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Eine antike Mega-Katastrophe
ОглавлениеFragt man nach den schwersten Naturkatastrophen der Antike, so nimmt einen traurigen Spitzenplatz ein Ereignis von nach damaligen geographischen Vorstellungen globalen Ausmaßen ein. Es handelt sich um ein Erdbeben in Kombination mit einem fürchterlichen Tsunami, dessen Auswirkungen von der Ostküste des Mittelmeeres bis nach Sizilien zu spüren waren. Das Datum dieser Tragödie war der 21. Juli 365 n. Chr. Die antiken Berichte überschlagen sich geradezu in dem Bestreben, Begriffe und Bezeichnungen dafür zu finden, was sich im Sommer 365 auf dem Mittelmeer abspielte. Nach Ammianus Marcellinus, dem Autor eines großen Geschichtswerkes, soll das Unglück „die ganze Weite des Erdkreises“ erfasst haben. Der christliche Schriftsteller Hieronymus vermerkt, diese Katastrophe habe die ganze bewohnte Welt heimgesucht. Er schreibt (Chron. 2,44c): „Das Meer überflutete die Küsten und verursachte viele Leiden für zahllose Völker auf Sizilien und den anderen Inseln.“
Als Christ dachte er an eine Neuauflage der Sintflut. Schadensberichte kolportieren die antiken Gewährsleute auch aus Kreta, Nordafrika und vor allem aus Alexandria, der großen, stolzen Hafenstadt in Ägypten, einst von Alexander dem Großen gegründet und auch im Römischen Reich eine Stadt mit Weltformat.
Ammianus Marcellinus liefert eine sehr detaillierte Beschreibung dessen, was sich damals, an jenem verhängnisvollen Juli-Tag, zwischen Palästina und Sizilien abgespielt haben soll (26,10,15–19). Kurz nach Sonnenaufgang lieferten Blitz und Donner die Ouvertüre. Dann begann die Erde zu zittern, das Meer teilte sich und strömte wieder zurück:
„Der Schlund der Tiefe öffnete sich. Die vielgestaltigen Arten der Meerestiere wurden, im Schlamm zappelnd, sichtbar, und die weiten Täler und Höhen, die die Natur bei ihrer Entstehung unter unermesslichen Fluten verborgen hat, wurden damals, wie man glauben darf, den Sonnenstrahlen zugänglich. Viele Schiffe waren so wie auf trockenem Boden gestrandet, und eine Menge Menschen liefen ohne Furcht zwischen den kleinen zurückgebliebenen Tümpeln umher, um Fische und ähnliche Tiere mit den Händen zu sammeln.“
Diese Sorglosigkeit aber sollte den neugierigen Menschen zum Verhängnis werden:
„Da erhoben sich die Meereswogen wie im Zorn über den erzwungenen Rückzug in umgekehrter Richtung, brachen durch die brodelnden Untiefen über Inseln und weit ausgedehnte Strecken des Festlands mit Gewalt herein und machten unzählige Gebäude in den Städten und wo sie sonst zu finden waren dem Erdboden gleich.“
Und nun kam es zu einem wahren Inferno:
„Als niemand mit einem Zurückfluten der Wassermassen rechnete, töteten und verschlangen diese viele tausend Menschen. Bei dem heftigen Strudel der zurückbrandenden Fluten sanken viele Schiffe, wie man später sah, als sich die Brandung des stürmischen Elements gelegt hatte, und die beim Schiffbruch ums Leben gekommenen Seeleute lagen auf dem Rücken oder mit dem Gesicht nach unten am Strand.“
Der Historiker erinnert sich, persönlich ein Schiff gesehen zu haben, das bei der Stadt Methone auf der Peloponnes an Land geschleudert worden war, wo es als stummer Zeuge der Naturkatastrophe von 365 n. Chr. liegen blieb.
