Читать книгу Unter dem Vesuv - Holger Sonnabend - Страница 6
Оглавление[Menü]
Baustelle Pompeji:
Das große Erdbeben von 62 n. Chr.
Am 5. Februar des Jahres 62 n. Chr. wurde die fruchtbare Region um den Golf von Neapel von einem heftigen Erdbeben erschüttert. Dem Philosophen und Naturforscher Seneca, der zu dieser Zeit auch als Ratgeber des exzentrischen Kaisers Nero tätig war, ist die einzige ausführliche Schilderung dieses dramatischen Ereignisses zu verdanken.1 Die Worte Senecas lassen noch den Schock spüren, die diese Naturkatastrophe bei den Betroffenen auslöste. „Wir haben“, so beginnt die Erzählung, „die schreckliche Nachricht vernommen: Pompeji in Kampanien, wo zum einen die Strände von Sorrent und Stabiae, zum anderen die Küstenstriche von Herculaneum zusammentreffen und das landeinwärts gedrungene Meer in einer malerischen Bucht einschließen – jene bevölkerungsreiche Stadt ist durch ein Erdbeben in Trümmer gesunken, und auch die Umgebung ist schwer getroffen worden. Und dies geschah im Winter, wo doch unsere Vorfahren immer versichert haben, dass in jener Jahreszeit dafür keine Gefahr besteht.“
Die Bewohner der Region waren an Erdbeben gewöhnt. Was sie aber überraschte, war, wie Seneca weiter mitteilt, das Ausmaß der Katastrophe:
Die Landschaft ist eigentlich nie vor einem solchen Unglück sicher, aber bisher erlitt sie nie großen Schaden und ist immer mit dem Schrecken davongekommen. Jetzt liegt auch ein Teil von Herculaneum in Trümmern, und was stehen geblieben ist, droht einzustürzen. Die Kolonie Nuceria blieb von Zerstörungen verschont, ist aber dennoch nicht ohne Trauer. Neapel wurde von der großen Katastrophe nur leicht getroffen, aber die Stadt hat doch große Schäden an privatem Eigentum erlitten, während die öffentlichen Besitzungen unversehrt blieben. Landhäuser sind zusammengebrochen, andere weit umherliegende überstanden die Erdstöße. Und das ist noch nicht alles. Eine Herde von 600 Schafen kam um, Statuen wurden gespalten, und danach irrten Leute mit verstörtem Sinn umher, die völlig aus dem Gleichgewicht geraten waren.
Erdbeben mit verheerender Wirkung
Mit diesen Angaben ist die Auskunftsfreude Senecas allerdings auch bereits erschöpft. Gerne würde man von dem Zeitgenossen Näheres erfahren, insbesondere über das, was sich nach dem Erdbeben in Pompeji abspielte. Doch ihm genügte es, einen geeigneten Aufhänger für seine gelehrte Abhandlung De terrae motu („Über Erdbeben“) im Rahmen seiner Naturales Quaestiones („Naturwissenschaftliche Untersuchungen“) gefunden zu haben. Aufklärung ist alles – in diese Formel kann man die Ausführungen kleiden, mit denen Seneca klarzumachen versucht, dass es keinen Zweck habe, sich vor Erdbeben zu fürchten. Als Stoiker hat er die richtige Rezeptur parat. Furcht und Angst hindern den Menschen daran, ein ruhiges Leben zu führen. Erdbeben haben ihre natürlichen, physikalischen Ursachen, und wenn man diese kennt, gibt es keinen Anlass zur Beunruhigung.
Um sich vorzustellen, dass derlei Ideen damals nicht in den Köpfen der Bewohner von Pompeji herumspukten, bedarf es keiner großen Fantasie. Das Februar-Beben von 62 n. Chr., für das moderne Geologen die Stufe 9 auf der Mercalli-Skala errechnet haben, muss einiges Unheil angerichtet haben. Konkrete Angaben über Todesopfer, Verletzte und Verschüttete sind mangels entsprechender Quellenevidenz allerdings nicht möglich. Der Historiker Tacitus, einzige Parallelquelle zu Seneca, sagt lapidar: „Durch ein Erdbeben stürzte die bevölkerungsreiche kampanische Stadt Pompeji zu einem großen Teil ein.“2 Vielleicht ist die seltsame Information Senecas über die 600 getöteten Schafe ein Indiz dafür, dass Menschen nicht ums Leben gekommen sind. Wenn er schon über physische Schäden spricht, hätte er vermutlich auch Opfer unter den Bewohnern erwähnt, wenn es solche gegeben hätte.
