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1. Konstrukt oder Realität?

Einige Vorbemerkungen zu den Quellen

Die Quellenlage zu Tiberius ist einerseits günstig, andererseits problematisch. Es gibt vier ausführliche literarische Hauptquellen. Keine von ihnen zeichnet sich durch Objektivität aus. Die eine stammt von einem Anhänger des Tiberius, die drei übrigen Verfasser standen ihm skeptisch, kritisch und negativ gegenüber. Der Anhänger war Zeitgenosse, die anderen schrieben später in der Retrospektive, wobei sie sich auch zeitgenössischer Quellen bedienten.

Velleius Paterculus

Der Zeitgenosse ist Velleius Paterculus. Er veröffentlichte im Jahr 29 oder 30, also acht oder sieben Jahre vor dem Tod des Tiberius, eine kurz gefasste Römische Geschichte, gedacht als Vorarbeit zu einem ausführlicheren Werk, das jedoch nicht erhalten oder nicht zur Ausführung gelangt ist. Am ausführlichsten behandelt Velleius die Zeit der späten Republik und das von ihm selbst erlebte frühe Prinzipat. Tiberius wird von ihm außerordentlich positiv dargestellt, als idealer Herrscher ohne jeden Fehler. Das Buch endet sogar mit einem Gebet für Tiberius: Velleius ruft die Götter an, sie mögen den Staat, den Frieden und den Prinzeps beschützen, bewahren und behüten, und man möge diesem möglichst spät einen Nachfolger schenken, jedoch einen, der wie er in der Lage sei, auf den Schultern die Last eines Weltreichs zu tragen.1

Wegen seiner geradezu hymnischen Verehrung des Tiberius wird Velleius in der Forschung gerne als Schmeichler und Opportunist herabgewürdigt. Tatsächlich kannte er Tiberius persönlich. Er stammte aus dem Ritterstand, einer privilegierten Schicht der Gesellschaft, die die Kaiser als Reservoir für das zivile und militärische Führungspersonal nutzten. Insofern gehörte er zu einer sozialen Gruppe, die von den politischen und administrativen Verhältnissen im Prinzipat profitierte. Das schließt jedoch nicht aus, dass seine öffentlich artikulierten Sympathien für den Prinzeps nicht tatsächlich echt gewesen sind. Angesichts einer massiven Phalanx von Kritikern und Anklägern nimmt sich die kontrastive Haltung eines Velleius, gleichgültig, welche Motivation dahinter stand, mitunter geradezu wohltuend aus.

Tacitus

Die Reihe der Gegner des Tiberius führt der Historiker Publius Cornelius Tacitus an.2 Seine Verdikte hatten den größten Einfluss auf das neuzeitliche Tiberius-Bild.

Tacitus wurde um das Jahr 55 geboren. Zu diesem Zeitpunkt war Tiberius bereits achtzehn Jahre tot. Er kannte ihn also nicht mehr persönlich. Jedoch schöpfte er aus Quellen aus der Zeit des Tiberius. Den Informationen, die er aus diesen Quellen bezog, verlieh er seine ganz eigene Note. Tacitus war Historiker, er war aber auch Politiker und Senator. Er absolvierte unter den flavischen Kaisern Vespasian, Titus und Domitian eine erfolgreiche Laufbahn, die ihn bis zum Konsulat und zur Statthalterschaft in der Provinz Asia führte. Die Geschichtsschreibung war für Tacitus eine Fortsetzung der politischen Arbeit mit anderen Mitteln. Seine beiden Hauptwerke waren die Historien und die Annalen. In den Historien beschrieb er die Geschichte der römischen Kaiserzeit vom Tod Neros (68) bis zum Tod des letzten flavischen Kaisers Domitian (96). Die Annalen widmete er der Zeit davor, der frühen Kaiserzeit vom Tod des Augustus bis Nero, und damit auch der Zeit des Tiberius.

Der von Tacitus gezeichnete Tiberius ist der Tiberius, wie ihn die Senatoren sahen, die mit seiner Art der Herrschaft nicht zufrieden waren. Die Reputation eines Kaisers bei den Senatoren, von denen viele auch unter den Bedingungen der Monarchie ihre alten republikanischen Ideale nicht aufgegeben hatten, hing entscheidend von der Art und Weise ab, wie dieser Kaiser mit ihnen umging. Der Senat wollte noch gehört und gebraucht werden. Das Ideal der Senatoren war die Verbindung von principatus und libertas, von monarchischer Herrschaft unter Bewahrung der Freiheitsrechte des Adels.3 Dem Tiberius stellt Tacitus in dieser Hinsicht ein schlechtes Zeugnis aus. Seine Kritik hatte ihre Ursache vor allem in den sogenannten Majestätsprozessen, die sich in der Zeit des Tiberius häuften und bei denen tatsächliche oder vermeintliche Oppositionelle aus den höheren Kreisen wegen Beleidigung des Prinzeps oder der Würde seines Amtes angeklagt und hingerichtet wurden.

