumen. Sie freuen sich in diesem Moment diebisch darüber, dass ihr Kind künftig wohl sogar den ungeliebten Spinat und den ekligen Rosenkohl bis auf den letzten Rest aufessen wird.
Natürlich sind nicht alle Kinder mit solch einer Antwort zu beruhigen. Einige glauben mir nicht, und daran ändert dann auch der kurzzeitige Schock über diese unerwartete Antwort nichts. „Quatsch“, sagen sie dann oft bockig: „Stimmt ja gar nicht.“ Ein Mädchen, es mag wohl so sieben gewesen sein, schrie mich sogar an. „Du lügst“, dann schlug sie mit dem rechten Arm wütend in die Luft, presste ihre Puppe mit dem linken an sich und spazierte mit dem festen Schritt eines Armeesoldaten von dannen.
Wie gesagt, im Großen und Ganzen komme ich mit diesen Situationen gut klar. Manchmal nerven sie, manchmal habe ich keinen Kopf dafür oder es wird mir einfach zu viel. Aber meistens habe ich Freude daran, mit den neugierigen Kindern zu kommunizieren.
Richtig schlimm finde ich das Getratsche und Getuschel in meinem Rücken aber auch heute noch bei einem ersten Date. Wenn ich eine Frau, vielleicht mit Mühe und Not, dazu überredet habe, mit mir auszugehen, droht diese Fragerei im Rücken alles kaputtzumachen. Und wenn ich das Glück hatte, dass für eine Frau das Problem meiner Größe zunächst keines war, dann wird sie in diesem Moment daran erinnert, dass es eben doch eines sein könnte.
Es ist nicht angenehm, wenn du mit einer Frau, die du für dich gewinnen willst, durch die Stadt läufst und plötzlich spürst du: Die Kinder hinter dir gaffen dich an, stellen ihren Eltern die altbekannten Fragen. In diesem Fall ergänzt durch die Variante: „Was macht die große Frau mit dem kleinen Mann?“ Du wolltest der Frau beweisen, dass alles kein Problem ist. Und plötzlich befindet ihr euch in dieser Ausnahmesituation. Und ich weiß: Sie bekommt das mit, so wie ich es mitbekomme. Dann befällt mich schlagartig der panische Gedanke: Wird sie das vergraulen? Wie wird sie damit umgehen, dass sie in dieser Sekunde darüber nachdenken muss, dass es so wohl immer sein wird, wenn sie mit mir durch die Stadt läuft? Wird sie es genauso gut ignorieren und in Teilen sogar lieb gewinnen können wie ich? Und wenn ja: Wie lange wird dies dauern?
Auch diese Angst habe ich im Laufe der Jahre in den Griff bekommen. Besser sie werden gleich damit konfrontiert, denke ich mir dann. Ganz frei machen von diesem Unwohlsein kann ich mich aber nicht. Denn du spürst: Hier passiert gerade etwas, hier beginnt etwas zu arbeiten in der Frau. Und es ist etwas, worauf du keinen Einfluss hast. Und spätestens, wenn ich dann spüre, dass ihre Stimmung kippt, dann kippt auch meine: Dann verfluche ich plötzlich diese kleinen Monster, die mir sonst mit ihrer Neugier und ihrer Offenheit doch so oft ein Lächeln ins Gesicht zaubern.
Sie werden sich nun fragen: Wünschst du dir nicht ab und zu einfach deine Ruhe? Wünschst du dir nicht, einfach mal durch die Straßen gehen zu können, ohne angegafft zu werden? Meine Antwort: Nein, ich wünsche es mir nicht. Ich brauche dieses Aufsehen nicht, aber es gehört vom ersten Tag an zu meinem Leben dazu. Mal mehr, mal weniger, aber es war immer da. Nerven tun mich nur diejenigen, die nervig sind: frech, herablassend, beleidigend. Alle anderen ignoriere ich – oder ich erfreue mich an ihnen.
Kurioserweise sind die Reaktionen auf mich übrigens überall auf der Welt ähnlich. Der Sport hat mir schon viel von der Welt gezeigt. Ich war in China, in Indien, in Taiwan. Doch dort bin ich weder eine größere noch eine kleinere Attraktion als hier. Vor der Reise nach China hatte ich mich schon ein wenig damit beschäftigt. Man konnte überall lesen, dass es Behinderte in China schwer haben. Dass sie von den Eltern versteckt werden und ein behindertes Kind Schande über eine Familie bringt. Aber dort waren die Reaktionen nicht neugieriger oder herablassender als überall anders auf der Welt.
Gabi Mester: „Es ist das Normalste der Welt“
Ich muss zugeben: Im ersten Moment war die Nachricht für mich ein Schock. Mathias war ein Wunschkind, unser erstes, und im siebten Monat rechnet man eigentlich nicht mehr mit Problemen. Wenn man dann hört, dass das Kind behindert sein wird, ist das erst einmal keine schöne Nachricht.
Die kommenden zwei Monate waren auch nicht leicht. Wir haben viel nachgedacht und alles gelesen, was wir in die Finger bekamen. Es gab aber niemanden, mit dem wir reden konnten, denn wir kannten bis dahin niemanden, der ein kleinwüchsiges Kind hatte. Seltsam waren zu diesem Zeitpunkt die Tuscheleien in der Siedlung. Irgendwann war es herausgekommen, dass wir ein behindertes Kind bekommen würden, und dann verselbstständigten sich die Gerüchte und Geschichten.
Doch wir hatten uns bald mit dem Gedanken arrangiert und uns war bewusst, dass es sicher Schlimmeres gibt als ein kleinwüchsiges Kind. Für eine Abtreibung war es auch theoretisch zu spät, aber das wäre auch zu einem früheren Zeitpunkt nie und nimmer ein Thema geworden. Und ab dem Tag, an dem Mathias auf die Welt kam, war alles ganz normal. Für uns, und auch für alle Menschen in der Nachbarschaft. Natürlich gab es Dinge, auf die man bei einem kleinwüchsigen Kind besonders achten musste. Zum Beispiel, dass man den Kopf anders halten muss, weil dieser unverhältnismäßig schwer ist. Aber das lernten wir, so wie alle Eltern beim ersten Kind viele Dinge lernen müssen.
Bei der Geburt maß Mathias 48 Zentimeter. Das war eigentlich gar nicht so viel weniger als bei einem normal großen Kind. Doch man sah direkt, dass die Ärmchen und Beinchen deutlich kürzer waren. Und vor allem hinkte er von da an größentechnisch immer hinterher. Es dauerte, bis er zwei war, ehe er halbwegs laufen konnte, weil es auf den kleinen Beinchen eben einfach schwerer war.
