Читать книгу Ein aufgeschobener Kuss - Holly B. Logan - Страница 3

Prolog

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"Verdammt, ich kann heute einfach nicht mehr", stöhnte Lara Miller verzweifelt und legte ihren Kopf müde auf die vor ihr ausgebreiteten Bücher und Hefte. Seit Wochen war sie an ihren Schreibtisch gefesselt und büffelte für die Abschlussprüfungen ihres Soziologie-Studiums. "Ich weiß nicht, wie ich das schaffen soll, es ist einfach zu viel", sagte Lara leise zu sich selbst. Sie schaute sehnsüchtig aus dem Fenster, die Sonne schien, es war herrlich warm - und eigentlich, wie fast jeder Tag in San Diego, der perfekte Strand-Tag. Früher hätte Lara keine Gelegenheit ausgelassen, die Tage und Nächte an einem der vielen Strände zu verbringen, aber sie konnte nicht. Lara Miller war eine ehrgeizige Studentin, sie wollte ihr Studium bestmöglich abschließen und bereitete sich akribisch auf ihre Prüfungen vor. Doch heute fiel es ihr besonders schwer, sich zu konzentrieren. Die Luft flirrte, in ihrem kleinen Appartement war es stickig und heiß. Jeden Satz musste sie zweimal lesen, und selbst dann wollte einfach nicht in ihr Hirn, was sie gerade gelesen hatte. Laras Gedanken schweiften ab. Sie dachte an Nancy.

Nancy Conelly war ihre beste Freundin seit Schulzeiten. Nancy hatte wie Lara erst Soziologie und dann Psychologie studiert, aber das Studium schon vor einiger Zeit geschmissen. "Dieses ewige Lernen nervt mich", sagte sie als Erklärung. Lara versuchte immer wieder, Nancy davon zu überzeugen, das Studium wieder aufzunehmen, aber Nancy winkte nur ab. Sie hatte einfach keine Lust mehr. "Ich sehe mich auch nicht in der Rolle, mir die Probleme irgendwelcher depressiven Arzt-Gattinnen anzuhören und ihnen Prozac zu verschreiben", sagte sie immer wieder. Auf die Frage, warum sie denn dann überhaupt mit dem Psychologie-Studium angefangen hat, hatte sie allerdings auch keine Antwort. Doch Lara wusste, warum Nancy das Studium abbrach: Sie hatte genug eigene Probleme. Der Grund war Polly, Nancys kleine zweijährige Tochter, das Ergebnis der Beziehung mit Simon Woodmann. Die Beziehung zu Simon lag in Trümmern, und so stand Nancy nun allein mit Polly, die sie natürlich über alles liebte, da. Simon hatte sich einfach aus dem Staub gemacht. Und so war es nun an Nancy, ihren Mann zu stehen und ihre kleine Familie zu ernähren. Sie hatte keinen familiären Rückhalt und konnte es sich schlicht und ergreifend nicht länger leisten, zu studieren. Sie musste arbeiten gehen. Lara wusste zu gut, dass Nancy gern weiter studiert hätte. Nancy war eine aufmerksame Zuhörerin, konnte sich gut in andere Menschen und ihre Probleme hineinversetzen und hatte immer die passenden Worte parat. Sie wäre eine hervorragende Psychologin geworden. Stattdessen hielt sie sich nun mit diversen Gelegenheitsjobs über Wasser. Seit Monaten half Nancy in einer Kanzlei halbtags als Mädchen für alles aus. Die Nachmittage hatte sie frei, was ihr ganz recht war, denn so konnte sie viel Zeit mit Polly verbringen. Fast jeden Tag klingelte Laras Telefon, fast jeden Tag rief Nancy vom Strand aus an und versuchte Lara zu überreden, die Bücher Bücher sein zu lassen und statt zu lernen, den Nachmittag mit ihr und Polly am Strand zu verbringen. "Lara, du verschrumpelst noch über deinen Büchern!", versuchte Nancy ihr Bestes. "Wir sind hier am Cori, es ist so toll, komm vorbei, bitte!", bettelte sie jeden Tag aufs Neue.

Aber Lara blieb standhaft, obwohl ein Tag am Cori, wie Nancy und Lara ihren Lieblingsstrand Coronado Beach liebevoll nannten, wirklich eine verlockende Versuchung war. "Süße, du weißt doch, die Abschlussprüfungen, ich kann nicht", vertröstete Lara ihre Freundin immer wieder.

