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ZWEI
2007

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HANS-JÜRGEN MANNHARDT blieb noch eine Viertelstunde, nachdem der Wecker geklingelt hatte, im Bett liegen und fand einfach nicht die Kraft, die Füße auf den Boden zu setzen und ins Bad zu gehen. Der Tag seiner Pensionierung rückte immer näher, und das lähmte ihn. Alles, was ihm durch den Kopf ging, hing mit Abschied und Vergänglichkeit zusammen.

Aber der Wagen, der rollt … Alles hat seine Zeit … The rest is silence … Der Rest ist Sterben …

Abschied ist ein scharfes Schwert, hatte Roger Whittaker gesungen, und was den Abschied von der Arbeit anging, da glaubte Mannhardt, dass ihm dieses Schwert den Kopf vom Rumpf schlagen würde. Seine Mordkommission war sein Leben, und wer sie ihm nahm, tötete ihn.

Kam er Heike, seiner Lebensgefährtin, mit seinen Depressionen, dann lachte die nur: «Was hast du all die Jahre über geklagt, dass du ausgebrannt bist, dass du es hasst, Mörder zu jagen, dass du nur deine Ruhe haben willst!» Und systematisch suchte sie ihm Sprüche heraus, die alles relativierten, wie etwa: Füge dich der Zeit, erfülle deinen Platz und räum ihn auch getrost: Es fehlt nicht an Ersatz! von Friedrich Rückert.

Ein schriller Schrei aus dem Kinderzimmer ließ ihn hochschnellen. Er lief über den Flur.

«Silvio, was ist?»

Der Junge zitterte am ganzen Leibe. Wie sich herausstellte, hatte er von einem Amokläufer geträumt.

«Der war auch in unserer Schule, Papa, und hat auf mich geschossen!»

Mannhardt verfluchte diese Welt. Es war unmöglich, die Kinder von allem abzuschirmen. Irgendwie kamen sie immer an Zeitungen und Magazine heran oder schalteten das Erwachsenenfernsehen ein, wenn die Eltern dachten, sie sähen Kika, den Kinderkanal.

«Ach, nimm das nicht so tragisch», sagte er zu seinem Sohn. «Ich habe den Krieg überlebt, da wirst du auch den Frieden überleben.»

Da erschien auch schon Heike auf der Bildfläche, nahm Silvio in den Arm und tadelte Mannhardt wegen seiner Worte. «Es wäre schön, wenn du einmal kindgerecht kommunizieren könntest.»

Wortlos entfernte er sich, um erst die Kaffeemaschine in Gang zu setzen und dann ins Bad zu gehen. Vielleicht konnten sie in Silvios Schule einen privaten Wachdienst installieren und ihn zum Chef bestimmen. Ehrenamtlich natürlich. Dann hätte er wenigstens etwas Sinnvolles zu tun.

«Ich rufe dann auf dem Schulhof alle Messerstecher zusammen, und wir organisieren richtige Berliner Meisterschaften. 2012 werden wir dann olympisch, und der erste Olympiasieger kommt aus Berlin. Mit Migrationshintergrund, aber voll integriert. Durch mich.»

Als er am Frühstückstisch saß, stellte sich heraus, dass Heike ihn schon verplant hatte.

«Wenn du erst pensioniert bist, kannst du ja vormittags für mich recherchieren, wenn ich etwas nicht schaffe.»

Sie war Journalistin und freute sich auf eine kostenlose Hilfskraft.

«Und nachmittags?», fragte er.

«Nachmittags kümmerst du dich um Silvio, machst mit ihm Schularbeiten und fährst ihn zum Sport und zum Klavierunterricht.»

Mannhardt lächelte selig. «Es war schon immer mein Traum, Hausmann und ‹alleinverziehender› Vater zu sein. Du musst mir nur genug Puderzucker hinstellen.»

Heike hing sofort vor Wut an der Decke, denn nichts ärgerte sie mehr als sein Vorwurf, sie würde dem Sohn pausenlos «Puderzucker in den Arsch blasen», wie er gern sagte.