Klar war uns, dass wir nicht der Verlockung nachgeben durften, ihm alles abzunehmen, nur weil er klein war. Das war natürlich besonders schwierig, weil er unser erstes Kind war, wir keine Erfahrung hatten und man dann viel mehr den Reflex hat, auf alles achten zu müssen. Aber wir wussten: Er musste sich erst einmal selbst bei allem durchbeißen, und er war auch durchaus in der Lage dazu. Wenn wirklich mal etwas nicht klappte, konnten wir ja immer noch eingreifen.
Aber Mathias war schon als Kind ein charmantes Schlitzohr. In der ersten Zeit im Kindergarten kam er zum Beispiel einfach durch die Tür rein und stellte sich hin. Dann kamen sofort alle auf ihn zugestürmt, nahmen ihm die Jacke ab und hingen sie auf. Dem Kleinen wollten alle helfen. Und er bedankte sich ja auch immer sehr artig. Bis wir irgendwann einschritten und sagten, dass damit Schluss sein muss. Sonst wäre all unsere Erziehung zur Selbstständigkeit für die Katz gewesen.
Das Haus umgebaut haben wir nicht. Es war so okay. Mathias kam überall ran, viele Maßnahmen wollte und brauchte er nicht. Nur die Lichtschalter, die Toilette und Türklinken haben wir etwas tiefer montiert. Und die Gläser stellten wir nach unten. Da mussten wir uns dann eben mal bücken, statt dass er klettern musste. Das war nur fair.
Grundsätzlich war es aber so, dass wir uns viel mehr sorgten als er selbst. Während wir uns Gedanken machten, ob dies oder jenes gutgehen könnte, war Mathias längst losgetigert und machte es einfach. Ihn störte seine Behinderung nicht, er dachte nie darüber nach. Es stimmt auch, dass er mich nie gefragt hat, warum er so klein ist. Ich hätte ihm auch nicht wirklich etwas sagen können. Uns wurde erklärt, es sei ein Gendefekt, aber Genaues wusste man nicht. Wahrscheinlich war man vor 35 Jahren auch einfach noch nicht so weit.
Aber für Mathias war seine Größe das Normalste der Welt. „Ich bin nicht behindert. Ich bin nur klein“, protestierte er, kaum dass er reden konnte. Und wenn ich im Grundschulalter mit ihm durch die Stadt lief und mich aufregte, weil die Menschen um uns rum starrten und tuschelten, sagte er nur: „Ach Mama, lass sie doch. Mir macht das nichts aus.“ Ich kann heute in solchen Situationen auch auf Durchzug stellen und weghören, aber ich habe viele Jahre dafür gebraucht.
Dass wir nach ihm noch weitere Kinder wollten, stand für uns zu jedem Zeitpunkt außer Frage. Natürlich haben wir die Ärzte gefragt, wie groß das Risiko sein würde, dass auch das zweite Kind kleinwüchsig werden würde. Aber abgesehen davon, dass dieses angeblich minimal war, hatten wir uns zuvor schon entschieden. Denn selbst wenn: Wir hatten ja erlebt, dass ein kleinwüchsiges Kind wahrlich kein Drama war. Und wenn das zweite auch so klein gewesen wäre, wäre Mathias wenigstens nicht alleine gewesen.
Grundsätzlich haben wir natürlich versucht, alle drei Kinder gleich zu behandeln. Aber in Gänze war das einfach gar nicht möglich. In mancher Hinsicht musste man einfach mehr auf ihn aufpassen oder ihm helfen. Wenn er zu Freunden ging, mussten wir berechnen, wann er etwa dort ankommt und kurz vorher anrufen, damit er überhaupt reinkam. Sonst hätte er stundenlang vor der Tür gestanden, weil er an die meisten Türklingeln nicht rankam.
Bei den Großeltern, Tanten und Onkels hatte er durchaus ein wenig den „B-Bonus“, wie seine Schwester mal schmunzelnd sagte – den Behinderten-Bonus. Dort wurde er schon verhätschelt. Für uns war es auch nicht leicht, dem sechs Jahre jüngeren Bruder zu erklären, warum der ältere Mathias auf den Schränken rumturnen durfte und er nicht. Aber ich denke, insgesamt haben wir das alles gut hinbekommen. Und seine Geschwister haben sich nie beschwert, dass sie benachteiligt würden, obwohl sie es sicher das eine oder andere Mal gedacht haben. Aber sie haben wohl erkannt, dass sich alles in einem Rahmen bewegte, der aufgrund der Umstände angemessen war.
Sehr schön ist für uns deshalb, heute zu sehen, dass die Kinder ein sehr gutes Verhältnis untereinander haben. Auch wir Eltern haben ein gutes und enges Verhältnis zu allen dreien, auch wenn sie mittlerweile alle flügge geworden sind.
Ein Außenseiter war er zum Glück nie. Sogar ganz im Gegenteil. Alle Menschen in der Siedlung akzeptierten und mochten ihn. Im Kindergarten war es sowieso nie kritisch, weil dort nur Kinder aus der Siedlung waren, die ihn alle kannten. Als er auf die höhere Schule kam, gab es zu Beginn einige Hänseleien, aber die hörten sehr schnell auch wieder auf. Der Sport gab ihm schon früh Selbstvertrauen, und er hatte seine große Clique, die Gold wert war. Auch weil sie immer alle auf ihn aufpassten. Und Mathias war einfach ein Junge wie alle anderen auch. Er hatte oft Quatsch im Kopf und baute oft Mist, aber nie wirklich schlimme Sachen.
Als Mathias auszog, war das natürlich kein einfacher Schritt. Für uns wie für ihn. Ich machte mir schon viele Sorgen, ob das alles klappen könnte. Das Wäsche machen, das Putzen und vor allem das Einrichten, Schränke aufbauen, Bilder aufhängen. Ohne dass jemand Gewehr bei Fuß stehen würde, wenn es nicht klappen würde. Aber auch da hat er sich keine Gedanken gemacht und es einfach umgesetzt. Insgesamt ist er sicher in vielem arg sorglos, es ist ja auch irgendwie seine Stärke, nicht alles totzugrübeln. Aber für eine Mutter ist es eben nicht beruhigend, wenn das Kind komplett ohne Angst und Scheu durch die Welt geht.
