Читать книгу Nichts ist verjährt - Horst Bosetzky, Uwe Schimunek - Страница 8
VIER
2007
ОглавлениеHANS-JÜRGEN MANNHARDT hatte zwar das Abitur gemacht, dann aber nicht studiert, sondern es vorgezogen, die Kommissarslaufbahn einzuschlagen und Beamter des gehobenen Dienstes zu werden. Lilo, seine Ex-Ehefrau, hatte ihm das immer wieder vorgehalten: «Was hätte aus dir nicht alles werden können, wenn du Volljurist geworden wärst!» In der Tat, dann würde er jetzt als Polizeidirektor in den Ruhestand gehen und nicht als Erster Kriminalhauptkommissar.
«Aber ob du damit glücklicher sein würdest?», wurde er immer wieder gefragt.
«Ja, sicher.»
Je höher jemand in einer Hierarchie nach oben stieg, desto näher war er dem Himmel.
Zu wissen, dass er aus seinem Leben nicht das gemacht hatte, was möglich gewesen wäre, schmerzte umso mehr, je älter er wurde. Am besten verstanden alte Skatspieler, was er meinte: «Da hast du das Blatt für einen Grand in der Hand und spielst aus lauter Angst nur Karo.» Das brachte achtzehn Punkte ein, ein gewonnener Grand aber sechzig.
Was seine Allgemeinbildung anging, da konnte er es mit Leuten aufnehmen, die ein Prof. Dr. vor dem Namen stehen hatten, und beim Trivial Pursuit galt er als unschlagbar. Das lag daran, dass man sich als Kriminalkommissar pausenlos in andere Lebens- und Wissensbereiche hineinfinden musste, wenn man Erfolg haben wollte. Diesmal war es die Literatur der DDR. Als West-Berliner hatte er von Anna Seghers Das siebte Kreuz gelesen, von Hermann Kant Die Aula, ebenso ein, zwei Werke von Stefan Heym, und auch die Namen Christa Wolf, Christoph Hein und Jurek Becker kannte er, aber damit hörte es auch schon auf. Wer um Himmels willen war nur Bernhard Oybin?
Bevor sie sich näher mit ihm befassten, gab er den Namen bei Google ein und erfuhr immerhin einiges.
Bernhard Oybin war 1929 in Rathenow als Sohn eines Anstreichers geboren worden und in ärmlichen Verhältnissen aufgewachsen. Sein Vater hatte der KPD angehört und mehrere Jahre im KZ gesessen. Das bewog den jungen Bernhard Oybin dazu, in die SED einzutreten. Nachdem man ihm ermöglicht hatte, das Abitur an der ABF, der Arbeiter- und Bauernfakultät, in Greifswald nachzuholen, studierte er Germanistik an der Humboldt-Universität zu Berlin und promovierte mit einer Arbeit zum Thema Der Erste Weltkrieg im Spiegel deutscher Romane. Schon während seiner Studienzeit hatte er zu schreiben begonnen und mit seinem ersten Roman Der Fährmann von Ketzin einiges an Aufsehen erregt. Sein größter Erfolg aber sei Der Dispatcher gewesen, der von der DEFA auch verfilmt wurde. Neben seiner schriftstellerischen Tätigkeit hatte Oybin als Redakteur bei verschiedenen Zeitschriften gearbeitet, gefürchtete Kritiken geschrieben und der Volkskammer der DDR angehört. Die Liste seiner Preise war lang. Bei der Ausbürgerung Wolf Biermanns und dem Ausschluss von Jurek Becker, Erich Loest und Stefan Heym aus dem Schriftstellerverband der DDR hatte er auf der Seite der Herrschenden gestanden. Laut Unterlagen der Gauck-Behörde hatte er als IM, also Inoffizieller Mitarbeiter des Ministeriums für Staatssicherheit der DDR, Berliner Schriftsteller ausgeforscht.
Nachfragen bei den verschiedenen Berliner Behörden ergaben, dass Oybin in einem Altenheim in Friedrichshagen untergebracht war. Sein Sohn lebte auf Kuba, seine Ex-Ehefrau, die Schauspielerin Katja Koschlick, in Karolinenhof. Mannhardt hielt es für besser, erst mit ihr zu sprechen, denn je mehr Informationen er im Vorfeld bekam, desto größere Chancen hatte er, Oybins Aussagen kritisch zu durchleuchten und ihn gegebenenfalls zu Fehlern zu verleiten. Der Sohn wäre auch nicht schlecht gewesen, aber … Mannhardt rief seinen Vorgesetzten an und fragte, ob der ihm eine kleine Dienstreise nach Havanna genehmigen würde.