Doch heute ging irgendwie gar nichts mehr. Lara Miller konnte sich partout nicht konzentrieren. So einen Aussetzer hatte sie selten, und sie konnte sich beim besten Willen nicht erklären, warum es ihr heute so schwer fiel, sich auf ihr Lernpensum zu konzentrieren. Vielleicht muss ich wirklich mal raus, den Kopf freikriegen, dachte sie. Dann erinnerte sie sich an die weisen Worte ihrer geliebten Grandma Lucie. "Kindchen, iss erst mal was!", sagte sie immer, wenn es Lara schlecht ging. Und dann schmierte Grandma Lucie ihr ein Erdnuss-Butter-Sandwich, mit Bananen-Scheiben und Schokoladen-Sirup oben drauf. Diese Kombination wirkte immer Wunder und löste fast jedes Problem.

Lara stand auf, reckte und streckte sich, ihr ganzer Körper war vom vielen Sitzen schon völlig verspannt. Sie ging in die Küche, brühte sich einen Kaffee auf Eiswürfel, damit dieser sofort abkühlte. Lara liebte kalten Kaffee. Dann schmierte sie sich ihr Grandma Lucie Spezial-Sandwich und kratzte dafür den letzten Rest Erdnussbutter aus dem Glas. In den letzten Wochen war ihr Erdnussbutter-Konsum rapide in die Höhe gegangen. Sie brauchte das hochkalorische salzig-cremige Nuss-Zeug einfach als Nervennahrung. Dann gab sich Lara einen Ruck, seufzte laut und wählte Nancys Nummer.

"Na, du Bücherwurm", begrüßte Nancy sie am anderen Ende der Leitung, "was gibt´s?" "Hey Süße, du wirst es kaum glauben, aber heute muss ich wirklich mal raus. Ich bekomme hier nichts mehr zustande. Und deshalb wollte ich dich fragen, ob wir zusammen zum Cori fahren?"

"Ach Lara, nein, das ist nicht dein Ernst", jammerte Nancy ins Telefon, "genau heute kann ich nicht. Heute muss ich den ganzen Tag arbeiten, sie haben da bei Brandol so ein Wahnsinns-Meeting, da muss ich aushelfen und bin dort komplett eingespannt."

Lara musste lachen. "Das ist wohl Murphys Law", sagte sie und es war wirklich schade, dass Nancy sie den ganzen Sommer über nervte, und just an dem Tag, wo Lara sich endlich mal Zeit nahm, nicht konnte. "Alles gut, Nancy, mach dir keinen Kopf. Ich denke, ich fahre dann einfach alleine."

"Verdammter Mist aber auch", fluchte Nancy noch immer ins Telefon. "Das ist echt so schade. Aber wie dem auch sei, das ist die richtige Entscheidung, meine kleine fleißige Lern-Biene. Du musst echt mal raus! Kannst nicht jeden Tag Stoff in dein Hirn reinprügeln, du musst auch echt mal Pause machen. Dann lass es dir gut gehen, okay?"

"Das werd ich. Und benimm dich bei dem Meeting", sagte Lara und lachte. Sie wusste um Nancys große Klappe.

Bevor Lara es sich anders überlegen konnte, packte sie in Windes-Eile ihre Strandtasche, buchte sich mit ihrem Smartphone einen Car2Go-Smart, denn sie hatte und wollte keinen eigenen Wagen, und machte sich auf den Weg. Sie hatte ihr Appartement seit Tagen nicht mehr verlassen. Die Sonne und die Hitze auf der Straße erschlugen sie fast. Jetzt, da sie sich auf den Weg gemacht hatte, war sie wahnsinnig erleichtert. Sie schob das noch leicht vorhandene schlechte Gewissen, heute nicht zu lernen, zur Seite und freute sich auf ihren Ausflug zum Coronado Beach. Wenngleich sie auch etwas traurig war, dass Nancy und Polly nicht mitkommen konnten.