Was er allerdings nie wollte, war, auswärts zu schlafen. Immer wieder ging er zu Freunden, packte einen kleinen Rucksack und hatte das feste Vorhaben, dort zu übernachten. Doch spätestens um zehn oder halb elf rief die Mutter des Freundes an und bat, ihn abzuholen. Woran das lag, wissen wir nicht. Er war auch nicht panisch oder so, er wollte einfach nur nach Hause. Damals dachten wir: Er wird wohl nie zu Hause ausziehen. Den Sprung hat er dann irgendwann geschafft, aber der Abnabelungsprozess nach dem Umzug hat etwas länger gedauert. Anfangs stand er jeden Mittwoch auf der Matte, und das hat uns natürlich gefreut. Aber es war auch schön zu sehen, als er irgendwann komplett auf eigenen Beinen stand. Der Sport hat ihm dabei sicher wie bei vielem anderen sehr geholfen. Und er sah in der neuen WG in Leverkusen auch eine Aufgabe: Er musste sich um Marc kümmern. Der war ja schließlich behindert. Obwohl der sich auch nicht so fühlte. Er war ja nur sehbehindert.
Das Gefühl des „Normalseins“ war bei Mathias auch immer so ausgeprägt, dass er sich nie hätte vorstellen können, eine kleinwüchsige Freundin zu haben. Als er ein Teenager war, sind wir mit ihm zu einem Kleinwuchs-Treffen gefahren. Ich sagte im Auto eher beiläufig: „Vielleicht findest du dort ja ein nettes Mädchen.“ Er hörte sofort auf zu reden und schaute mich völlig entgeistert an. Sein Blick sagte: „Mama, traust du mir etwa nicht zu, eine normal große Freundin zu finden?“
Gefunden hat er solche inzwischen häufiger. Leider hat es nie furchtbar lange gehalten. Ob er mich irgendwann noch mal zur Großmutter macht, weiß ich nicht. Das ist aber auch nicht wichtig. Wichtig ist, dass er eines Tages die Richtige findet. Und daran glaube ich, genau wie er, ganz fest.
Bei Mathias’ Wettkämpfen sind wir natürlich immer extrem nervös. Obwohl das Ergebnis für Eltern irgendwie zweitrangig ist. Sie sind stolz auf ihr Kind, egal, den wievielten Platz es am Ende belegt. Und natürlich schwingt auch immer eine Sorge mit. Die Kraftbelastung für seinen kleinen Körper ist schon enorm. Deshalb habe ich schon ein wenig gehofft, dass er nach Rio aufhören würde. Hätte er dort Gold gewonnen, hätte er es wahrscheinlich auch getan. Ziemlich zeitnah machte er uns aber klar, dass er weiterkämpfen wird. Ich akzeptierte das natürlich, es ist seine Freude, es treibt ihn an. Nun bin ich dennoch sehr froh, dass er nach dem Gewinn der Europameisterschaft im Juni 2021 in Polen seinen Rücktritt vom Leistungssport beschlossen hat.
Aber wenn wir ihn heute an der Seite von Angela Merkel oder dem Bundespräsidenten sehen, dann können wir gar nicht sagen, wie stolz wir auf ihn sind. Nicht mal nur auf den reinen sportlichen Erfolg, sondern vor allem auf die Tatsache, mit welchem Durchsetzungsvermögen er dort angekommen ist. Mein Mann und ich sitzen manchmal auf der Tribüne oder vor dem Fernseher und sagen uns: „Schon krass, was aus ihm geworden ist. Als wäre es das Normalste der Welt.“ Aber eigentlich wissen wir: Das ist es doch auch.
Gaby Mester, Jahrgang 1964, ist Mathias Mesters Mutter.
Ich bin nicht behindert. Ich bin nur klein!
Mit dem Begriff „behindert“ habe ich ehrlich gesagt ein Problem. Ich fühle mich nicht behindert im Sinne von übermäßig eingeschränkt. Wenn mich jemand plakativ als Behinderter anspricht, entgegne ich für gewöhnlich: „Ich bin nicht behindert. Ich bin nur klein!“
Ich kann schließlich alles. Und ich führe ein in meinen Augen komplett normales Leben. So normal, dass ich – auch wenn mir das vielleicht niemand glauben mag – meine Eltern vor der Arbeit an diesem Buch nie gefragt habe, weshalb ich überhaupt kleinwüchsig bin. Aber das Warum war zu keinem Zeitpunkt meines Lebens eine Frage, die mich bewegt hat. Es war einfach so, ich habe mich damit arrangiert. Vielleicht hätte mich das Warum beschäftigt, wenn es einen Hinweis darauf hätte geben können, was man dagegen tun kann. Aber mir war klar: Es war so, es ließ sich nicht ändern. Und ich war so, wie ich bin, zufrieden und glücklich. Auch schon ohne den sportlichen Erfolg, der sich erst Jahre später einstellte.
Dabei gab es in meiner Kindheit viele Erlebnisse, nach denen ich meine Größe hätte hinterfragen können. Zum Beispiel, als wir im Biologie-Unterricht über Hormone gesprochen haben. Der Lehrer erzählte irgendwas davon, was passiere, wenn sich dieses Hormon mit jenem nicht vertrage. Dann werde jemand kleinwüchsig. Für kurze Zeit war es still im Klassenraum, dann schauten mich alle an und plötzlich zeigten alle mit dem Finger auf mich. „Hier! Matze! Wir kennen ja einen!“, riefen dann alle wild durcheinander. Der Lehrer fragte mich, was denn bei mir konkret die Gründe für meinen Kleinwuchs wären. Ein solch „lebendes Beispiel“ habe man schließlich nicht immer zur Hand, um den Schülern etwas anschaulich zu vermitteln. Aber ich konnte ihm keine Antwort geben. Und ich habe meine Mutter auch an diesem Mittag nicht danach gefragt. Weil das Thema zwischen der dritten Stunde und dem Mittagstisch für mich schon wieder erledigt war.
Mein Wissen über meinen Kleinwuchs beschränkte sich auf die Tatsache, dass meine Eltern schon vor der Geburt wussten, dass ich kleinwüchsig werden würde. Aber ich habe zum Beispiel auch nie gefragt, ob es denn keine Therapie gegeben hätte. Es gibt ja Kinder, die sind einfach nur klein. Lionel Messi zum Beispiel hatte Wachstumsstörungen. Er war mit 13 auch erst 1,40 Meter groß. Doch bei ihm war es hormonell behandelbar. Heute ist er 1,70 Meter. Und das reicht ihm, um der beste Fußballer der Welt zu sein. Und wie ich nun sehe, reichen ein Meter zweiundvierzigkommafünf auch, um einer der besten Para-Speerwerfer der Welt zu sein.