«Nicht mal eine Havanna!»
«Aber einen Dienstfahrschein nach Karolinenhof bekommen wir doch bewilligt?»
«Dafür sperrt der Finanzsenator mich ein. Lasst die Dame doch zu euch kommen, das spart uns Kosten.» Mannhardt murrte. «Ich bin ein altmodischer Mensch, ich sehe mir gerne das Ambiente an, in dem die Leute leben.»
«Na schön, fahrt hin, seht aber zu, dass ihr einen Billigflug bekommt.»
«Einen Billigflug nach Kuba?», fragte Mannhardt, denn Hartnäckigkeit war ja eine große Tugend seines Berufsstandes.
«Einen Stehplatz in der Straßenbahn nach Karolinenhof. Bei unserem ausgeknautschten Etat sind keine Platzkarten mehr drin.»
«Soll ich allein zu der Koschlick fahren oder Rico mitnehmen?», fragte Mannhardt.
«Nimm ihn mit, er soll sich schließlich einarbeiten. Und euch beide wird ja die Diva nicht vernaschen, bei einem alleine aber hätte ich da größte Bedenken, nach allem, was man so hört. Sie soll ja noch immer ein ziemlicher Vulkan sein.»
Und das war sie tatsächlich, denn kaum war sie auf das Klingeln der Beamten hin nach vorn an den Gartenzaun gekommen und hatte gehört, dass die Herren von der Kripo kamen und etwas über Bernhard Oybin in Erfahrung bringen wollten, da schrie sie auch schon los.
«Darauf habe ich dreißig Jahre lang gewartet, dass endlich einer kommt und dieses Schwein hinter Schloss und Riegel bringt!»
Mannhardt fühlte sich bei solchen Entgleisungen immer peinlich berührt und im Umgang mit Furien wie dieser schlichtweg überfordert, Schönbier aber registrierte den Ausbruch cool und ziemlich amüsiert und holte sein Handy hervor.
«Soll ich noch schnell beim rbb anrufen, damit die ein Kamerateam herschicken?»
Sie sah ihn böse an und konterte mit einem Filmzitat. « Junge, so, wie du aussiehst, brauchst du keinen Strafzettel mehr. Du bist gestraft genug. Polizist in Mit Vollgas nach San Fernando, USA 1980, Regie: Buddy Van Horn. Ich kenne Tausende von Filmen.»
«Haben Sie eigentlich im Dispatcher selber mitgespielt?», fragte Mannhardt.
Katja Koschlick riss die Augen auf. «Sie sind ja bestens informiert!»
«Wenn es um Mord geht, kann man nie genug wissen.»
«Nichts ist verjährt!», rief Katja Koschlick. «Und ein Mord schon gar nicht. Kommen Sie rein, meine Herren, setzen wir uns auf die Terrasse. In diesem April ist es ja wärmer als manchmal im August. Da können wir stundenlang über dieses Arschloch reden.»
«Ich bitte Sie, gnädige Frau», sagte Mannhardt, um sie ein wenig zu bremsen.
Katja Koschlick sah ihn scharf an. « Ich möchte nicht gerne unterbrochen werden, wenn ich jemanden anpöbel. Charles Laughton als Richter Horfield in Der Fall Paradin, USA 1947, Regie: Alfred Hitchcock.»
«Hitchcock passt immer», merkte Schönbier an, während er die leeren Bier-, Wein- und Schnapsflaschen musterte, die neben der Mülltonne aufgereiht waren.
Katja Koschlick hatte seinen Blick verfolgt. «Der Rest ist Saufen, wenn man keine richtigen Rollen mehr kriegt. Mal ein bisschen Synchron, mal ein bisschen Werbung, wer soll das aushalten können. Aber wer nimmt heute noch eine Schauspielerin, die einen IQ von 160 und ein abgeschlossenes Hochschulstudium hat?»
Damit waren sie auf der Terrasse angekommen und setzten sich. Mannhardt sah sich um.
«So richtig schlecht zu gehen scheint es Ihnen aber auch nicht?» Das Haus an der Vetschauer Allee war zwar keine Villa, aber immerhin mehr als eine Hütte.
Katja Koschlick ließ das kehlige Lachen hören, das einst ihr Markenzeichen gewesen war. «Ja, ja, Oybin musste ganz schön bluten, nachdem er mich abserviert hatte.»