All diese Gedanken gingen Lara durch den Kopf, als sie über die imposante San Diego Coronado Bay Bridge fuhr. Sie spürte schon jetzt, wie gut es ihr tat, die Bücher und den Schreibtisch verlassen zu haben. Am Strand angekommen, suchte sie sich eine ruhige schattige Stelle unter einem Sonnenschirm, breitete ihr Strandlaken aus und legte sich in den warmen Sand. Der Strand war außergewöhnlich voll, schließlich war es unter der Woche, mitten am Tag. Aber die Hitze lockte viele Leute ans Meer. Lara beobachtete das bunte Treiben am Strand, während sie ihr großes Lieblingsstrandtuch ausbreitete und ihren kleinen Sonnenschirm in den Sand schob. Die Familien, die spielenden und buddelnden Kinder, die Surfer im Wasser, die vielen Strandschönheiten. Sie sprühte sich mit dem nach Vanille duftenden Sonnenspray ein und machte sich lang. Von der typischen Strand-Geräusche-Kulisse - Meeresrauschen, Kindergeschrei, Menschengemurmel, Möwen-Gekreische und Wind - wurde Lara in einen tiefen Schlaf eingelullt.

Als sie von ihrem Beach-Nickerchen wieder aufwachte, musste sie sich erst einmal orientieren. Sie hatte völlig vergessen, dass sie am Strand war, rieb sich die Augen und brauchte einige Minuten, um ihren Vormittag zu rekonstruieren. Sie war völlig durch den Wind, so tief und fest hatte sie geschlafen. "Puh!", seufzte sie und raffte sich auf, ging zum Wasser und sprang, ohne zu zögern in das kühle, erfrischende Nass. Sie tauchte in die Wellen und der Frischekick ließ sie sofort wieder klar im Kopf werden. Lara schwamm einige Züge und ließ sich auf dem Wasser treiben. Blinzelnd lächelte sie in die Sonne. Das war eine der besten Entscheidungen der letzten Wochen, dachte sie. "Ich sollte viel öfter an den Strand fahren", sagte sie zu sich selbst. Dann entstieg sie den weichen Wellen und hörte hinter sich ein anerkennendes Pfeifen. Lara drehte sich um, und sah zwei süße Surfer-Boys, die ihr zuwinkten. Sie lächelte verschmitzt und unterstrich ihr gespieltes Desinteresse, in dem sie einfach weiterlief und ein Stück am Strand spazieren ging. Die Sonne schien auf ihren vom Wasser gekühlten Körper und wärmte sie. Kein Wunder, dass die Surfer ihr hinterherpfiffen, die 29-Jährige sah einfach umwerfend aus in ihrem hellblauen Bikini, dem schlanken und trainierten Körper mit dem kleinen runden Knack-Po und den kleinen, festen Brüsten. Dazu ihre langen, haselnussbraunen Haare mit den hellen sonnengebleichten Strähnchen. Doch Lara machte sich nichts aus den Avancen der Surfer-Boys, wenngleich sie ihr auch sehr schmeichelten. Schließlich war sie schon seit zwei Jahren Single, was ihre Freundin Nancy nie verstehen konnte. Lara hatte viele Verehrer, aber niemand konnte sie so richtig faszinieren. Sie verliebte sich einfach nicht. Es war wie verhext! Nancy versuchte immer wieder, sie zu verkuppeln, was nie gelang. Die von Miss Conelly angeschleppten Herren verliebten sich zwar reihenweise in die junge Frau, aber bei Lara sprang nie der Funke über. Es war ihr aber auch recht, denn sie wollte sich sowieso auf ihr Studium konzentrieren.

"Du kleine Streberin, du verpasst noch das Leben", sagte Nancy ständig zu ihr.

Aber Lara machte das nichts aus. Sie genoss ihre Unabhängigkeit. Nichtsdestotrotz träumte sie natürlich von der großen Liebe und dem Familienglück. Gedankenverloren ging sie am Strand entlang, sie schaute auf das glitzernde Wasser und genoss es, ihren Gedanken freien Lauf zu lassen. Lara dachte an ihre bevorstehenden Prüfungen und sehnte den Tag der letzten Klausur herbei, wenn sie alles hinter sich gebracht haben würde. Was für eine Erleichterung das werden wird, dachte sie. Im gleichen Moment hatte sie aber auch Angst, denn noch war unklar, was sie nach dem Studium machen würde. Sie hatte schon lange ihre Fühler ausgestreckt, hatte Bewerbungen in verschiedene Einrichtungen und Kliniken geschickt, wusste aber, dass in Zeiten, wo als Erstes im Sozialwesen alle Budgets gekürzt werden, es schwer sein würde, einen Job zu finden.