Mir war klar: Ich muss schon zweifelsfrei kleinwüchsig sein, sonst hätten meine Eltern sicher etwas unternommen. Aber auch so ist alles in Ordnung. Ich denke, es gibt Männer von 1,65 Meter, die mit ihrer Länge ein größeres Problem haben als ich. Sie hadern wahrscheinlich öfter damit, warum sie so klein sind. Und ich, der noch mal zweiundzwanzigeinhalb Zentimeter kleiner ist, betrachte dies als die normalste Sache der Welt.
Ich dachte mir immer: Ich bin halt ein bisschen kleiner, das ist so, fertig. Auch wenn die logischste aller Erklärungen von vornherein wegfiel. Denn genetisch bedingt ist mein Kleinwuchs nicht, ich bin der erste meiner Art im gesamten Stammbaum.
Toll finde ich, dass meine Eltern sich auch nicht haben beirren lassen. Ich war ihr erstes Kind und nach mir haben sie noch zwei weitere bekommen. Auch das hat mir das Gefühl gegeben, dass ich nichts furchtbar Besonderes oder gar Abschreckendes war. Zwei Jahre nach mir kam meine Schwester zur Welt, vier weitere Jahre später mein Bruder. Und beide sind normalwüchsig. Melanie ist 1,61 Meter groß, Marco 1,80 Meter.
14 Jahre lang war ich auch mal nicht der Kleinste in der Familie, dann zogen irgendwann auch meine Cousins wieder vorbei. Aber das waren für mich keine schlimmen Momente. An den Tag, ab dem mein kleiner Bruder oder meine kleine Schwester größer waren als ich, kann ich mich nicht erinnern. Es waren keine einschneidenden Erlebnisse in meinem Leben. Was ich dafür umso erfreuter verfolgt habe, war die Tatsache, dass meine Oma – die ausgewachsen etwa 1,65 Meter maß – mir immer mehr entgegenkam und irgendwann fast so klein war wie ich. Im Alter wächst man ja in die umgekehrte Richtung. Irgendwann klagte Oma mal: „Ach Matze, ich werde immer, immer kleiner.“ Und ich antwortete: „Keine Angst, Oma. Es ist schön hier unten.“ Trotzdem hoffe ich, dass mir das Altersschrumpfen erspart bleibt. Schließlich ist da nicht mehr viel Luft.
Als ich mich nun näher damit beschäftigt habe, ist mir aufgefallen, wie verwirrend die Definition von Kleinwuchs ist. Manchen Einstufungen zufolge gelten Frauen unter 1,50 Meter als kleinwüchsig und Männer unter 1,65 Meter. Aber Danny de Vito (1,52 Meter), Prince (1,58) oder Bernie Ecclestone (1,59) sind trotz ihrer „Größe“ augenscheinlich nicht kleinwüchsig. Nach dieser Definition würden aber sogar Bruno Mars, Nicolas Sarkozy oder Silvio Berlusconi fast zu „uns“ gehören – sie alle messen auch nur 1,65 Meter. Aber es gibt eben einen Unterschied zwischen klein gewachsen und kleinwüchsig. Dieser Unterschied sollte mich später im Sport noch beschäftigen und kräftig ärgern. Dabei ist er zum einen einfach zu erklären und zum anderen eigentlich auch ganz leicht zu erkennen. Denn Kleinwüchsige sind nicht nur ein paar Zentimeter kürzer, sie haben auch andere Proportionen. Wobei bei mir zum Beispiel der Oberkörper völlig normal ist. Wenn ich sitze, komme ich mit den Beinchen nicht bis auf den Boden. Aber wer ab der Tischkante meinen Oberkörper sieht, denkt, ich sei normal groß. Ich bin eben ein Sitzriese. Kann auch nicht jeder von sich behaupten. Nicht einmal jeder Kleinwüchsige, denn es gibt ja unterschiedliche Auswüchse. Auch ein schönes Wort in diesem Zusammenhang.
Jedenfalls führte mein Sitzriesentum auch schon zu absurden Situationen. Wenn ich zum Beispiel am Tisch sitzend irgendwem vorgestellt wurde, dann aufstand und merkte, wie mein Gegenüber mit etwas entgleisten Gesichtszügen von oben bis unten an mir herunterschaute. Meist lasse ich dann einen Spruch ab, der die Situation entkrampft. So was wie: „Die Schuhe sind super, oder?“
Was mir auch erspart blieb, sind die oft extremen O-Beine mancher Kleinwüchsiger. Ein leichtes O habe ich, aber das ist minimal. Und meine Oma ist sich sicher, dass das vom Fußball kommt. Ich kenne Kleinwüchsige, die sich in ihrer Jugend die Beine operativ begradigen lassen mussten. Andere haben sich sogar operativ vergrößern lassen. Ich hatte mich auch mal kurz darüber informiert. Aber diese Menschen waren nach der OP ein Jahr eingeschränkt, weil es Stück für Stück geschehen muss. Und da habe ich mir gesagt: Der ganze Aufwand für 10 oder 15 Zentimeter? Vergiss es! Du hast eine OP, liegst ein Jahr rum und nachher ist es schlimmer als zuvor. Da hatte ich keine Lust drauf. Und wie gesagt: Ich habe unter meiner Größe nie so gelitten, dass ich nachhaltig dachte, ich müsste daran irgendwann etwas ändern.
Meine Form des Kleinwuchses heißt jedenfalls Achondroplasie. Und diese hat bestimmte Merkmale. Bei mir sind es die (leichten) O-Beine, ein Hohlkreuz, ein dicker Po, verkürzte Gliedmaßen und ein auffällig großer Kopf. Eigentlich ist mein Kopf normal groß, aber eben auch nur für normal große Menschen. In meinem Fall ist er demnach unproportional groß. Böse Zungen behaupten auch, ich habe O-Arme, doch die sehen sicher nur wegen der vielen Muskeln so aus. Fakt ist, dass mein Oberarm extrem verkürzt ist. Wodurch man dicke Muskeln einerseits schneller sieht. Sie andererseits aber auch schneller schmerzen, weil sie einfach nicht wissen, wohin.
