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Historische Anmerkungen zu einer „mumisierten Stadt“
Es ist viel Unheil in der Welt geschehen, aber wenig, das den Nachkommen so viel Freude gemacht hätte.“ Diese bemerkenswerten Worte notierte Johann Wolfgang Goethe im März 1787 während seiner berühmten Reise durch Italien. Kurz zuvor hatte der Dichter der Ruinenstadt Pompeji einen Besuch abgestattet. Seine Begeisterung hielt sich anfangs in Grenzen. Was die Ausgräber bis dahin von der versunkenen Stadt zutage gefördert hatten, entsprach nicht dem Bild, das sich der Gast aus Deutschland von einer antiken Stadt gemacht hatte. In Zeiten, in denen die Archäologie noch in den Kinderschuhen steckte, stellten sich gebildete Antikenfreunde, die aufmerksam ihre Klassiker studiert hatten, eine römische Stadt eben viel monumentaler und repräsentativer vor. Und so hinterließ die „mumisierte Stadt“ bei Goethe einen „wunderlichen, halb unangenehmen Eindruck“.
Seitdem ist viel Zeit vergangen. Heute ist Pompeji ein Magnet für Menschen aus aller Welt. Tagtäglich strömen die Touristen in Scharen durch die Straßen einer Stadt, die vor mehr als 1900 Jahren zum Opfer eines verheerenden Ausbruchs des Vesuv geworden war. Im August 79 n. Chr. endete abrupt die Geschichte einer vitalen Landstadt am Golf von Neapel. Lange Zeit herrschte unter einer dicken Schicht aus vulkanischer Asche und Bimsstein Friedhofsruhe. Mit der Wiederentdeckung von Pompeji im 18. Jahrhundert feierte die Stadt unter dem Vulkan eine spektakuläre Wiederauferstehung. Wie es bereits Goethe erkannt hatte: Was für die Betroffenen eine Katastrophe gewesen war, erwies sich für die späteren Generationen als ein Glücksfall. Nirgendwo anders erschließt sich dem heutigen Besucher das Alltagsleben einer einerseits ganz normalen, andererseits aber auch ganz besonderen Stadt besser als in Pompeji.
Normal war Pompeji in dem Sinne, dass es sich um eine Stadt handelte, wie es sie im 1. Jahrhundert n. Chr. in Italien viele gab. Eigentlich liest sich ihr Steckbrief nicht sehr aufregend. Gegründet wurde die Stadt im 7. Jahrhundert v. Chr. von dem italischen Volk der Osker. Im 5. Jahrhundert v. Chr. waren es die hoch zivilisierten Etrusker, die sich im Gefolge ihres Vordringens nach Kampanien zeitweise auch in Pompeji festsetzten. Abgelöst wurden die Etrusker von dem rauen Bergvolk der Samniten. Erst zu Beginn des 1. Jahrhunderts v. Chr. geriet die Stadt am Vesuv unter den Einfluss der Römer. 80 v. Chr. machten sie aus Pompeji eine römische Kolonie. Und römisch geprägt blieb Pompeji bis zum tragischen Ende im August 79 n. Chr. Abgesehen vom außergewöhnlichen Finale war das eine Geschichte, wie sie so oder ähnlich viele andere Städte in Italien aufzuweisen hatten.
Besonders war Pompeji in einem doppelten Sinn. Zum einen profitierte es von der Fruchtbarkeit der Landschaft um den Vesuv. Campania felix („glückliches Kampanien“) nannten die Römer die Gegend um den Vesuv mit ihren Weinbergen, die bis zum Gipfel des Vesuv reichten, den Getreidefeldern, den Thermalquellen, den schmucken Städtchen und Villen. In einem solchen Paradies konnte man es zu einigem Wohlstand bringen, und so gehörte Pompeji zu den reichsten Städten in Italien. In Pompeji zu wohnen, bedeutete für die meisten der etwa 20 000 Menschen, die in der zweiten Hälfte des 1. Jahrhunderts n. Chr. hier lebten, ein Stück gehobener Lebensqualität genießen zu dürfen. Da störte es auch wenig, dass sich immer wieder einmal der Erdbebengott Poseidon zu Wort meldete und die Einwohner von Pompeji daran erinnerte, dass das irdische Glück auch seine Grenzen haben konnte. Und der Vesuv flößte ohnehin keine Furcht ein. Schon seit Jahrhunderten hatte sich der Vulkan nicht mehr zu Wort gemeldet, er galt als erloschen, und nur in den Kreisen der Gelehrten machte man sich gelegentlich Gedanken. So hatte der Schriftsteller Vitruv, der sich als Spezialist für Bauten auch für Geologie und Mineralogie interessierte, einige Jahrzehnte vor der Katastrophe von 79 n. Chr. notiert:
Es wird berichtet, dass in alter Zeit Feuerbrände unter dem Vesuv entstanden sind und im Übermaß vorhanden waren und von dort rings über das Land Feuer ausgespieen haben. Und daher scheint damals das, was jetzt Schwammstein oder Pompejanischer Bimsstein genannt wird, aus einer anderen Gesteinsart, die ausgeglüht worden ist, in eine Steinart von der jetzigen Beschaffenheit umgewandelt zu sein.1
Siebzehn Jahre vor dem Desaster vom August des Jahres 79 n. Chr. – und dies führt zu der zweiten Besonderheit der Stadt Pompeji – hatte allerdings ein schweres Erdbeben ziemliche Verwüstungen angerichtet. Von der Katastrophe des Jahres 62 n. Chr. hatte sich Pompeji immer noch nicht ganz erholt, als der Vesuv allem ein Ende bereitete. Das Pompeji von 79 n. Chr., das sich heute dem staunenden Besucher präsentiert, war kein still vor sich hindämmerndes historisches Biotop. Es war eine Stadt im Wandel und im Aufbruch. Was man heute in Pompeji besichtigen und bestaunen kann, stammt zum überwiegenden Teil aus dieser allerletzten Phase der Stadtgeschichte. Das wird häufig vergessen, muss aber mit allem Nachdruck betont werden. In den 17 Jahren, die Pompeji nach dem Erdbeben von 62 n. Chr. noch blieben, war nicht alles, aber vieles anders als vorher. Man soll sich, wie man weiß, vor übertriebenen Analogieschlüssen hüten. Doch liegt man sicher nicht ganz falsch, wenn man sich bei dem rasanten Tempo des gesellschaftlichen und kulturellen Wandels, der sich in Pompeji in den Jahren vor dem Ausbruch des Vesuv vollzog, ein wenig an die Probleme moderner Städte erinnert fühlt.
