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2. Abschied aus Rom

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Es war an sich kein besonders aufregendes, die Menschen aufrührendes oder gar elektrisierendes Ereignis, als Kaiser Tiberius im Jahr 26 n. Chr., dem 13. Jahr seiner Regierung, die Hauptstadt Rom verließ, um Kampanien, der am Golf von Neapel gelegenen Landschaft, einen Besuch abzustatten. Und anfangs sah es auch so aus, als handele es sich um eine ganz normale Dienstreise. Professionell und routiniert spulte der Kaiser sein Programm ab. Die erste Station war Capua. Hier, wo fast hundert Jahre zuvor der berühmte Aufstand der Sklaven unter ihrem Anführer Spartacus begonnen hatte, weihte Tiberius das Kapitol ein, den Tempel für die drei Gottheiten Jupiter, Juno und Minerva. In Nola, der zweiten Station seiner Reise, nahm er an der feierlichen Eröffnung einer Kult- und Gedenkstätte für seinen Vorgänger Augustus teil, der zwölf Jahre zuvor hier gestorben war. Ein ganz normales Programm also.

Doch nach der Abwicklung der protokollarisch vorgeschriebenen Pflichtveranstaltungen nahmen die Dinge eine unerwartete Wende. Tiberius überraschte seine Begleiter mit der Mitteilung, er habe seine Planungen geändert. Er werde nicht nach Rom zurückkehren. Er wolle nach Capri weiterreisen. Nach Capri? Sicher doch nur für einen kurzen Aufenthalt? Oder doch nur für ein paar Monate – schließlich hatte sich der Kaiser fünf Jahre vorher schon einmal für längere Zeit nach Kampanien zurückgezogen und war dann wieder in die Metropole am Tiber zurückgekehrt. Nein, gab der Kaiser zu verstehen, nicht nur für einen kurzen Aufenthalt, oder um dort den Sommer oder den Winter zu verbringen. Sondern für länger, vielleicht sogar für immer. Der Kaiser ließ, wie die konsternierten Berater zur Kenntnis nehmen mussten, keinen Zweifel an seiner Entschlossenheit.

Die malerisch vor der Küste Neapels gelegene Insel wusste zu diesem Zeitpunkt noch nicht, dass sie einmal zum Sehnsuchtsort von Künstlern, Gelehrten und Bildungsreisenden aus aller Welt werden würde. Schon gar nicht ahnte sie, dass sie dereinst schier endlose Ströme von Touristen würde ertragen müssen. Wäre sie bereits im Jahr 26 so überlaufen gewesen wie heute, wäre Tiberius sicher nicht auf die Idee gekommen, sie als Regierungs-Refugium auszuwählen. Dann hätte es ihn vielleicht nach Rhodos verschlagen, wohin er sich schon einmal für mehrere Jahre zurückgezogen hatte – damals, als Augustus noch Kaiser gewesen war. Capri war zu dieser Zeit noch ruhig, beschaulich, einsam, kurzum: ein perfekter Rückzugsort.

Tiberius, zu diesem Zeitpunkt 67 Jahre alt, tauschte den Moloch Rom gegen das Kleinod Capri ein. Jedoch war es nicht sein Plan, dort seine Tage als Pensionär zu verbringen und die zweifellos schönen Sonnenuntergänge zu genießen. Zwar war er erst der zweite Kaiser, seitdem Rom sich von einer Republik in eine Monarchie gewandelt hatte. Doch er wusste: Zurücktreten war keine Option. Der Kaiser musste »Flagge zeigen«, auch wenn er die Geschäfte lieber anderen übergeben hätte. Aber war das nicht bereits längst geschehen? Viele Bürger in der Hauptstadt hatten den Eindruck, dass Seian, der mächtige Präfekt der Prätorianergarde, faktisch die Zügel in der Hand hielt. Gerade erst hatte er dem Kaiser das Leben gerettet, als bei einem Bankett in einer Höhle bei Sperlonga Felsbrocken auf die Gesellschaft gestürzt waren. Seian sollte Tiberius auch zum Rückzug nach Capri gedrängt haben, weil, wie diejenigen, die sich zu den gewöhnlich gut unterrichteten Kreisen zählten, behaupteten, er dann in Rom seine Macht ungehindert ausleben könne. Manche wunderten sich, dass er Tiberius nicht schon längst aus dem Amt entfernt hatte. Doch Tiberius war verantwortungsbewusst und ein harter Arbeiter. Er räumte zwar den Arbeitsplatz in Rom, nicht aber den Platz des Herrschers. Und Tiberius war in der Realität auch nicht so abhängig von Seian, wie man es behauptete. Die Zügel hielt er, wenn es darauf ankam, immer noch selbst in den Händen.