Aber auch innerhalb derselben Behinderung gibt es noch einmal Unterschiede. Mein schon eingangs erwähnter Freund Niko Kappel zum Beispiel, der 2016 in Rio Paralympics-Gold im Kugelstoßen gewann, hat grundsätzlich dieselbe Behinderung wie ich. Aber er ist deutlich schwerer, obwohl er extrem gut austrainiert ist. Er hat einen größeren Kopf und auch einen größeren Hintern – womit ich ihn natürlich immer kräftig aufziehe. Und wenn wir zusammen Quatsch machen, sage ich immer zu ihm: „Ich fürchte, da wird man uns beide einen Kopf kürzer machen. Aber dann bin ich immer noch zwei Zentimeter größer als du.“
Wenn Sie sich jetzt fragen, woher ich den Namen meiner Behinderung wusste: Den haben mir meine Eltern in meiner Kindheit mal mitgegeben. Nachfragen hatte ich keine. Und auch im Kleinwuchstreff, den ich als Junge öfter besucht habe, wurde mir dieser Begriff direkt genannt. Aber er war für mich einfach ein Abstraktum, ein Name. Kleinwuchs hieß für mich Achondroplasie. So wie ein Baum Baum heißt, ein Hund Hund und ein Auto Auto. Es war genug Erklärung für mich und bedurfte keiner weiteren Information. Ich hätte ihn im Laufe meines Lebens vielleicht einfach googeln können, dann hätte ich die Gründe für meinen Kleinwuchs gewusst. Aber obwohl ich eigentlich ein von Grund auf neugieriger Mensch bin, hat es mich eben nie interessiert. Ob ich Angst davor hatte, etwas Schlimmes zu erfahren? Falls ja, musste das sehr tief im Unterbewusstsein sitzen, denn das Gefühl hatte ich nie. Aber googeln Sie, warum Ihre Nase etwas größer ist? Ihr Kinn etwas hervorsteht? Ihre Beine im Verhältnis zwei Zentimeter kürzer sind? Einige von Ihnen sicher. Aber viele andere sicher auch nicht.
In meinem Sport treffe ich Menschen mit Einschränkungen aller Art. Und wenn ich die Kollegen sehe, die im Rollstuhl sitzen, denen ein Bein amputiert wurde – oder gar beide – oder die blind sind, dann denke und fühle ich das gleiche, wie die meisten anderen Menschen auch: „Ich weiß nicht, ob ich das könnte!“ In jedem Fall bin ich mir sicher, dass sie es viel schwerer haben als ich. Im Leben wie im Sport. Tauschen würde ich mit keinem von ihnen wollen. Was bei mir aber dann kein Mitleid hervorruft. Weil ich weiß, dass auch die meisten meiner Sportler-Kollegen das weder wollen noch brauchen. Sie brauchen nur eines: Respekt! Respekt davor, wie sie ihren Alltag und ihren Sport meistern. Diese Menschen, die ohne Rollstuhl nichts können, geben anderen Menschen die Botschaft mit, wie fröhlich und selbstbestimmt sie ihr Leben gestalten. Während andere jammern, wenn sie sich den Fingernagel einreißen.
Bei den Paralympics habe ich mal einen Schwimmer ohne Arme und ohne Beine gesehen. Der schwamm wie ein Delfin durch das Wasser. Mit einer Selbstverständlichkeit, die mir höchste Anerkennung abrang. Man fragte sich, wie das anatomisch überhaupt möglich war. Aber er fragte sich das offenbar nicht. Er machte einfach. Sprang ins Becken und schwamm los. Das war mal ein echtes Zeichen, was man alles schaffen kann. Und diese Botschaft nehme auch ich auf. Mein Gott, du bist nur klein! Also jammer nicht rum!
Gleichwohl möchte ich mich aus der Welt der Behinderten – de facto bin ich nun mal einer – nicht demonstrativ verabschieden. Ich weiß, dass es viele Menschen gibt, die mit ihrem Kleinwuchs nicht so gut zurechtkommen wie ich. Die meist noch etwas kleiner sind als ich. Deren Einschränkungen dadurch etwas größer sind. Und die es auch mehr belastet, von den Mitmenschen als anders empfunden und angestarrt zu werden. Manch einer misst gerade mal 70 oder 80 Zentimeter und geht mir bis zur Brust. Der Unterschied zwischen uns ist größer als der zwischen mir und normal großen Menschen, der ja meist nur bei 30 bis 40 Zentimetern liegt. Und mit dieser Größe hat man natürlich richtig Probleme. Das Laufen fällt schwerer. Ein Stuhl reicht meist nicht, um an bestimmte Dinge heranzukommen. Weil der Stuhl wiederum so groß sein müsste, dass man als solch kleiner Mensch kaum draufklettern kann.
Dem Begriff „behindert“ begegne ich natürlich überall. Bei Organisationen, Briefwechseln, selbst mein Sportverband nennt sich „Deutscher Behindertensportverband“. Das, was ich tue, ist nicht einfach Sport, es ist Behindertensport. Es gab sogar Zeiten, da wurden wir offiziell in „Schadensklassen“ eingestuft. Was für ein furchtbarer Begriff! Zwischendurch versuchte man es dann betont gegensätzlich mit dem Begriff „Leistungsklassen“. Heute spricht man einfach nur noch von Klassen und benennt sie. Meine zum Beispiel heißt F41. Das F steht für „Field“, also für eine technische Disziplin nach der englischen Unterscheidung der Leichtathletik in „track und field“. Wobei es eine Klasse T41 bei uns nicht gibt, weil bei den Kleinwüchsigen keine Lauf- und keine Sprung-Disziplin paralympisch ist. Aber eigentlich ist doch alles ganz logisch. Warum also nicht gleich so?
Natürlich spreche ich offiziell und ganz selbstverständlich auch vom Behindertensport. Das Kind heißt nun einmal so. Deshalb werde ich Begriffe wie „Behinderung“ oder „Behindertensport“ immer wieder benutzen müssen. Gefallen tun sie mir überhaupt nicht. Aber die Alternativen sind auch nicht besser. Versehrtensport, Handicap-Sport, Sport für Menschen mit Einschränkungen. Mannomann. Kann sich da bitte mal jemand was Nettes einfallen lassen? Immerhin hat sich inzwischen vielerorts die Bezeichnung Para-Sport durchgesetzt. Für viele ist und bleibt es aber Behindertensport.