Tacitus war ein guter Historiker. Er erzählt nichts Falsches. Alle Fakten stimmen. Seine besondere, nicht ungefährliche Begabung besteht darin, den Fakten in subtiler Weise eine von ihm gewünschte Deutung zu geben. So gelingt es ihm, zu suggerieren, dass Tiberius nie ehrlich, sondern immer ein Heuchler gewesen sei, der sich permanent verstellt habe. Bei allem, was Tiberius tat, wittert Tacitus eine üble, perfide Idee. Der Historiker und Senator Tacitus hatte den Kaiser von Anfang an so konzipiert, wie er uns in seinem Werk begegnet: Tiberius hatte also gar nicht die Chance, anders gesehen zu werden.

Sueton

Etwa zeitgleich mit Tacitus legte Gaius Suetonius Tranquillus – kurz: Sueton – eine Sammlung von Biographien römischer Kaiser vor. Er begann bereits mit Iulius Caesar, dem Ahnherrn der ersten Dynastie, und endete mit Domitian, dem letzten Vertreter der flavischen Kaiserfamilie, der 96 starb (sein als tyrannisch empfundenes Regime war übrigens für Tacitus der Anstoß gewesen, sich mit der Geschichtsschreibung zu befassen).

Sueton, um 70 geboren und um 130 gestorben, kannte sich bei den römischen Kaisern gut aus. Er verfügte über hervorragendes Material, da er im Hauptberuf kaiserlicher Archivar in Rom war. Genauer gesagt bekleidete er unter den Kaisern Traian und Hadrian das Amt eines ab epistulis, das heißt: Er hatte die kaiserliche Korrespondenz zu erledigen, und in dieser Eigenschaft hatte er freien Zugang zu den Archiven. Hier fand er nicht nur politisch relevantes Material, sondern auch manches zum Privatleben der Caesaren. Auf diese Weise mag er auch überhaupt auf den Gedanken gekommen sein, Biographien der Kaiser schreiben.

Einen hohen literarischen Wert hat man den Kaiserbiographien Suetons in der philologischen und historischen Forschung nicht beimessen wollen. Das ist angemessen, ein solcher war aber auch gar nicht der Anspruch des Autors. Sueton wollte unterhalten, Kaiser auch aus der Schlüssellochperspektive betrachten, womit er einem in der ersten Hälfte des 2. Jahrhunderts vorherrschenden Publikumsgeschmack entsprach. Das römische Kaisertum war in dieser Zeit, anders als zu den Zeiten eines Augustus oder Tiberius, institutionell fest etabliert. Daher interessierte sich die Bevölkerung auch und vor allem für Persönliches, für Aussehen, Charakter, Vorlieben, Schwächen. Und bei Sueton wurden die Leser und Hörer gut bedient, nicht zuletzt weil er in seinen Biographien ein übersichtliches Darstellungsschema wählte. Eingerahmt von den Eckdaten zu Geburt, früher Karriere, Zeit als Kaiser und Tod präsentiert er in festen Rubriken eine Reihe prägnanter Eigenschaften des jeweiligen Herrschers. Seine Tiberius-Vita hat vom faktischen Gehalt her einen hohen Wert. Wie Tacitus neigte auch Sueton nicht zu Erfindungen oder zur bewussten Verbreitung von Falschmeldungen. Jedenfalls gilt dies für die Informationen, die er in den Archiven entdeckt hat. Er zog allerdings auch andere Quellen heran, die in ihrer Glaubwürdigkeit nicht über jeden Zweifel erhaben sind. Die Biographien des Augustus und des Tiberius sind ausführlicher als die der anderen Kaiser. Das liegt daran, dass Sueton im Jahr 121 seinen Posten als Kanzleichef wegen Unstimmigkeiten und Unbotmäßigkeiten räumen musste und ihm für die späteren Kaiserviten somit nicht mehr so viel exzellentes Material zur Verfügung stand. Für die frühen Kaiser aber konnte er Kostbarkeiten wie Zitate aus der Korrespondenz von Augustus mit Tiberius verwerten.

Sueton war wie Tacitus kein Freund des Tiberius, allerdings aus anderen Gründen. Er sah den Kaiser nicht aus der Perspektive des Senators, sondern aus der des Hofbeamten. Seine Vorbilder waren die Kaiser Augustus, der Begründer des Prinzipats, und Hadrian, unter dem er arbeitete. Hadrian war neben Mark Aurel der profilierteste Vertreter des sogenannten »humanitären Kaisertums«, also »guter« Kaiser, die mit den Oberschichten kooperierten, allgemein akzeptierte Werte repräsentierten und zudem bestrebt waren, auch für »das Volk« da zu sein. Tiberius entsprach nach Ansicht Suetons diesem Ideal nicht. Dass er die letzten elf Jahre seiner Herrschaft auf der Insel Capri verbrachte, war für Sueton ein schwerer Verstoß gegen die von ihm vertretenen Prinzipien der römischen Monarchie.