"Hey Mexi-Boy, los, rück die Kohle raus!", hörte Lara plötzlich jemanden laut von der Strandpromenade her rufen.

Sie konnte nicht genau erkennen, woher das Geschrei kam, aber augenblicklich zerplatzte die Strand-Idylle und wich lautem Tumult. Pfiffe, lautes Grölen, laute Musik. Lara drehte sich um und lief ein paar Meter in die Richtung, aus der der Lärm kam. Immer wieder hörte sie Schreie: "Aufhören, verdammt, hört endlich auf!" Doch anscheinend war das laute Bitten nur eine Einladung zu noch mehr Ärger.

Lara lief nun immer schneller und sah schon nach wenigen Metern eine Menschenansammlung, die sich vor einem kleinen Kaffee gebildet hatte. Überall waren Leute und gafften, Mütter mit ihren Kindern, ältere Paare, zwei Kellner standen auf einem Stuhl und schauten dem Spektakel, das sich ihnen gerade bot, aus der ersten Reihe zu. Je näher Lara der Menschentraube kam, desto lauter wurden die Pfiffe und das Klatschen. Immer wieder hörte sie, wie jemand schrie: "Mexi-Boy, hey, los, lasst uns dem kleinen Mexi-Boy eine Lektion erteilen!"

Ohne nachzudenken, lief Lara nun direkt auf die Meute zu. Eine ältere Dame zog sie am Arm und hielt sie zurück: "Ich würde mich da an Ihrer Stelle nicht einmischen", sagte sie und sah Lara mit aufgerissenen Augen an.

"Aber was geht denn da vor sich?", wollte Lara wissen und schaute neugierig herüber.

"Die treiben schon seit geraumer Zeit hier ihr Unwesen, diese Halbstarken", sagte die alte Frau und schüttelte aufgebracht den Kopf, "erst vor einer Woche wurde einem von denen", sie streckte den Arm aus und zeigte zu dem Jungen, der etwas abseits stand und einen Kassettenrekorder auf den Schultern trug, "ein Platzverweis erteilt! Der beschallt mit seinem Gerät den ganzen Strand! Und wenn man ihn bittet, die Musik leiser zu machen, fühlt er sich animiert, sie nur lauter zu drehen! Und jetzt haben sie sich schon wieder einen vorgeknöpft!"

"Einen vorgeknöpft? Was soll das bedeuten?" Lara wartete nicht, bis die ältere Dame antwortete, wandte sich ab und lief nun intuitiv und ohne nachzudenken, direkt auf die Menschentraube zu.

Fünf Jungs, alle so um die vierzehn, höchstens fünfzehn Jahre alt, hatten einen Kreis gebildet und standen um einen etwa Gleichaltrigen herum. Wie einen Ball schubsten sie ihn sich gegenseitig zu und der Junge torkelte benommen hin und her. Ständig applaudierten sie, wenn er zu Boden stürzte und sich nur mit Mühe wieder aufraffen konnte, um dann wieder von den Jungs hin und her geschubst zu werden. Es war unglaublich mit anzusehen, wie sehr sie sich an dem ängstlichen Gesicht des Jungen labten.

"Hey Mexi-Boy, flennst du jetzt? Bist du ein Mädchen? Hey, zeig doch mal, ob du ein Mann oder ein Mädchen bist!" Sie begannen an seiner Badehose zu ziehen und der ängstliche Junge, hatte große Mühe, sich gegen die vielen Hände an seinem Körper zur Wehr zu setzen. Er blutete aus der Nase, das Blut war bereits über seinen Oberkörper gelaufen, immer wieder nahm er seine Hand und versuchte, es von seinem Mund zu wischen. Lara schwoll bei dem Anblick, im wahrsten Sinne des Wortes, der Kamm. Sie konnte so eine Ungerechtigkeit nicht ertragen und noch mehr wütete der Zorn in ihr, als sie sah, wie die Menschen untätig um die Jungs herumstanden und niemand auch nur die geringsten Anstalten machte, ihm zur Hilfe zu eilen.