Ich merke ja selbst, welche Abwertung man mit diesen Begriffen hervorruft. Wenn ich erzähle: „Ich bin Leistungssportler und war kürzlich in Rio“, dann sagen alle: „Wow, cool. Da warst DU dabei? Überragend!“ Obwohl sie natürlich sehen, dass ich klein bin und ihnen klar ist, dass ich nicht bei Olympia gegen 1,95 m große Konkurrenten angetreten bin. Sage ich aber von mir aus: „Ich bin Behindertensportler und war bei den Paralympics dabei“, bekommt der Ton meines Gegenübers direkt etwas Mitleidiges. Und statt Begeisterung ernte ich dann oft ein Schulterklopfen mit den verlegenen Worten: „Schön, dass du dabei warst.“
Das Wort „behindert“ enthält etwas Bemitleidenswertes, Hilfsbedürftiges. Aber so fühle ich mich nicht. Und das bin ich auch nicht. Ich will nicht in Watte gepackt und gesondert behandelt werden. Und das möchten auch meine Kolleginnen und Kollegen nicht, denen ein Bein oder ein Arm amputiert wurde. Sie und wir alle wollen ganz normal akzeptiert und behandelt werden. Das kann doch nicht so schwer sein!
Gerade die Kollegen, die ich im, nun ja, „Behindertensport“ treffe, leben auch vor, dass sie kein Mitleid brauchen. Prothesen-Sprinter Heinrich Popow zum Beispiel, mein guter Freund, dem als Kind wegen einer Krebserkrankung ein Bein abgenommen wurde. Wenn ich sehe, mit welcher Offenheit, welchem Humor und welcher Selbstironie er durchs Leben geht, da können sich viele Nichtbehinderte eine Scheibe abschneiden. Und wenn uns Dinge passieren aufgrund unserer Behinderung, dann ist das kein Drama. Der sehbehinderte Sprinter Thomas Ulbricht ist bei den Paralympics in Rio in den Pool des Deutschen Hauses gefallen. Ganz einfach deshalb, weil er ihn nicht gesehen hat. Auf einmal machte es platsch, und er lag drin. Manche haben sich umgedreht und verschämt gelacht, andere sind direkt hingerannt und wollten dem armen Kerl raushelfen. Thomas ist einfach aus dem Pool geklettert und weiter gings. Es war ja nichts passiert. Er ist nass geworden, fertig. Mitleid brauchte er dafür keins. Und er selbst hat die Geschichte seitdem schon einige Male fröhlich lachend erzählt.
Mein Stolz verbietet es mir meist auch, die möglichen Vorteile auszureizen. Ich habe einen Behindertenausweis – noch so ein Wort –, der mich als 60 Prozent eingeschränkt ausweist. Wenn ich den zücke, gehen Türen auf. Aber ich bin niemand, der mit dem in die Luft gereckten Behindertenausweis durch die Welt läuft und versucht, links und rechts die Vergünstigungen einzusammeln. Weil ich nicht das Gefühl habe, dass das Leben mir übel mitgespielt hat und ich somit das Recht hätte, mir so viel wie möglich zurückzuholen. Ich könnte natürlich auch den ganzen Tag die Mitleidsschiene fahren. Kaum jemand würde mir die Hilfe verweigern. Aber ich bin froh, dass ich alles oder zumindest das allermeiste kann. Und ich empfände es als unfair denen gegenüber, die wirklich solche Einschränkungen haben, dass sie auf Hilfe angewiesen sind.
Sechzehn neunzig – Immer diese Scheiß-Toleranz
Okay, ich gebe zu, manchmal, in ganz seltenen und besonderen Fällen, versuche ich doch, Kapital aus meiner Behinderung zu schlagen. Und verzweifle dann an der Toleranz meiner Mitmenschen. Ich erinnere mich noch gut an einen Tag im Zoo von Münster. Ich wollte an der Kasse den ermäßigten Behindertentarif zahlen. Und die Frau am Schalter sagte ohne jede Regung: „Ja klar, haben Sie Ihren Ausweis dabei?“ Ich lächelte kurz und sagte: „Der war gut.“ Dann legte ich die abgezählten 12,90 Euro für die ermäßigte Karte hin. „Denken Sie, ich mache Witze?“, fragte die Frau, nun mit einem barschen Unterton. Jetzt wurde ich unsicher. Meinte die das ernst? Hing hier irgendwo eine versteckte Kamera? Ich konnte kaum über die Theke schauen, sie war im Sitzen größer als ich im Stehen und sie fragte mich ernsthaft nach einem Ausweis? „Nein, habe ich nicht“, sagte ich: „Meine Statur ist mein Ausweis.“ Doch auch das zog nicht. „Hören Sie mal, junger Mann“, sagte die Dame, und nun klang sie fast ein wenig herrisch: „Die Regeln sind doch ganz einfach: Kein Ausweis, keine Ermäßigung. Haben Sie einen?“ „Nein“, sagte ich. „Macht sechzehn neunzig“, sagte die Dame. Ich zahlte und dachte: Immer diese Scheiß-Toleranz!
Manchmal, aber wirklich noch viel seltener, mache ich mich auch noch ein bisschen behinderter, als ich bin. Wieso das, werden Sie sich fragen. Das verträgt sich doch nicht mit all dem bisher Gesagten. Ja, das stimmt, doch ich spreche natürlich von Ausnahmesituationen. Situationen, in denen ich die Ohnmacht gegenüber den Kindersprüchen in meinem Rücken beim ersten Date umdrehen will. Wenn ich versuche, eine Frau gleich von meinen besonderen Vorteilen und Vorzügen zu überzeugen. Dann leihe ich mir auch schon mal einen Behindertenausweis von Freunden, die 100 Prozent haben und das Merkzeichen aG, also „außergewöhnliche Gehbehinderung“. Mit dem darf ich nämlich zum Beispiel am Kino bis vor die Tür fahren. Was ich mit meinem Ausweis mit 60 Prozent nicht dürfte. Damit kann man ganz schön auf dicke Hose machen. Damit kann ich der Frau etwas bieten, was nur ich ihr bieten kann. Okay, ich muss dafür ein bisschen schummeln. Aber das klappt letztlich immer, weil die wenigen Parkwächter, die das kontrollieren, meist nicht genau genug informiert sind. Sie sehen einen Behindertenausweis und einen Behinderten, und das passt dann zusammen. Wie viel Prozent dieser oder jener normalerweise haben müsste, entzieht sich ihrer Kenntnis.