«Ich weiß, deine großen Kinder …»

Die hatte er aus seiner ersten Ehe, und wenn sie mit denen anfing, verstand er das als Kriegserklärung. So stand er auch heute abrupt vom Frühstückstisch auf. «Ich gehe jetzt lieber …»

«Erst fährst du Silvio zur Schule, du bist heute dran.»

«Okay, erst die Pflicht, dann die Flucht.»

Also blieb er, obwohl er sich den Stress, der nun begann, gern erspart hätte, denn Silvio ging nur sehr ungern zur Schule. Mannhardt hatte volles Verständnis dafür, so sehr Heike ihn deswegen auch verwarnte. Sie hätte gern ein Kind gehabt, das in Deutsch so sprachgewaltig war wie Günter Grass, in Mathematik so beschlagen wie Leonhard Euler, in Physik so genial wie Albert Einstein, in Kunst so einzigartig wie Pablo Picasso und in Sport so talentiert wie Dirk Nowitzki. Für Mannhardt dagegen war das Glück das Maß aller Dinge, und er hasste es, wenn Kinder in der Schule abgerichtet wurden, um vielleicht einmal an einer der Eliteuniversitäten studieren zu können. Ihm hätte es gereicht, wenn sein Sohn ein glücklicher Fahrer bei der Berliner S-Bahn geworden wäre.

«Papa, bist du eigentlich immer gern zur Schule gegangen?», fragte der Sohn, als sie im Auto saßen.

«Natürlich», log Mannhardt. «Es ist doch ein Segen, dass es die Schule gibt. Stell dir mal vor, wir würden nicht schreiben und lesen lernen. Was dann? Dann könnten wir den ganzen Tag nichts weiter tun, als vor der Glotze zu sitzen.»

«Das wär doch geil.»

Mannhardt stöhnte auf. Zum einen wegen der mit übermäßigem Fernsehgenuss verbundenen Volksverblödung, zum anderen, weil er immer heftig darunter litt, wenn die Kids das Wort «geil« verwendeten. In seiner Jugend hatte es einzig und allein für sexuelle Erregung gestanden, und als pubertierende Knaben hatten sie gereimt: «An den Akku angeschlossen, / vögelt Fickfack unverdrossen. / Kerzen, Möhren und Bananen, / ja, der Laie kann’s kaum ahnen, / was dieses geile Weib/schob sich in den Unterleib.»

Als er den Jungen vor der Schule absetzte, tat er ihm maßlos leid. Anstatt zu spielen und zu juchzen, musste Silvio sich jetzt mit Mathematik und Grammatik abquälen, und es überwog noch immer der Frontalunterricht preußischer Prägung. Was mussten jene Kinder leiden, die nicht einsehen wollten, warum es Pferd hieß und nicht Ferd, obwohl nur Bekloppte das P vorne deutlich aussprachen. Ohne kräftig Tröpfchen in die Luft zu spucken, ging das gar nicht.

Was ihn tröstete, war derselbe Operettenvers aus der Fledermaus von Johann Strauß, der schon seinen Eltern geholfen hatte: Glücklich ist, wer vergisst, was doch nicht zu ändern ist. Und wer immer strebend sich bemühte, dem wurde ja die Erlösung versprochen. Gut war nur, dass die Kinder nicht für das Leben lernten wie er früher, sondern nur für die Schule, denn das ließ hoffen.

Seit langem schon hatte Mannhardt auf das Auto verzichtet und setzte sich in die U-Bahn, um von Tegel aus ins Büro zu fahren. Dies war aber im Augenblick alles andere als eine Freude, denn zwischen Alt-Tegel und Kurt-Schumacher-Platz wurde die U6 runderneuert, und man musste den Bus benutzen. Und wenn er eines hasste, dann den Schienenersatzverkehr.