«Wann sind Sie denn geschieden worden?», fragte Schönbier.
«Noch vor der Wende, 1988. Es war mit seinen vielen Weibern nicht mehr auszuhalten. Es gab immer wieder mal ’ne Abtreibung, und eine hat sogar ein Kind von ihm bekommen. Einmal hat er wegen seines unsittlichen Lebenswandels auch ’nen mächtigen Rüffel von der Partei bekommen.»
Mannhardt kam vorsichtig zum Grund ihres Besuches. «Sie wissen ja, was nebenan in Schmöckwitz passiert ist?»
Sie fuhr ihn an. «Nein, junger Mann, aber wissen Sie es denn?»
«Na sicher, wegen der skelettierten Leiche auf dem Grundstück Ihres Mannes sind wir doch hier.»
«Witzbold, das weiß ich natürlich auch. Aber wie soll ich denn wissen, was damals in Schmöckwitz passiert ist? Ich war ja nicht dabei, als er eine von seinen Miezen umgebracht hat.»
«Aber zu der Zeit waren Sie doch noch verheiratet mit ihm?», wollte sich Schönbier vergewissern.
«Zu welcher Zeit?», fragte Katja Koschlick zurück.
«Der Mord ist irgendwann zwischen 1972 und 1982 geschehen.»
«Verheiratet waren wir noch, ja, aber ich war selten in Schmöckwitz draußen. Mal war ich zu Dreharbeiten unterwegs, mal an der Ostsee, mal am Balaton.» Sie fixierte Mannhardt und Schönbier. «Sind Sie etwa hier, weil Sie mich in Verdacht haben?»
Mannhardt fürchtete ihren Gefühlsausbruch, wenn er die Frage bejahte, und schwieg deshalb nur beredt.
Schönbier hingegen hielt sich nicht zurück und nahm lediglich seine Sonnenbrille ab, um nicht am Auge verletzt zu werden, wenn sie mit dem Aschenbecher nach ihm werfen sollte.
«Es ist unsere Pflicht, jeder Spur nachzugehen, und die Rache einer betrogenen Ehefrau ist ein Motiv, dem wir öfter mal begegnen.»
Katja Koschlick sprang auf. «Das Schwein hat Sie also auf mich gehetzt.»
«Wir waren ja noch gar nicht bei ihm», sagte Schönbier.
«Dann war es sein Freund, dieser Schwachkopf Mutsch.»
«Welcher Mutsch?», fragte Mannhardt.
«Na, Martin Mutsch, der Krimischreiber, den er immer gefördert hat.»
Mannhardt horchte auf. «Ein Krimischreiber?»
«Ja, der war mal Kriminalkommissar bei irgendeiner MuK, einer Morduntersuchungskommission, hier im Umland und hat sich zu Höherem berufen gefühlt. So schwul, wie er sei, sagt er, habe er es bei der Polizei nicht mehr ausgehalten. Sich immer verstellen. Ich mag ihn, aber …»
«Was aber?», fragte Mannhardt. «Sie denken da an ein Tauschgeschäft? Ihr Mann hilft Mutsch, damit der als Schriftsteller reüssiert, Mutsch revanchiert sich dann, als es darum geht, eine Leiche verschwinden zu lassen?»
Katja Koschlick nickte. «Sie sagen es, junger Mann. Die Menschen sind nicht nur menschlich. Verstehst du? In ihnen drin lebt auch ein Tier. Der Blinde Jon Voight in U-Turn – Kein Weg zurück, USA und Frankreich 1997, Regie: Oliver Stone.»
Martin Mutsch wohnte in der Schönhauser Allee, und da es dort eine Hochbahn gab, konnten Mannhardt und Schönbier auch in diesem Falle auf ein Dienstfahrzeug verzichten und einen weiteren Beitrag zur Entschuldung ihres bettelarmen Bundeslandes leisten.
Mannhardt fuhr nicht gern mit der Hochbahn, insbesondere wenn er in einem Wagen saß, der zur Baureihe Gisela gehörte und noch in der DDR gebaut worden war, in Hennigsdorf. Die Gisela -Züge waren zwar alle «ertüchtigt« worden, wie das in der Fachsprache hieß, aber dennoch … Als West-Berliner stand er allen Produkten aus der DDR mehr als skeptisch gegenüber. Was aus einem VEB, einem Volkseigenen Betrieb, kam, das konnte a priori nichts taugen, wo es denen doch an allem gefehlt hatte. War er mit alten Freunden zusammen, wurden über die DDR-Wirtschaft ständig Witze gerissen.