Beim zweiten Date muss ich dann aber doch die Hose runterlassen. Denn immer kann ich das nicht bringen. Allein schon wegen der Gewissensbisse. Schließlich klaue ich im Endeffekt einem wirklich Bedürftigen den benötigten Platz am Eingang. Und das kann ich vor meinem Gewissen nur dann verantworten, wenn ich – blind vor Verliebtheit – den Egoismus ausnahmsweise über die Empathie stelle.
Im Endeffekt möchte ich nicht klagen, aber andererseits den Nachteil -oder meinetwegen auch die Behinderung – Kleinwuchs keineswegs bagatellisieren. Und ich möchte die Chance nutzen, hier einmal ausführlich zu erzählen, was in meinem Leben anders ist als in dem Leben gewöhnlich großer Menschen. In dem Wissen, dass man am Ende, unter dem Strich, zu einem anderen Gesamturteil kommen kann als ich, der kleine Dauer-Optimist, der ewige Positiv-Denker.
„Wir“ sind nicht alle gleich
Ich habe mich zwar auch immer ein wenig für das Leben anderer Kleinwüchsiger interessiert. Geschaut, was sie so machen. Aber ich habe nie zwanghaft ihre Nähe gesucht. Es gibt bestimmte Gruppen von Behinderten, die fast nur untereinander kommunizieren. Die feste Communities haben, dauernde Treffen, wo sich die Personen aus Schleswig-Holstein und aus Bayern fast alle kennen, wenn sie die gleiche oder ähnliche Behinderung haben. Bei Kleinwüchsigen, oder zumindest bei mir und den meisten, die ich kenne, ist das nicht so. Ich suche weder den Kontakt zu anderen Kleinwüchsigen, noch meide ich ihn. Ich habe Kontakt mit Menschen, die mir sympathisch sind. Egal, wie groß oder klein, dick oder dünn, alt oder jung sie sind, wo sie herkommen und welche Sprache sie sprechen. Und es gibt unter den Kleinwüchsigen prozentual sicher genauso viele Arschlöcher und nette Menschen wie unter allen anderen auch. Und für mich gilt: Ob kleines Arschloch oder großes Arschloch, ist egal. Und genauso eben, ob ich kleine nette Menschen treffe, normale nette oder große nette.
Auf Kleinwüchsige in der Öffentlichkeit achte ich natürlich auch etwas mehr. Aber ich habe auch nicht den Drang, mich jeden Tag und über alles, was sie machen, zu informieren. Natürlich sagt mir zum Beispiel ChrisTine Urspruch etwas. Die kleinwüchsige Schauspielerin, die in den Münster-Tatorten mitspielt oder auch das Sams war. Sie sehe ich gerne. Weil ich sie als Schauspielerin gut finde. Aber wenn sie Erfolge feiert, denke ich nie: „Super, eine von uns!“ Ebenso kenne ich keinen Neid nach dem Motto: „Warum der oder die und nicht ich?“
Ein bisschen empfindlich bin ich aber, wenn sich Kleinwüchsige aus Geltungsdrang zum Deppen machen. Zum Beispiel habe ich schon vom „Zwergenfangen“ in Discos gehört. Alle müssen den Kleinwüchsigen jagen, und wer ihn fängt und in den Käfig sperrt, der gewinnt einen Flatscreen-Fernseher. In solchen Momenten denke ich dann schon: „Junge, was machst du da? Du machst uns alle lächerlich.“
In den USA und Australien kam in den 1980er-Jahren auf Jahrmärkten das „Dwarf-Tossing“ auf, also das „Zwergenwerfen“. Möglichst große, kräftige Menschen schleuderten Kleinwüchsige in Schutzkleidung möglichst weit auf eine Matte. Es gab eine Weile tatsächlich große Wettkämpfe darin, 1986 sogar eine Weltmeisterschaft. Auch zu Beginn des Hollywood-Streifens „The Wolf Of Wall Street“ mit Leonardo Di Caprio veranstalten die Broker ein Zwergenwerfen. Verschiedene Menschenrechtsorganisationen liefen mit Verweis auf die Menschenwürde Sturm gegen diese Form der „Unterhaltung“. In Deutschland ist es seit 1993 offiziell verboten. Allerdings klagten im Gegenzug sogar einige Kleinwüchsige gegen das Verbot. Es waren diejenigen, die sich in diesen Wettbewerben durch die Gegend schleudern ließen. Das waren nämlich nicht irgendwelche Kleinwüchsige, sondern immer dieselben. Und die verwiesen darauf, dass sie damit ihren Lebensunterhalt verdienten. Dafür habe ich irgendwo schon Verständnis. Und eigentlich denke ich auch, dass jeder tun und lassen kann, was er will. Wenn sich jemand durch die Luft werfen lassen will, dann soll er das normalerweise tun. Das Problem in diesem Fall ist die Öffentlichkeit. Denn sich beim „Zwergenwerfen“ als Witz-Objekt zur Belustigung anderer durch die Luft schleudern zu lassen, kann anderen Kleinwüchsigen durchaus schaden. Und das sollten auch diese Menschen nie vergessen.
Es ist aber leider doch ein Problem des Kleinwuchses, dass die meisten Menschen uns alle über einen Kamm scheren. Obwohl wir so unterschiedlich sind, wie Menschen es nun mal sind. Ich weiß nicht, wie oft ich schon gefragt wurde, ob ich Peter Dinklage bin, der Schauspieler aus „Game of Thrones“. Nur, weil er der einzige Kleinwüchsige ist, der vielen Menschen geläufig ist. Und wenn sie dann tatsächlich mal einen Kleinen auf der Straße sehen, denken sie sofort: „Das ist doch der.“ Genauso werde ich andauernd mit Niko Kappel verwechselt. Dabei gleichen wir uns optisch so gut wie überhaupt nicht. Niko ist etwas kleiner und etwas breiter als ich. Er ist zehn Jahre jünger, hat hellblonde Haare und einen viel dünneren, kaum sichtbaren Bart. Und dennoch werden er oder ich dauernd gefragt, ob wir nicht der andere sind. Da fragt man sich schon manchmal, ob die Leute wirklich so oberflächlich sind. Oder ob sie einfach keine Augen im Kopf haben.