Lara warf den beiden Kellnern auf den Stühlen, die jetzt nur noch etwa einen Meter von ihr entfernt waren, einen bösen Blick zu und sagte zu ihnen: "Ja, sich lieber für eine bessere Aussicht auf einen Stuhl stellen, anstatt zu helfen, ganz toll!"

"Wir haben die Cops bereits gerufen, Werteste! Mischen Sie sich da nicht ein, sonst sind Sie nämlich die Nächste!"

Doch da hörte Lara schon nicht mehr hin, bahnte sich ihren Weg durch die Herumstehenden und hielt den ersten Jungen, den sie greifen konnte, an seinem T-Shirt fest: "Hey, was soll das denn?", rief sie laut, "Fühlst du dich jetzt stark? Fünf gegen einen? Sieht so Stärke aus?"

Der Junge starrte sie an und grinste, doch das Grinsen blieb ihm augenblicklich im Halse stecken. Lara konnte in seinen Augen erkennen, dass er wusste, dass das was er gerade tat, unrecht war. Einen Moment hielt er inne, seine gehässigen Gesichtszüge hatten sofort wieder etwas Mildes, doch dann riss er sich von Lara los und giftete sie an: "Hey, machst du mich an? Du stehst wohl auf mich, was?"

Daraufhin brachen seine Kumpels in schallendes Gelächter aus und der Junge fühlte sich bestätigt und warf ihr einen Luftkuss zu.

"Hey, Jimmy, siehst du, wie sie dich anschaut, die steht wirklich auf dich, wooohoooo..." Nun begann einer aus der Gruppe, ein großer Hagerer, an Laras Haaren herumzuspielen. "Na, Süße, wer gefällt dir besser, ich oder der Mexi-Boy da drüben?" Er zeigte auf den Jungen mit der blutenden Nase, der gerade von einem anderen aus der Gang in den Schwitzkasten genommen wurde.

Doch plötzlich, noch bevor im Hintergrund das kurze Aufjaulen einer Polizeisirene über die Promenade drang, trieben die Jungs plötzlich auseinander. "Verpisst Euch, Jungs, sonst gibt’s richtigen Ärger!", schrie jemand und riss den blutenden Jungen augenblicklich von dem anderen weg.

"Ey, Alter, ich hau dir gleich eine rein", bellte der Halbstarke daraufhin. Der Schock stand ihm ins Gesicht geschrieben. "Misch dich hier nicht ein, sonst ..."

"Sonst was?", fragte der junge Mann, der sich sehr wohl einmischte und den Lara erst richtig sehen konnte, nachdem der hagere Typ von ihr abgelassen hatte und sie ruppig auf ihn zustieß.

Lara fiel direkt vor seine Füße. Sofort beugte er sich zu ihr nach unten und half ihr auf.

"Alles okay? Haben Sie sich wehgetan?", fragte er und schaute prüfend auf Laras Knie.

"Ja, danke, alles gut, mir ist nichts passiert, aber … aber, der Junge", sagte Lara und drehte sich suchend nach dem kleinen Latino-Jungen um, der just in dem Moment von den beiden Kellnern, die eben noch auf den Stühlen gestanden hatten, umsorgt wurde.

Einer der beiden reichte ihm eine Serviette, sodass er sich zumindest erst einmal das Blut von der Nase wischen konnte, der andere beugte sich zu ihm herunter und reichte ihm zusätzlich sein Geschirrtuch. Indes rückten zwei Beamte an.

Es dauerte nur wenige Momente und die Traube aus pöbelnden Halbstarken und glotzenden Menschen hatte sich aufgelöst. Der Mann legte beschützend seinen Arm um Lara und ging ein paar Schritte mit ihr zur Seite. "Sind Sie wirklich sicher, dass Sie sich nichts getan haben?"

"Ja, nein, doch, ähm, nein, nein ...", stotterte Lara nun und sah abwechselnd prüfend an sich herunter und dann wieder in das Gesicht des Mannes, von dem sie auf der Stelle fasziniert war.

Er hatte kurzes, dunkles, sehr dichtes Haar, das vorn etwas länger war, einige Strähnen fielen in sein sonnengebräuntes Gesicht, das mit dem Dreitagebart, den er trug, smart und zugleich verwegen aussah. Vor allem seine Augen fielen ihr auf, sie hatten etwas Magisches, einerseits wirkten sie freundlich, gleichzeitig hatte dieser Typ aber auch etwas Abgeklärtes in seinem Blick, fast so, als habe er zu viel gesehen, als dass ihn noch irgendetwas oder irgendjemand leicht aus der Fassung bringen konnte. Er hatte noch immer seinen Arm um sie gelegt und Lara merkte, wie ihr heiß und gleichzeitig kalt wurde.