Andere versicherten, Tiberius habe Rom wegen seiner Mutter Livia verlassen. Schon als Augustus noch lebte, hatte sie als dessen Frau großen Einfluss genommen, auch auf die Politik. Nach Augustus’ Tod hatte sie keine Anstalten gemacht, diese Rolle abzulegen. Im Gegenteil: Als Kaisermutter hatte sie noch dominanter agiert als zuvor als Kaisergattin. Mehrfach war es, wie es hieß, zwischen Mutter und Sohn zu heftigen Auseinandersetzungen gekommen.

Und dann gab es einige, die meinten, Tiberius habe Rom aus Eitelkeit verlassen. Er habe im Alter mit seiner äußeren Erscheinung gehadert.1 So, wie Tiberius zu dieser Zeit ausgesehen haben soll, bekamen ihn die Zeitgenossen auf den Münzporträts oder den Statuen jedenfalls nie zu sehen, wo er – wie es auch bei Augustus der Fall gewesen war – altersmäßig auf einer bestimmten Stufe der entwickelten Jugend »eingefroren« war. Tacitus beschreibt den Tiberius des Jahres 26 mit den Worten: »Seine hohe Gestalt war sehr hager und gebeugt, sein Scheitel kahl, sein Gesicht voller Geschwüre und gewöhnlich mit Pflastern übersät.«2 Diesen Anblick wollte er, wie Tacitus suggeriert, den Menschen ersparen.

Der prominente künftige Inselbewohner war entschlossen, seine Regierungstätigkeit von Capri aus fortzusetzen. In Rom fühlte er sich nicht mehr wohl – wie, seit er Kaiser war, eigentlich nie so richtig. Doch Pflicht war Pflicht, und so hatte er bis dahin all seine Aufgaben in der Millionenmetropole am Tiber gewissenhaft, wenn auch nicht immer mit der nötigen Fortune und schon gar nicht mit der Anerkennung, die er eigentlich erwartete, erfüllt. In den letzten Jahren hatte ihm auch der Senat das Leben schwergemacht. Eigentlich hatte Tiberius von Anfang an versucht, ein gutes Verhältnis zu den Mitgliedern jenes Gremiums aufzubauen, das, bevor Augustus aus der Republik eine Monarchie gemacht hatte, oberste Regierungsinstanz gewesen war. Doch viele Senatoren wussten sein Bemühen um kollegiale Zusammenarbeit nicht zu schätzen. Immer häufiger war es zu Auseinandersetzungen gekommen.

Capri war keine zufällige Wahl. Der Historiker Tacitus erzählt, Tiberius sei insbesondere von der Lage der Insel angetan gewesen. »Ihre Abgeschiedenheit sagte ihm am meisten zu«, führt er aus,3 »weil das Meer ringsum keinen Hafen und kaum für kleinere Fahrzeuge einige Anlegeplätze bietet. Auch könnte dort niemand landen, ohne dass es die Wache bemerkt.« Das günstige Klima soll ein weiterer Grund für die Wahl Capris gewesen sein: »Das Klima ist im Winter mild, aufgrund des vorgelagerten Gebirges, durch das die rauen Winde abgehalten werden. Der Sommer ist sehr angenehm, da die Insel dem Westwind zugewandt ist und das Meer ringsum offen liegt.« Zu dem Zeitpunkt, als Tiberius seinen Umzug vollzog, lag die schwere Naturkatastrophe, die 53 Jahre später den Golf von Neapel heimsuchen sollte, noch in weiter Ferne: »Die Insel bot auch Aussicht auf einen herrlichen Golf, bevor der Ausbruch des Vesuvs das Gesicht der Landschaft veränderte.«

Aber Capri war nicht die einzige schöne Insel im Mittelmeer. Mögen die von dem gewöhnlich gut unterrichteten, gern aber auch spekulierenden Historiker Tacitus genannten Gründe auch eine Rolle gespielt haben, so kam als ganz praktischer Aspekt hinzu, dass Tiberius die Insel gehörte. Augustus hatte Capri einst mit den Neapolitanern gegen Ischia getauscht. Und da Tiberius der Erbe seines Vorgängers war, der in Personalunion auch noch sein Stief- und Adoptivvater gewesen war, befand sich Capri in seinem persönlichen Besitz. Dort hatte er einige prächtige Villen – eine lange Wohnungssuche war also nicht notwendig. Laut Tacitus sollen es insgesamt zwölf gewesen sein.4 Eine von ihnen trug den Namen Villa Iovis, die Villa des Jupiter.5 Die Ruinen einer Villa im Nordosten der Insel werden den Besuchern heute als die Reste dieser Tiberius-Villa präsentiert. Wer möchte, darf genau hier in Erinnerungen an den seltsamen Inselherrscher schwelgen, der die letzten elf Jahre seines Lebens an diesem schönen Platz hoch über den Klippen des Meeres verbrachte. Ganz sicher ist das jedoch nicht. Ein zuverlässiger archäologischer oder historischer Beweis dafür, dass die Villa Iovis von heute die Villa Iovis von damals ist, existiert nicht.6

Der Abschied des Kaisers kam für die Bevölkerung Roms überraschend. Natürlich, ein Augustus, der es perfekt verstanden hatte, mit Menschen umzugehen und sie für sich einzunehmen, war Tiberius nicht. Jedenfalls nicht, seitdem er Nachfolger des Augustus geworden war. Und dass für ihn die Herrschaft eher Pflicht und Bürde als Freude bedeutete, war ebenfalls kein Geheimnis. Aber einen solchen Schritt hatte man ihm dennoch nicht zugetraut.