Damit aber verliert Pompeji auch den Schleier des Musealen und Entrückten, in den man die Stadt am Golf von Neapel immer wieder hat hüllen wollen. Nirgendwo kann die Forderung besser in die Tat umgesetzt werden, die Theodor Mommsen einst, mit Blick auf seine Römische Geschichte, in die klassischen Worte gefasst hat:
Es gilt doch vor allem, die Alten herabsteigen zu machen von dem phantastischen Kothurn, auf dem sie der Masse des Publikums erscheinen, sie in die reale Welt, wo gehaßt und geliebt, gesägt und gezimmert, phantasiert und geschwindelt wird, den Lesern zu versetzen.2
In Pompeji wurde intensiv gehasst, geliebt, gesägt, gezimmert, fantasiert und geschwindelt. Das wurde in anderen antiken Städten auch. Aber in Pompeji kann man dies, dank des zerstörerischen Wirkens des Vesuv, ganz hautnah nachvollziehen – dank des exzellenten Erhaltungszustands der Gebäude und Straßen, nicht zuletzt aber auch dank der Offenheit und der Auskunftsfreude der Bewohner von Pompeji. Zwar haben sie keine literarischen Werke hinterlassen, die über ihr Leben Auskunft geben könnten (und auch sonst sind Informationen über Pompeji in den antiken Schriftzeugnissen eher rar gesät). Doch pflegten sie einen erfreulich kommunikativen Stil, indem sie den Mitteilungswert von Häuserwänden richtig einzuschätzen wussten. So fanden die Ausgräber in Pompeji Hunderte von sogenannten Graffiti aus praktisch allen Lebensbereichen, als eine Momentaufnahme dessen, was die Bewohner von Pompeji bis zu der Katastrophe oder kurz zuvor gerade bewegt hatte. Die große und die kleine Politik spielen dabei ebenso eine Rolle wie ganz private Freuden und Sorgen.
Diese Umstände machen es nicht nur möglich, sondern auch zu einem äußerst reizvollen Unternehmen, am Beispiel von Pompeji ein Stück antiker Alltagsgeschichte zu präsentieren. Wie lebten die Menschen damals am Fuße des Vesuv? Wie lebten sie in einer Stadt, die sich gerade in einer Phase des Aufschwungs und des Optimismus befand, bevor sie so ganz unerwartet von einer fürchterlichen Naturkatastrophe betroffen wurde, die die Zeitgenossen für undenkbar gehalten hatten? Antworten auf diese Fragen kommt man am besten auf die Spur, wenn man die Naturkatastrophen von 62 und 79 n. Chr. als Klammer einsetzt und dazwischen all das platziert, was das bereits todgeweihte, aber bis zum 24. August 79 n. Chr. noch höchst lebendige Pompeji ausgezeichnet hat: Wohnkultur einfacher, gehobener und deutlich übertriebener Art, reger Handel und Wandel, abwechslungsreiches Essen und Trinken in Gourmet-Tempeln oder in Schnellrestaurants, Musik, Tanz, Theater bei jeder sich bietenden Gelegenheit, ein reichhaltiges Sport- und Freizeitangebot, eine echte oder auch nur pflichtschuldige Verbundenheit mit den Göttern, und schließlich ein Leben, das sich, wie heute noch in der mediterranen Welt, zu einem großen Teil auf der Straße, unter offenem Himmel, abspielte.
Nicht die Bauten, Häuser und Anlagen stehen im Mittelpunkt der folgenden Darstellung. Es geht um die Menschen, ihren Alltag, ihre Gewohnheiten, ihre Sorgen, ihre Vorlieben. Pompeji bietet dazu in einzigartiger Weise die Gelegenheit.