Wenn ein Kleinwüchsiger, der in der Öffentlichkeit steht, sich in die Hose machen würde, müsste ich mich tagelang dafür rechtfertigen. Oder wenn ein bekannter Kleinwüchsiger beim Gang ins Bordell gesehen werden würde, hätte sich ruckzuck das Klischee verbreitet: Die Zwerge sind alle notgeil! Also denke ich bei allem, was ich tue – nicht zuerst, aber letztlich doch immer – daran, dass ich zu einem gewissen Grad in der Öffentlichkeit stehe. Und obwohl ich normalerweise immer das mache, was ich will, nehme ich mich dann manchmal zurück. Weil ich nicht möchte, dass irgendein anderer Kleinwüchsiger sich deshalb zu Unrecht rechtfertigen muss. Je mehr ich öffentlich wahrgenommen werde, desto mehr ist mir auch bewusst, dass damit eine Verantwortung für andere einhergeht. Auch wenn das nicht nur mir gegenüber unfair ist, sondern auch gegenüber allen anderen Kleinwüchsigen. Denn sie sind Individuen, genau wie ich und jeder andere auch. Ich verwechsele doch auch nicht Barack Obama und Bob Marley, nur weil beide dunkelhäutig sind. Naja, zumindest hat mich noch nie jemand mit ChrisTine Urspruch verwechselt.
Doch ich merke allein schon über die sozialen Kanäle, welche Verantwortung ich für das Bild der Kleinwüchsigen habe. Und wie wichtig ich für sie als Anlaufstation bin. Auffallend viele Kleinwüchsige schreiben unter meine Fotos, liken meine Seite oder schicken mir private Freundschaftsanfragen. Was mich besonders freut, ist, dass ich fast nie negative Rückmeldungen bekommen habe. So nach dem Motto: „Was machst du da für einen Scheiß, das fällt auf uns alle zurück.“
Nur einmal gab es einen Kleinwüchsigen, der in den sozialen Medien eine Zeitlang unter jedem Post von mir gestänkert hat. Er beschwerte sich, ich würde mich über Kleinwüchsige lustig machen. Irgendwann schrieb ich ihn an und erklärte ihm, dass ich mich über mich selbst lustig mache und nicht über ihn. An einem sachlichen Austausch war er aber offenbar nicht interessiert. Und als er auch danach immer wieder dieselben Sprüche unter meine Bilder postete, habe ich ihn blockiert. Ich kam auch nicht ins Grübeln, ob ich den Kleinwüchsigen vielleicht doch schade, weil er eben bis heute der Einzige dieser Art war. Und ich im Gegenzug hundertfach Lob und Zuspruch bekommen habe.
Besonders gefreut hat mich ein Autogrammwunsch von Eltern, die mir schrieben, dass ihre kleinwüchsige Tochter ein ganz großer Fan von mir sei. Ich habe ihnen ein Autogramm geschickt und sie haben sich überschwänglich bedankt. Leider gab es zu meiner Zeit als Kind keinen bekannten kleinwüchsigen Sportler. Doch wenn es ihn gegeben hätte, hätte ich ihn wahrscheinlich auch angeschrieben, um ein Autogramm zu bekommen. Deshalb konnte ich mich wunderbar in das kleine Mädchen hineinversetzen und hatte allein bei dem Gedanken wahrscheinlich mindestens ein genauso großes Lächeln auf dem Gesicht wie sie. Auch Niko hat noch ein Autogramm von mir. Darüber müssen wir heute beide immer herzhaft lachen.
Und natürlich findet man in unserem Sport haufenweise potenzielle Vorbilder. Menschen, die sich einerseits durchgebissen haben, die Widrigkeiten bekämpft haben. Die sich aber – und das ist das noch Entscheidendere – nicht ständig über ihre Einschränkungen beklagen, sondern die sich einfach normal finden, so wie sie sind. Und dies dann damit auch vermitteln.
Manchmal schreiben mir auch kleinwüchsige Frauen, dass sie mich sympathisch oder sehr hübsch finden. Ich bedanke mich meistens artig dafür. Kleinwüchsige junge Männer schicken mir eher Fragen zum Sport. Wie ich dazu kam, wo ich trainiere und ob sie das auch könnten. Einen habe ich nach einigen Nachrichten sogar mal mit zum Training nach Leverkusen genommen. Doch leider hatte sich das sehr schnell schon wieder erledigt, weil er merkte, dass es nichts für ihn war.
Einmal habe ich für meinen Wunsch, in der Öffentlichkeit auf Kleinwuchs aufmerksam zu machen, kräftig Lehrgeld bezahlt. Das Bundesministerium des Inneren hatte mich für eine Werbekampagne angefragt. Ich habe mir das ehrlich gesagt gar nicht genau durchgelesen. Ich dachte, das kann nur gut sein. Und ein bisschen Geld habe ich auch noch dafür bekommen. Danach habe ich gesehen, dass ich für das Bundes-Teilhabegesetz geworben habe. Dieses war unter Behinderten sehr umstritten, weil es für viele ein Rückschritt im Kampf um Inklusion war. Das Gesetz hatte eigentlich das Ansinnen, „Menschen, die aufgrund einer wesentlichen Behinderung nur eingeschränkte Möglichkeiten der Teilhabe am Leben in der Gemeinschaft haben, aus dem bisherigen ,Fürsorgesystem‘ herauszuführen und die Eingliederungshilfe zu einem modernen Teilhaberecht weiterzuentwickeln“. Aber viele kritisierten, dass es im Endeffekt eine größere Bevormundung durch die Behörden bedeute. Es gab Proteste im Internet mit dem Hashtag #nichtmeingesetz, die „Bundesvereinigung Lebenshilfe für Menschen mit Behinderung“ startete eine Unterschriftenaktion mit über 70.000 Unterschriften, der Sozialverband VdK übte ebenfalls öffentlich Kritik. Und wenn ich mit einigen Behinderten sprach, ärgerten sie sich über diese Gesetzesvorlage, die ihre Eigenständigkeit einschränke. Ich sah das im Prinzip genauso, aber ich habe mich da reinquatschen lassen. Und nun prangte deutschlandweit mein Gesicht auf Plakaten, die für dieses Gesetz warben. Das war zwar nicht für jeden erkennbar, weil der Begriff „Teilhabegesetz“ nicht auftauchte, sondern nur der allgemeingültige Begriff „Mehr Chancengleichheit für alle“. Aber ich wusste nun, wofür ich warb. Und viele andere auch. Wir haben dann sogar noch versucht, das Ganze zu stoppen, aber die Verträge waren unterschrieben. Das war mir sehr unangenehm. Und eine Lehre. Das BMI hatte es sicher gut gemeint. Ich hatte es auch gut gemeint. Aber der Schuss war nach hinten losgegangen. Seitdem prüfe ich bei allem noch genauer, worauf ich mich einlasse. Weil es eben nicht nur um mich geht, sondern auch um meine Verantwortung für andere.