Heike arbeitete gerade an einer Radiosendung über die Berliner U-Bahn, und mit Vergnügen blätterte er immer wieder in ihrem Manuskript. 144,9 Kilometer Streckenlänge, 170 Bahnhöfe, seit 1902 in Betrieb. Schön waren die Geschichten um die U-Bahn. Ein George A. Goldschlag hatte sogar Die Ballade von der Untergrundbahn gedichtet, mit Versen wie: Elfmal jährlich, laut Statistik,/Springt ein Mensch mit schrillem Schrei/Als verkörperte Ballistik/Vor den Zug und wird zu Brei. Ab und an wurde auch die Mordkommission gerufen, wenn es hieß «Person im Gleis», denn es fielen nicht nur Selbstmorde und Unfälle an, sondern ab und an wurde auch jemand auf die Gleise gestoßen.

Die Busfahrt bis zum Kurt-Schumacher-Platz nervte, und an der provisorischen Endhaltestelle war der Zug in Richtung Alt-Mariendorf schon voll bis oben hin, aber er konnte sich gerade noch hineinquetschen.

Der Mensch, so hatte es bei Heike ein Psychologe ausgedrückt, sei ein Distanztier, und innerhalb von sechzig Zentimetern befinde man sich in der Intimzone des anderen. Schnell hatte Mannhardt herausgefunden, dass er sich bereits in der Intimzone von drei Frauen gleichzeitig aufhielt, ohne dabei jedoch auch nur ein Mindestmaß an Lust zu empfinden. Die eine litt unter Akne und roch nach faulendem Heu, die zweite war vom Kaliber «Alles hört auf mein Kommando!» und jagte ihm nur Angst und Schrecken ein, und die dritte war zwar jung und morgenschön, aber so dämlich, dass es schon weh tat. Wie sie mit ihren Klassenkameradinnen kommunizierte, rechtfertigte jede Befürchtung, nach der die Deutschen im intellektuellen Wettbewerb mit anderen Völkern hoffnungslos unterlegen sein würden. Da aber auch die drei Frauen ihn abscheulich fanden, war das Unbehagen geradezu mit Händen zu greifen. Man mied jeden Blickkontakt, schaute auf den Bildschirm an der Decke des Waggons, auf dem die neuesten Nachrichten flimmerten, oder in eine unbestimmte Ferne. Mannhardt erinnerte sich an eine Szene aus Heikes Feature, in der vom englischen Premierminister Tony Blair berichtet wurde, wie der einmal – ganz volksverbunden – in der U-Bahn eine Sitznachbarin angesprochen hatte und mit einem bösen Blick und eisigem Schweigen abgestraft worden war.

Um nicht der Frottage bezichtigt zu werden, dem Reiben der Genitalien am Körper eines anderen, und damit als Sittenstrolch dazustehen, versuchte Mannhardt, sich so wenig wie möglich zu bewegen und den Frauen den Rücken zuzuwenden. Er erinnerte sich daran, gelesen zu haben, dass sich in Tokio, wo das Grapschen zur Manie geworden war, die Männer demonstrativ mit beiden Händen oben an den Griffen festhielten, um nicht in Verdacht zu geraten.

Am Leopoldplatz hatte er von der U6 in die U9 umzusteigen. Eine Zeitung hatte am letzten Ersten gemeldet, die großen Clubs des American Football würden ihre Spieler zum Training auf die großen Berliner Umsteigebahnhöfe schicken, und dazu einen Star der Berlin Thunder abgebildet. Natürlich war das ein Aprilscherz gewesen, doch er hatte es für logisch gehalten und geglaubt. Auch heute wieder verspürte er eine gewisse Regung, seine Dienstwaffe zu ziehen und wenigstens in die Luft zu schießen, um den Zug auf dem unteren Bahnsteig zu erreichen. Ohne dieses Mittel hatte er keine Chance gegen die Lahmärsche, die ihm den Weg versperrten. Als er endlich unten angekommen war, hörte er nur noch das harsche «Zurückbleiben bitte!», und weg war sein Zug.