Cassius Dio

Cassius Dio ist der späteste der »Großen Vier«, die die schriftliche Überlieferung zu Tiberius geprägt haben. Von seiner Haltung und seiner Ausrichtung her steht er Tacitus am nächsten. Wie sein frühkaiserzeitlicher Kollege war er Senator und viel beschäftigter Politiker, der sich gleichzeitig mit Geschichte und Geschichtsschreibung befasste.

Er stammte aus der Stadt Nikaia, dem heutigen İznik, im Nordwesten Kleinasiens. Somit gehörte er zum griechischen Kulturkreis. Unter seinen vielen Werken ragt die monumentale Römische Geschichte heraus, in der er die frühe Kaiserzeit und damit auch die Herrschaft des Tiberius ausführlich beschrieben hat. Allerdings sind nicht alle Partien erhalten. Das Werk wurde nach 230 publiziert, fast zweihundert Jahre nach dem Tod des Tiberius. Dios Quellen für diese Phase der Geschichte waren, wie bei Tacitus, heute nicht mehr erhaltene zeitgenössische Schriften. Wahrscheinlich gehörte auch Tacitus zu seinen Vorlagen.4

Jedenfalls hat Dios Tiberius große Ähnlichkeit mit dem Tiberius des Tacitus. Auch Dio hält ihn für einen schwachen, grausamen, heuchlerischen Herrscher. Dabei handelt es sich jedoch nicht um eine bloße literarische Adaption. Vielmehr spielte bei dieser Bewertung auch der Zeithintergrund eine Rolle: Dios Karriere als Politiker fiel in die Zeit der Kaiser aus der Dynastie der Severer (193–235). Es war eine unruhige Zeit. Innenpolitische Instabilität und außenpolitische Bedrohungen sorgten für ein Klima der Verunsicherung. Gefragt waren starke Herrscher und fähige Feldherren. Das war, gepaart mit stabilen staatlichen Strukturen, die Idealvorstellung des Senators Cassius Dio, und er legte sie in seinem Geschichtswerk auch als Folie über die Vergangenheit. Die Herrschaft des Tiberius schnitt dabei nicht sonderlich gut ab, auch wenn es Rom unter seiner Regierung wesentlich besser ging als zur Zeit der Severer. Doch auch das ambivalente Verhältnis des Tiberius zum Senat und seine Schwierigkeit, einen direkten Draht zum Volk zu finden, hatten einen Anteil daran, dass Dio den zweiten Prinzeps als einen insgesamt schlechten Kaiser präsentierte.

Weitere Quellen

Neben den vier Hauptquellen gibt es eine Reihe weiterer literarischer Quellen, in denen Tiberius und seine Zeit Erwähnung finden. Allerdings handelt es sich dabei nicht um zusammenhängende historische oder biographische Darstellungen, sondern um Einzelinformationen in anderen Kontexten, wie etwa bei Strabon, Plinius dem Älteren oder Seneca. Substanziell tragen sie zu einer Biographie des Tiberius indes wenig bei. Hervorzuheben sind jedoch die christlichen Autoren Tertullian und Eusebius – sie waren für die Vereinnahmung des Tiberius durch die christliche Publizistik von eminenter Bedeutung.

Weitere Quellengattungen, die über das Leben und die Herrschaft des Tiberius Auskunft geben können, sind Inschriften, Münzen und archäologische Überreste. Die Inschriften und Münzen bewegen sich, was Bildmotive und Legenden angeht, im konventionellen, von Augustus vorgegebenen Rahmen. Durch Bauten insbesondere repräsentativer Art ist Tiberius, anders als die meisten anderen römischen Kaiser, kaum in Erscheinung getreten. Sowohl in der Hauptstadt Rom als auch in den Provinzen des Römischen Reiches ist sein Beitrag zur imperialen Architektur überschaubar. Auch das ist einer der Gründe dafür, warum Tiberius heute allgemein wenig Aufmerksamkeit findet. Hätte er, wie zum Beispiel sein späterer »Kollege« Caracalla, der römischen Bevölkerung eine prächtige Thermenanlage geschenkt, wäre sein Name auch bei heutigen Rom-Besuchern noch sehr präsent. Aber Tiberius schonte lieber die Staatskasse – was sich für seine Reputation als nicht besonders förderlich erwies.

Tiberius

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