"Möchten Sie ein Stück gehen, soll ich Sie irgendwohin bringen?", fragte er und lächelte.

Es war ein sehr charmantes Lächeln, gleichzeitig spürte Lara aber sofort, dass er um die Wirkung seines Lächelns bei Frauen ganz genau Bescheid wusste.

"Nein, nein, vielen Dank, es geht schon", sagte sie und strich sich das Haar mit einer so ausladenden Bewegung zurück, dass die Hand ihres Retters von ihren Schultern glitt. "Dort vorn ist meine Decke", sagte sie.

"Ich bin übrigens Nick, Nick O’Mara!" Er hielt ihr seine Hand hin.

"Lara Miller", sagte Lara.

"Freut mich!", sagte Nick und begleitete sie zu ihrem Strandplatz.

"Na, dann ...", sagte Lara, als sie vor ihrer Decke standen. "Vielen Dank, dass Sie mir und dem Jungen geholfen haben."

"Keine Ursache, das ist doch selbstverständlich." Man merkte, dass er noch etwas sagen wollte, aber irgendwie, so machte es den Anschein, wollte er sie auch nicht länger behelligen.

Fast schien es, als warte er darauf, dass Lara den Anfang machte. Aber die war gerade so perplex, dass sie keinen geraden Satz zustande brachte. Sie schaute an Nick - der ein weißes Unterhemd und eine bis über die Knöchel hochgekrempelte Jeans trug - herunter, wie ein unbeholfenes Schulmädchen, das gerade bei einem Streich ertappt worden war.

"Na dann ...", sagte sie schließlich noch einmal und hätte sich augenblicklich selbst für ihr Herumdrucksen ohrfeigen können.

Nick sah sie liebevoll an, und obwohl er die Enttäuschung in seinem Blick nicht verbergen konnte, blieb er tough und wiederholte ihre Worte: "Na dann ... war schön, Sie kennengelernt zu haben."

Als er ging, drehte er sich noch zweimal nach ihr um, aber Lara machte keine Anstalten und starrte aufs Meer hinaus. Sag mal, spinnst du, beschimpfte sie sich in Gedanken und äffte sich selbst nach. Na dann, na dann, na dann. Fällt dir wirklich nichts Besseres als so was selten Blödes wie: Na dann ein? Einige Minuten blieb sie auf ihrer Decke sitzen, doch je mehr Zeit verstrich, desto mehr Unruhe stieg in ihr auf. Ihr Blick ging nach links und rechts, doch sie konnte Nick nirgends mehr entdecken. Mist, so ein verdammter Mist, fluchte sie leise in sich hinein und sprang dann wie von der Tarantel gestochen auf. Sie musste sich beherrschen, nicht wie eine aufgebrachte Hysterikerin den Strand abzusuchen und lief noch einmal zurück zur Promenade, von wo aus sie einen besseren Blick hatte. Aber nichts – Nick O’Mara war so plötzlich verschwunden, wie er aufgetaucht war.

Enttäuscht lief Lara wieder zum Wasser hinunter. Die Gedanken wirbelten wild durch ihren Kopf: warum, warum, warum – musste ich nur so blöd sein? Während das kühle Nass ihre Knöchel umspielte, schaute sie auf die endlose Weite des Pazifiks. Dann schloss sie die Augen und ließ das eben Erlebte nochmal Revue passieren, besonders den Moment, als sie Nick O’Mara vor die Füße fiel und er sie zu sich nach oben zog. Sie spürte, wie sich dieses Bild, in ihr Gedächtnis einzubrennen begann. Noch als alte Frau würde sie von diesem Moment träumen und ihn sich herbeisehnen, genauso wie diesen wundervollen Mann, den sie fast wortlos gehen ließ. Plötzlich ein sanftes Tippen auf ihrer rechten Schulter. Und da stand er - Nick O’Mara und schaute Lara Miller mit einem Blick an, der sich bis auf den Grund ihres Herzens bohrte.

Ein aufgeschobener Kuss

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