Rekonstruktion der Villa Iovis

Handelte es sich um eine spontane Entscheidung? Oder hatte er diesen Schritt schon lange vorbereitet? Die Quellen sind bei der Beantwortung dieser Fragen keine große Hilfe. Sie sind von der Tendenz geprägt, die Dinge von ihrem Ausgang her und nicht in ihrer Entwicklung zu betrachten. Sueton behauptet, Tiberius habe die Termine in Capua und Nola nur als Vorwand benutzt, um unverdächtig nach Kampanien reisen und seinen Capri-Traum verwirklichen zu können.7 Das ist natürlich pure Vermutung, denn wenn es so gewesen wäre, hätte Tiberius darüber kaum offen Auskunft gegeben. Mitteilsam war der Kaiser, was seine Person, seine Pläne, sein Denken anging, grundsätzlich nicht. Damit öffnete er Spekulationen und Mutmaßungen jedweder Art Tür und Tor. Über den eigenwilligen Kaiser konnte man daher alles behaupten, ohne in die Verlegenheit zu geraten, den Beweis dafür erbringen zu müssen. Und so kursierten in Rom, wo die Gerüchteküche immer besonders heftig brodelte, bald die wildesten Spekulationen über das, was sich in der kaiserlichen Villa auf Capri abspielte – Orgien, die alles in den Schatten stellten, was man sonst an spektakulären Veranstaltungen in den oberen Kreisen kannte. Zustände wie im alten Rom, wie es sprichwörtlich heißt – nur eben auf Capri.


Die „Villa Iovis“ auf Capri

Auf jeden Fall war Tiberius kein Freund schneller Entschlüsse. Sorgfalt vor Eile, lautete seine Devise. Seine Denkprozesse vollzogen sich, was die Geschwindigkeit angeht, in limitierten Dimensionen. Er hatte seinen Umzug, wie man sicher annehmen darf, akkurat geplant. Jetzt, wo er wegen offizieller Termine ohnehin in der Gegend war, bot sich die Gelegenheit. Nach zwölf Jahren an der Spitze des Römischen Reiches wollte er nicht mehr Kaiser sein. Jedenfalls kein Kaiser, wie ihn sich die Menschen wünschten: immer da, umgänglich, fürsorglich, spendabel, mit offenem Ohr für die Sorgen und Wünsche der Bürger und mit wachem Auge für alles, was in der Welt passierte.

Die gegenseitige Entfremdung hatte sich deutlich abgezeichnet. Rom verlor Tiberius und Tiberius verlor Rom lange vor Capri. Der Politikbetrieb in der Hauptstadt lag ihm nicht, war ihm sogar zuwider geworden wie überhaupt schon jedwede Ansammlung von Menschen. So war er nicht von Anfang an gewesen, so war er als Kaiser geworden. Als er Rom verließ, um nach Kampanien zu reisen, bat er sich, wie es heißt, aus, von niemandem belästigt werden.8 So etwas hätte ein Augustus nie gesagt. Nach den letzten Programmpunkten in Capua und Nola ließ er ganz offiziell verkünden, er wolle ungestört bleiben.9 Ein an sich überflüssiger Hinweis: Jubelnde Massen, die um seinen Prunkwagen herumtanzten, waren ohnehin nicht zu erwarten. Manche erinnerten daran, dass Tiberius sich schon einmal aus der Öffentlichkeit zurückgezogen hatte, im Jahr 6 v. Chr., als er die Insel Rhodos als Refugium gewählt hatte, wo er letztlich fast acht Jahre lang fern aller Geschäfte verbrachte. Erst Rhodos, dann Capri? Tiberius schien eine besondere Affinität zur insulären Abgeschiedenheit zu haben.

Wie aber war es dazu gekommen, dass Tiberius sein Volk und das Volk seinen Kaiser verlor – in einer Gesellschaft, die entscheidend von der Kommunikation zwischen Herrscher und Beherrschten lebte, in der Transparenz, Berechenbarkeit und Sicherheit über allem standen, in der der Kaiser seine Macht und seine Legitimation zu einem guten Teil aus der Akzeptanz bei den wichtigen Gruppen der Bevölkerung bezog? Um diese Frage zu beantworten, müssen wir zurückgehen zum Anfang.

Tiberius

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