Sein Vater hatte bei solchen Anlässen immer gemurmelt: «Wieder habe ich einen fahren lassen.» Dass damit das Flatieren gemeint war, verstand heute kein Mensch mehr, ebenso wie sie ihn ahnungslos ansahen, wenn er den Kollegen erzählte, dass ihr neuer Vorgesetzter im Flur «einen Koffer« habe stehen lassen. Sein Großvater hatte immer eine diebische Freude daran gehabt, in der überfüllten U- oder S-Bahn «einen durch die Reihen schleichen« zu lassen.

Das war das Schöne an der U-Bahn, dass der nächste Zug schon nach fünf Minuten kam. Und er bekam sogar einen Sitzplatz. In seinem Alter hatte er auch einen Anspruch darauf.

Zoologischer Garten stieg Mannhardt aus und überlegte einen Augenblick, ob er in die U2 umsteigen und bis zum Wittenbergplatz fahren oder zu Fuß zu seiner Dienststelle in der Keithstraße laufen sollte. Schließlich entschied er sich für den Fußweg, denn es war immer ganz spannend, an der Rückseite des Zoologischen Gartens entlangzulaufen. Links hatte man die Kolonnaden mit ihren vielen Läden, das Aquarium und den Nebeneingang des Zoos, rechts den Breitscheidplatz mit der Gedächtniskirche und den Prachtbau der Grundkreditbank.

Ein Tourist aus St. Irgendwo sprach ihn an. Wo denn hier der Olof-Palme-Platz sei.

Mannhardt zuckte mit den Schultern. «Tut mir leid, nie gehört.»

Sekunden später sah er anhand der Schilder, dass er mitten auf dem Olof-Palme-Platz stand, einer Ausbuchtung der Budapester Straße an ihrer Kreuzung mit der Nürnberger und der Kurfürstenstraße. Peinlich. Besonders für einen Kriminalbeamten. Schnell machte er, dass er weiterkam.

Die Tage, die Mannhardt noch ins Büro ging, waren gezählt, und sein Nachfolger saß schon bei ihm im Zimmer, um eingearbeitet zu werden. Der Kollege hörte auf den Namen Rico Schönbier und war noch so jung, dass es eine einzige Provokation war. Mannhardt hatte ihn vom ersten Augenblick an nicht gemocht. Schönbier sah aus wie ein hoffnungsvoller Fußballer aus der Oberliga, die Haare teilweise blond gefärbt und mit viel Gel zu Stacheln aufgerichtet und geistig nur so weit entwickelt, dass es seine Instinkte beim Passen und Toreschießen nicht sonderlich störte. Das Fitnessstudio war sein zweites Zuhause. Dort holte er sich die Kondition, um durch die Clubs der Stadt zu ziehen und ständig neue Frauen zu beglücken. Hörte er das Wort Kultur, schrie er nur «Scheiße!» und machte sich aus dem Staub. Auch von Politik hielt er nichts und vermied es, sich die Namen der Akteure zu merken. «Wenn ich die bei mir im Gehirn speichere, tue ich diesen Hanseln doch zu viel Ehre an.» Aber auch um die Heroen des Showgeschäfts, der Medien und des Sports kümmerte er sich wenig. «Was interessieren mich diese Arschlöcher?!» Er, Rico Schönbier, war das Maß aller Dinge, und an ihm gemessen waren das alles nur Blender. «Von irgendwelchen Idioten hochgepusht, um Geld mit ihnen zu machen.»

Mannhardt hasste «geistige Tiefflieger« wie Schönbier und sagte des Öfteren zu Heike, dass Oswald Spengler bei dessen Anblick den Untergang des Abendlandes neu geschrieben hätte, doch gegen Schönbier war nicht anzukommen, denn alle seine Prüfungen hatte er mit Einsen und Zweien bestanden, und auch seine dienstlichen Beurteilungen ließen nichts zu wünschen übrig.