Trümmerfeld unter dem Vesuv
Doch bei solchen Fragen und Problemen bewegt man sich in der Sphäre der Spekulation. Anders verhält es sich mit dem baulichen Zustand der Stadt. Hier haben die archäologischen Forschungen den klaren Nachweis erbracht, dass Pompeji durch das Winterbeben des Jahres 62 n. Chr. arg in Mitleidenschaft gezogen worden ist. Weite Teile der Stadt präsentierten sich als ein Trümmerfeld. Die Aufbauarbeiten gestalteten sich schwierig, dies auch deswegen, weil sich immer wieder Nachbeben ereigneten. Verständlicherweise kümmerten sich die Menschen zunächst um ihre zerstörten Häuser. Schleunigst musste neuer Wohnraum geschaffen werden. Die öffentlichen Gebäude – Tempel, Theater, Thermen, Rathaus – konnten warten. Als der Vesuv der Stadt 17 Jahre später ein abruptes Ende bereitete, bot Pompeji immer noch das Bild einer großen Baustelle. Die Villen und Wohnbezirke waren weitgehend intakt. Die großen öffentlichen Bauwerke aber harrten nach wie vor der konstruktiven Bearbeitung vonseiten der Ingenieure und Handwerker.
Die einzige Ausnahme war der Tempel der ägyptischen Göttin Isis, südöstlich vom Forum gelegen. Dieses Heiligtum war zum Zeitpunkt des Vesuv-Ausbruchs bereits wieder komplett instand gesetzt. Freilich war diese Pionierarbeit der Initiative eines Privatmannes zu verdanken gewesen. Zum Glück ist die damals über der Eingangstür angebrachte Bauinschrift noch erhalten. Der lateinische Text bringt einen bemerkenswerten Aspekt des Wiederaufbaus von Pompeji in den Jahren nach 62 n. Chr. zum Vorschein. In der deutschen Übersetzung liest sich das folgendermaßen:
Numerius Popidius Celsinus, der Sohn des Numerius, baute den Tempel der Isis, der durch ein Erdbeben bis zum Fundament zerstört worden war, auf eigene Kosten wieder auf. Wegen dieser Großzügigkeit nahmen die Ratsherren ihn, der sechs Jahre alt war, in ihre Versammlung auf.3
Über Vater und Sohn Numerius ist sonst nichts bekannt. Sie gehören zu den vielen Bewohnern von Pompeji, deren Namen inschriftlich auftauchen, ohne dass man ihnen ein persönliches biografisches Relief zuschreiben könnte. Doch enthält die Inschrift eine Reihe von wichtigen Angaben. Der offenbar vermögende Vater hatte mit den Dekurionen, wie die Ratsherren von Pompeji offiziell bezeichnet wurden, ein Geschäft abgeschlossen. Sein Angebot war die Restaurierung des Isis-Tempels. Die Gegenleistung der Stadt bestand in der Aufnahme seines kleinen Sohnes in den Stadtrat. Anscheinend störte es niemanden, dass der Sohn gerade erst sechs Jahre alt war. Man erwartete von dem kleinen Ratsmitglied sicher keine kommunale Sachkompetenz. Es ging um die Honorierung der Freigebigkeit des väterlichen Sponsors. Das weitere Schicksal der beiden Numerii verschwindet im Dunkel der Geschichte. Im besten Fall saß der dann 23-jährige Sohn immer noch im Stadtrat, als die Katastrophe von 79 n. Chr. jede weitere Beratung über innerstädtische Angelegenheiten überflüssig machte.
Zeichen für die Götter
Etwas präziser sind die Kenntnisse in Bezug auf einen weiteren Pompejaner, der im Zusammenhang mit dem Erdbeben von 62 n. Chr. auf sich aufmerksam gemacht hat. Lucius Caecilius Iucundus gehörte zu den reichsten und prominentesten Einwohnern von Pompeji. Vom rechtlichen Status her war er ein libertus, ein Freigelassener. So wurden ehemalige Sklaven bezeichnet, denen ihre Herren die Freiheit geschenkt hatten. Sie verfügten noch nicht über das Bürgerrecht der Stadt, dieses erhielten erst ihre direkten Nachkommen. Als Geschäftsleute brachten es diese Freigelassenen gerade in Pompeji zu beträchtlichem Wohlstand. Lucius Caecilius Iucundus hatte sein Geld als Bankier oder, um in der zeitgenössischen Terminologie zu bleiben, als argentarius gemacht. Gefunden wurden bei den Ausgrabungen Wachstäfelchen mit Quittungen für Pachtzahlungen an die Stadtkasse und anderen finanziellen Transaktionen. Bei allem praktischen Geschäftssinn scheint der Bankier aber ein abergläubischer Mensch gewesen zu sein. Im Lararium, dem Platz für die Hausgötter in seinem opulenten Wohnhaus, ließ er ein heute verschwundenes Relief aufstellen. Die modernen Archäologen haben dem Haus im Stadtplan von Pompeji die Kennziffer V 1, 26 gegeben: Die V steht für die regio, also das Stadtviertel, die 1 für die insula, also den Wohnblock, und die 26 verzeichnet den Eingang innerhalb der insula. Mittels dieses geradezu perfekten Systems kann man sich heute im antiken Pompeji bestens orientieren, zumal man es nicht versäumt hat, an den Straßen entsprechende Hinweisschilder anzubringen.