Eine Kontrollinstanz zur Bestätigung oder auch zur Relativierung der antiken Berichte (neben Ammianus und Hieronymus haben auch verschiedene andere Autoren, sowohl christlicher als auch nichtchristlicher Couleur, über das Desaster Schilderungen geliefert) sind die modernen archäologischen und geologischen Forschungen. Dabei konnte der Nachweis erbracht haben, dass sich die Katastrophe von 365 tatsächlich ereignet hat – eine Feststellung, die nicht selbstverständlich ist, denn antike Autoren (selbst Historiker) haben gelegentlich, aus den unterschiedlichsten Gründen, Katastrophen auch schlicht erfunden. Das gilt zum Beispiel für die römischen Bürgerkriege in der Endphase der Republik, als Größen wie Caesar, Pompeius, später Octavian (der nachmalige Kaiser Augustus) und Marcus Antonius um die Macht kämpften. Die erbitterten politischen und militärischen Auseinandersetzungen lassen die beschreibenden und kommentierenden Autoren von einem grotesken Szenario unterschiedlichster Naturkatastrophen wie Überschwemmungen, Unwettern, Finsternissen (sie zählten in der Antike auch zu den Naturkatastrophen), Erdbeben oder Heuschreckenplagen begleiten. Diese waren mit Sicherheit nicht real, sondern dienten der darstellerischen Absicht, das Chaos auf der politischen Bühne mit angeblichem Chaos in der Natur zu verbinden, als Zeichen für die gestörte Harmonie zwischen Göttern und Menschen. 365 ereignete sich eine reale Katastrophe – es fragt sich nur, ob sie wirklich so verheerend war, wie es die antiken Informanten behaupten. Nachgewiesen werden konnte das Epizentrum westlich von Kreta. Die Insel wurde damals sehr stark in Mitleidenschaft gezogen. Als Folge der Katastrophe verschoben sich Oberflächenniveau und Küstenverlauf in der Weise, dass die Insel sich Richtung Osten neigte, mit der weiteren Konsequenz, dass die Häfen im Osten (man kann das heute noch sehen) im Meer versanken. Verifiziert werden konnten auch die Berichte, die davon sprechen, dass der gesamte östliche Mittelmeerraum – und also auch die Millionenstadt Alexandria – von der Katastrophe betroffen wurden. Nordafrika und Sizilien sind als Schauplätze dieser Katastrophe von 365 dagegen eher unsicher. Vielleicht wurden lokale Schadensereignisse aus ungefähr derselben Zeit mit der großen Katastrophe im Osten der mediterranen Welt in Verbindung gebracht.
Was aber bezweckten die antiken Autoren dann mit der Konstruktion einer Mega-Katastrophe? Grundsätzlich war man über die gesamte Antike hinweg der Ansicht, dass Naturkatastrophen entweder ein Zeichen oder eine Strafe der Götter waren. Als das Römische Reich ab dem 4. Jahrhundert n. Chr. christlich wurde, hat man diese Vorstellung ohne weiteres auf den Christengott übertragen. Ammianus Marcellinus, eine der Hauptquellen für die Katastrophe von 365, war kein Christ. In traditioneller Weise war er davon überzeugt, dass sich große politische Umwälzungen durch Anomalien in der Natur ankündigten. Bei Ammianus war die überdimensionierte Katastrophe von 365 wohl ein Vorspiel für eine grandiose militärische Katastrophe, die 13 Jahre später stattfand und mit der der Historiker bezeichnenderweise sein Geschichtswerk abgeschlossen hat. Damals, im Jahr 378, erlebten die Römer bei Adrianopel (dem heutigen Edirne im türkisch-griechisch-bulgarischen Grenzgebiet) eine verheerende Niederlage gegen die Goten, bei der, zu allem Überfluss, Kaiser Valens ums Leben kam. Mit 365 hatten die Götter ein Zeichen für 378 gegeben, und weil die Niederlage von Adrianopel so gravierend war, musste auch die Katastrophe von 365 entsprechend dramatisiert werden.
Bei den christlichen Autoren kamen andere Deutungsmuster zum Tragen. Hieronymus, einer der Hauptvertreter, instrumentalisierte die Katastrophe für eine Abrechnung mit Kaiser Iulian, der zwischen 361 und 363 regierte und von den Christen mit dem Beinamen Apostata („der Abtrünnige“) versehen worden war, weil er die alten römischen Kulte reaktivieren wollte. Das ließ sich der Christengott nicht gefallen, und er setzte mit der grandiosen Katastrophe ein Zeichen, das alle davor warnen sollte, vom rechten, d.h. dem christlichen Glauben abzufallen. Dazu passt eine von den Christen im Zusammenhang mit dem Ereignis von 365 kolportierte Geschichte. Im dalmatinischen Epidauros soll sich etwas Wundersames begeben haben. Die Bewohner fürchteten, die meterhohen Wellen würden ihre Stadt zerstören. In ihrer Not wandten sie sich an einen alten Mönch namens Hilarius. Dieser erfüllte die in ihn gesetzten Erwartungen und lieferte einen eindrucksvollen Beleg dafür, dass man mit Hilfe Gottes jene Naturgewalten, die durch ihn außer Rand und Band geraten waren, auch wieder zähmen konnte: Der Mönch malte, gebannt beobachtet von den Bewohnern von Epidauros, das christliche Kreuzsymbol in den Sand und hob beschwörend seine Hände in Richtung des tobenden Meeres. Das Wassermassen türmten sich daraufhin zunächst in Furcht erregende Höhen auf, um dann langsam wieder in sich zusammenzufallen.