Mühsamer als sonst stieg Mannhardt die Treppen zu seinem Büro hinauf, sich dabei selber verspottend: Der alte Mann und das Gehtnichtmehr. Wie viele Morde mochte er in seinen mehr als vierzig Dienstjahren aufgeklärt haben? Schätzungsweise 250. Nicht er allein, die Mordkommissionen, in denen er gearbeitet hatte. Und der nächste würde vielleicht der letzte sein.

Yaiza Teetzmann lief vor ihm her, seine langjährige Kollegin und engste Vertraute. Stellte er sich die Frage, was er in seinem Leben am meisten bedauerte, dann war es die Tatsache, nie mit ihr geschlafen zu haben. Blieb ihm nur sein Fontane als Trost: Eigentlich ist es ein Glück, ein Leben lang an einer Sehnsucht zu lutschen.

Sie musste ihn hinter sich gespürt haben, denn sie blieb stehen und drehte sich um. «Danke für die Einladung zu deiner Abschiedsparty.»

«Bitte.» Mannhardt schnaufte ein wenig, als er sie eingeholt hatte. «Es wird ein Top-Event werden. Wie damals im alten Rom, als Petronius Abschied von allen und allem genommen hat.»

«Wer war Petronius?»

«Ein römischer Schriftsteller und Satiriker, ein Weltmann am Hofe Neros, der ‹Schiedsrichter des feinen Geschmacks›. Als Nero ihn bezichtigte, an einer Verschwörung gegen ihn teilgenommen zu haben, und ihm die Hinrichtung drohte, beging er vorher Selbstmord. Dazu lud er alle seine Freunde ein, schnitt sich in deren Gesellschaft die Pulsadern auf, tauchte die Arme in eine Schüssel mit warmem Wasser und dämmerte langsam dahin.»

Yaiza Teetzmann verstand die Zusammenhänge nicht ganz. «Hat dir denn der Polizeipräsident angedroht, dich verhaften und einsperren zu lassen?»

«Es geht darum, dass ich stilvoll von allem Abschied nehmen möchte.»

«Eine Pensionierung ist doch kein Todesurteil.»

«Für mich schon.»

Yaiza Teetzmann lachte. «Du kannst doch versuchen, wieder Lehrveranstaltungen an der Fachhochschule zu bekommen.»

«Ja, keine schlechte Idee: Opa erzählt euch mal, wie wir damals den Berliner S-Bahn-Mörder und die Bestie vom Schlesischen Bahnhof zur Strecke gebracht haben.»

«So alt bist du doch nun auch wieder nicht.» Mannhardt stöhnte auf. «Man ist immer so alt, wie man sich fühlt – und mein gefühltes Lebensalter liegt heute bei 110.»

«Genau das richtige für einen Polizeibeamten.» Mannhardt schwieg. Yaiza Teetzmann würde ihm fehlen. Nicht nur ihres Anblicks wegen.

Schönbier wartete schon in der Tür seines Büros. Mannhardt nannte das «Zimmerbesetzung», aber er hatte sie nicht verhindern können. Wie jedes Lebewesen reagierte er erbost darauf, ein anderes Männchen in seinem Revier zu sehen.

«Grüß Gott», murmelte Mannhardt, weil er wusste, dass sich Schönbier darüber ärgerte. «Was gibt es Neues?»

«Leichenfund in Schmöckwitz. Wir müssen raus.»

«Gut, fahren wir. Aber Yaiza soll mit.» Mannhardt grauste es davor, so lange mit Schönbier allein im Wagen zu sitzen.

Zu dritt machten sie sich auf den Weg in Berlins südöstlichsten Zipfel. Schon auf dem Parkplatz kam es zur ersten kollegialen Auseinandersetzung. Wer sollte am Steuer des geleasten Dienstwagens sitzen? Mannhardt wollte nicht. Als ehemaliger West-Berliner war er noch immer ein wenig traumatisiert, wenn es darum ging, im gewesenen Ost-Berlin am motorisierten Individualverkehr teilzunehmen. Nie vergaß er das barsche «Fahren Sie mal rechts ran!» und die Angst vor stundenlangen Verhören, an deren Ende Bautzen stehen konnte.