Honecker besucht Helmut Schmidt. «Erich, setz dich doch hin und nimm deinen Rucksack ab», fordert der Bundeskanzler ihn auf. Honecker: «Das geht nicht, da ist mein Herzschrittmacher drin.» – «So ein großes Ding? Meiner ist doch nur so groß wie eine Streichholzschachtel.» – «So groß war meiner früher auch, aber seit wir alles auf Braunkohle umgestellt haben …»
Yaiza Teetzmann konterte immer damit, dass sie ihm mit einem Spruch aus der BRD kam. «Wie war das noch mit der AEG, wofür stehen die drei Buchstaben? Doch für: Auspacken, einschalten, geht nicht.»
Schönbier langweilte das alles. Wurde er gefragt, ob er aus dem Osten oder aus dem Westen käme, antwortete er immer: «Aus dem Süden, aus Lichtenrade.»
Martin Mutsch lebte in bescheidenen Verhältnissen. Die kleine Wohnung im dritten Stock eines Hinterhauses war vollgestellt mit Büchern, so etwa allen Bänden der legendären DIE -Reihe – Delikte, Indizien, Ermittlungen –, die eigenen Werke dadurch hervorgehoben, dass sie dem Betrachter nicht nur den schmalen Rücken, sondern das ganze Cover zeigten. Glückwunschkarten mit einer großen Siebzig drauf lagen auf dem Schreibtisch herum, so dass man daraus schließen konnte, dass er vor kurzem seinen Geburtstag gefeiert hatte.
«Dann nachträglich noch …», sagte Mannhardt, nachdem sie sich begrüßt hatten. «Bei uns in den Zeitungen war gar nichts davon zu lesen, dass Sie …»
«Bei uns auch nicht», fügte Martin Mutsch hinzu.
«Wenn Sie damit das Neue Deutschland meinen. Aber zum einen bin ich nach dem Ende der DDR zu einem – wie sagt man bei Ihnen? – No-Name-Autor geworden, und zum anderen hat die Kriminalliteratur in der DDR immer einen sehr niedrigen Stellenwert gehabt, obwohl es in der Blaulicht -Reihe sogar ein Heft von Erich Loest gegeben hat.»
Während sie Martin Mutsch in sein Wohnzimmer folgten und Platz nahmen, fiel Mannhardt noch etwas zur Blaulicht -Reihe ein. «Ist die nicht anfangs vom Ministerium des Innern herausgegeben worden?»
Martin Mutsch war erstaunt, dass ein West-Berliner so etwas wusste. «In der Tat. Die Arbeit der Volkspolizei sollte ebenso wohlwollend wie realistisch dargestellt werden. Unsere Hochliteraten haben immer gelästert, die Blaulicht- Hefte seien nötig, weil es in der DDR keine BILD -Zeitung gab. Aber als ich einmal Ärger mit der SED hatte, hat Bernhard Oybin zu mir gesagt, ich solle doch Krimis schreiben, weil ich da ein wenig frecher sein dürfe.»
«Was Sie dann ja auch getan haben.» Mannhardt wies auf die Bände der DIE -Reihe, auf denen der Name Martin Mutsch zu lesen war.
«Ja, sicher. Schließlich gab es 1500 Mark für das kleine und 2500 Mark für das doppelte Heft, was bei den niedrigen Preisen bei uns eine Menge Geld war. Und bei einer Auflage von vielleicht 175 000 Exemplaren war man schnell im ganzen Land bekannt. Das hat mir damals sehr geholfen, meine Arbeit bei der Volkspolizei aufzugeben. Aber das Schreiben ist eben eine Sucht.»
«Und Oybin hat Ihnen dabei kräftig geholfen?», fragte Schönbier, der das Referat über den Krimi in der DDR nur langweilig fand.
«Bernhard, ja … Er ist eine Seele von Mensch und hatte eine Unmenge an Freunden aus aller Welt. Immer und überall hat er geholfen.»
Klar, dachte Mannhardt, je mehr Leute Oybin kannte, desto mehr konnte er seinem Führungsoffizier erzählen und der Stasi eine Freude machen.
«Sie wissen, warum wir hier sind?», fragte Schönbier.
«Noch kann ich Zeitung lesen», antwortete Martin Mutsch. «Noch sind meine Augen gut genug.»
«Und?»