Doch zurück zum Bild im Lararium des Iucundus. Dabei handelt es sich um die bisher einzig bekannte künstlerische Darstellung eines Erdbebens aus der Antike – eben jenes Bebens vom Winter des Jahres 62 n. Chr. Die Perspektive ist frontal auf die Nordseite des Forums von Pompeji gerichtet. In der Mitte ist der gerade einstürzende Juppiter-Tempel abgebildet. Sogar die das Heiligtum flankierenden Reiterstatuen sind nicht vergessen worden. Sie sind durch die Erdstöße ebenfalls ins Wanken geraten. Auch eines der in die Stadt führende Tore ist aus den Fugen geraten. Weiter rechts auf dem Bild ist eine Opferzeremonie mit Altar, Priester und Opfertieren dargestellt.
Das Relief ist historisch von besonderem Interesse. Es belegt, dass das Erdbeben Pompeji schwer mitgenommen hat. Es zeigt, dass die Bewohner der Stadt nach der Naturkatastrophe zu dem bewährten Mittel der rituellen Sühnung griffen, um die Götter gnädig zu stimmen. Schließlich gab es nicht nur aufgeklärte Geister wie Seneca. Die meisten Menschen sahen in solchen Desastern ein Zeichen oder eine Strafe der Götter. In Pompeji ist dies also nicht anders gewesen. Aber wozu diente das Relief im Haus des Bankiers Caecilius Iucundus? Die Antwort hat der Hausherr leider nicht mit geliefert. Am wahrscheinlichsten ist indes eine religiöse Interpretation. Vermutlich sollte das Bild eine apotropäische, also Unheil abwendende Funktion ausüben. Dafür spricht der Aufstellungsort im Lararium. Wie man weiß, haben sich die Götter von dem Appell des Finanziers nicht beeindrucken lassen. Den Ausbruch des Vesuv konnte selbst ein Erfolgsmensch wie Lucius Caecilius Iucundus nicht verhindern. Man weiß auch nicht, ob er die Katastrophe von 79 n. Chr. überlebt hat.
Neue Ordnung der Gesellschaft
Die Karriere des Iucundus ist einigermaßen symptomatisch für das gesellschaftliche und wirtschaftliche Leben Pompejis in der Zeit zwischen den beiden Naturkatastrophen. Pompeji befand sich in einem Wandel, den das Erdbeben von 62 n. Chr. noch beschleunigt hatte. An der Spitze der sozialen Hierarchie hatte sich ein Wachwechsel vollzogen. Die Vertreter der alten Aristokratie hatten das Feld geräumt. Sie zogen ein beschauliches Dasein in den schönen Villen am Golf von Neapel oder im kampanischen Hinterland dem betriebsamen und hektischen Leben in der Stadt vor. Viele verließen sicher auch deswegen Pompeji, weil sie durch das Erdbeben Haus und Hof verloren hatten. Das Ruder übernahmen jetzt die Repräsentanten jener gesellschaftlichen Gruppe, die man, wollte man ihnen den Respekt versagen, als „Neureiche“ bezeichnen würde. Es waren Bankiers wie Iucundus, dazu Makler, Bauunternehmer, Handwerker und Gewerbetreibende, deren Dienste beim Wiederaufbau der Stadt besonders gefragt waren. Sie kurbelten das Wirtschaftsleben an, investierten in die „Baustelle Pompeji“ und beanspruchten im Gegenzug jene Stellung in der gesellschaftlichen Rangordnung, die bis dahin die alten Adelsfamilien innegehabt hatten. Sie drückten einer Stadt ihren Stempel auf, die gerade dabei war, sich von einer Katastrophe zu erholen, bevor sie dann von einer noch viel schlimmeren Katastrophe heimgesucht wurde. Weil dies aber niemand ahnte, pulsierte das Leben in der Stadt unter dem Vesuv zunächst ungebremst weiter. Es gehört zu der besonderen Tragik der Stadt Pompeji, dass das Ende zu einem Zeitpunkt kam, als sich Optimismus und Aufbruchstimmung breit gemacht hatten. Diese Stimmung auszukosten, hatten die Pompejaner nicht viel Zeit – genau genommen nur jene 17 Jahre, 6 Monate und 19 Tage zwischen dem Erdbeben und dem Ausbruch des Vesuv.