Yaiza Teetzmann als Mädchen aus Marzahn kannte diese Ängste nicht, hatte aber eine instinktive Abneigung gegen alle Westautos. Ihr Vater, SED-Funktionär und ein sogenannter Zweihundertprozentiger, hatte sie in diesem Sinne erzogen. BMW und Mercedes fuhren die Bonner Ultras, die Kapitalisten, die Ausbeuter, die Kriegstreiber.

Für Schönbier war ein Auto ein Auto und eine Straße in Köpenick (ehemals Ost-Berlin) nicht anders als eine in Neukölln (ehemals West-Berlin), und fahren sollte der, der das am besten konnte, also er. Generell hasste er es, wenn die Wessis wie auch die Ossis «diesen ganzen alten Scheiß« immer wieder aufwärmten. Seine Mutter war eine Russlanddeutsche, und von seinem Vater hieß es, er sei Deutschtürke gewesen, so genau wusste das keiner, denn der Gute hatte sich nach der Zeugung seines Sohnes schnell in die Emirate abgesetzt. «Wo ist da das Problem?», fragte Schönbier, wenn ihn jemand mitleidig ansah, und er hatte wirklich keines damit. Im Gegenteil. Bedingt durch die Gene seines Vaters, sah er immer so braungebrannt aus, dass er sich das Sonnenstudio und den Hautkrebs sparen konnte.

«Dann mal her mit den Schlüsseln», sagte Schönbier und streckte die Hand aus, um sie sich von Mannhardt geben zu lassen.

Der hielt sie aber fest umschlossen. «Moment mal! Ist denn schon klar, wer fahren soll?» Am Steuer saß im Regelfall das Alphamännchen, und diese Rolle wollte er Schönbier nicht so ohne weiteres überlassen.

«Wer fahren soll?», wiederholte Schönbier. «Ich natürlich, ich bin schon viele Rallyes gefahren.»

«Das hier ist aber keine Rallye, sondern eine Dienstfahrt», sagte Mannhardt. «Und wenn sich einer in Berlin auskennt, dann bin ich es.»

Schönbier freute sich über dieses Eigentor. «Na prima, der Kartenleser hockt immer auf dem Beifahrersitz.»

«Ich bin auch noch da», sagte Yaiza Teetzmann. «Vielleicht will ich ja fahren.»

«Bitte.» Seit Jutta Kleinschmidt bei der Rallye Paris— Dakar Furore gemacht hatte, akzeptierte Schönbier Frauen als Autofahrerinnen.

«Nein danke, aber …» Damit hatte sie klargemacht, dass sie ihr Veto gegen Schönbier am Steuer einlegen würde.

Schönbier nickte. «Dann du! Du bist der Älteste.» Mannhardt ärgerte sich nun doppelt und dreifach.

Zum einen über das Du, das er noch immer nicht verdaut hatte, zum Zweiten über seine Zuweisung zum alten Eisen und zum Dritten darüber, dass er sich über das Du wie auch über den Hinweis auf sein Alter ärgerte.

«Wenn wir so weitermachen, kommen wir nie nach Schmöckwitz», stellte Yaiza Teetzmann fest.

«Dann fahren wir eben mit der Bahn», sagte Mannhardt.

«Das darf doch nicht wahr sein!», rief Schönbier.

«Doch. Die Leiche kann warten, und wir tun was gegen die Umweltverschmutzung.» Mannhardt freute sich über seine Idee, mit der er die Kuh vom Eis bekommen hatte. «Stimmen wir ab: Wer für die Bahn ist, der hebe die Hand.»

Er und Yaiza Teetzmann taten es, Schönbier nicht. Damit war die Sache entschieden, und nachdem sie im Internet die optimale Verbindung herausgesucht hatten, liefen sie zum Wittenbergplatz.

«Mit dem Bus zum Bahnhof Schöneberg, dann mit der S-Bahn nach Grünau und von da mit der Straßenbahn nach Schmöckwitz.»

Nichts ist verjährt

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