Martin Mutsch lachte. «Von Kollege zu Kollege: Ich an Ihrer Stelle würde aufgeben, bevor ich angefangen habe, denn ich will nicht sagen, dass die halbe DDR als Täter in Frage kommt, aber in der fraglichen Zeit werden Hunderte von Freunden und Freundinnen im Haus am Imkerweg gewesen sein – und zwar in Bernhards Abwesenheit.»
«Wie das?», fragte Schönbier.
«Im Sommer war er fast immer in seinem Ferienhaus in Baabe, auf Rügen also, und hat das Haus in Schmöckwitz gern anderen zur Verfügung gestellt, wenn die in Berlin waren. Und Katja war nie da, die hat den Imkerweg gehasst. Sein Motorboot hat hinten am Zeuthener See gelegen, auch das hat viele angelockt. Der eine hat den Schlüssel an den anderen weitergegeben, und es hat x Schlüssel gegeben. Viele von seinen verheirateten Freunden haben Schmöckwitz auch als Liebesnest benutzt, um es da mit ihren Freundinnen zu treiben. Ich habe auch einmal einen Freund mitgenommen … Sie wissen ja, dass wir Schwulen es in der DDR nicht leicht hatten. Aber es geht ja hier um eine tote Frau. Nun, ich will das einmal so formulieren: Dass Sie da bei Oybin am Imkerweg nur eine skelettierte Leiche gefunden haben, ist eigentlich erstaunlich.»
Mannhardt fand es überhaupt erstaunlich, dass man nicht eher auf den Mord am Imkerweg gekommen war.
«Bei der lückenlosen Kontrolle, die das Ministerium für Staatssicherheit über alles hatte, und bei der ausgezeichneten Kriminalpolizei bei Ihnen drüben …?»
«Nun, bei der Nomenklatura schaute man nicht immer so ganz genau hin, und Bernhard Oybin war ja zu seinen besten Zeiten so etwas wie ein Heiliger bei uns. Und offenbar ist die Frau, die da in Schmöckwitz gefunden wurde, von niemandem vermisst worden.»
«Im fraglichen Zeitraum hat es Hunderte von Vermisstenmeldungen gegeben», sagte Schönbier. «Im Westen wie im Osten, und ehe wir uns da durch alle durchgearbeitet haben …»
Mannhardt fixierte Martin Mutsch. «Dass Sie Ihrem Freund und Gönner aus der Bredouille helfen wollen, ist sicherlich verständlich und ja durchaus auch ehrenhaft, aber für uns ist er nun einmal ganz automatisch der Tatverdächtige Nummer eins.»
«Ich würde eher von einer Tatverdächtigen sprechen», sagte Martin Mutsch.
«Sie meinen seine Ex-Frau?», fragte Schönbier.
«Katja Koschlick, ja. Mit ihren Psychosen und Borderline-Störungen gehört sie eigentlich wieder in die Psychiatrie. Den ganzen Tag hockt sie nur zu Hause und sieht sich alte Filme an … und trinkt dabei. Ihr Hass auf Bernhard ist pathologisch, und ihn jetzt mit einer Mordanklage vor Gericht zu sehen wäre der Höhepunkt ihrer Rache. Dass er halb gelähmt im Rollstuhl sitzt, das reicht ihr nicht.»
Friedrichshagen am Müggelsee war an sich der ideale Ruhesitz für einen Literaten, denn hier hatten Wilhelm Bölsche und Bruno Wille gelebt und 1888/89 ihren Dichterkreis begründet, zu dem unter anderen auch Richard Dehmel, Knut Hamsun, Gerhart Hauptmann, Peter Hille, Erich Mühsam, Frank Wedekind und Else Lasker-Schüler gezählt wurden, doch Mannhardt hatte seine Zweifel, ob Bernhard Oybin mit dem Heim, in dem er lebte, sonderlich zufrieden war. Die Pflegekräfte waren mufflig und schienen demotiviert und überfordert zu sein, in den Fluren roch es nach Urin.
Die Heimleitung hatte Oybin von ihrem Kommen informiert, und so kam er ihnen auf dem Flur mit seinem Rollstuhl entgegen. Mannhardt hatte diesmal Yaiza Teetzmann mitgenommen, weil er hoffte, durch sie, der Ex-DDR-Bürgerin, einen besseren Zugang zu ihm, dem Ex-DDR-Heroen, zu bekommen.
«Wehe den Besiegten!», rief Oybin ihnen zu. «Erst nehmen sie mir die Ehre, die neuen Herren, dann berauben sie mich meines Eigentums, und jetzt schicken sie auch noch den Henker zu mir.»
Halt’s Maul, du altes Stasi-Schwein, dachte Mannhardt bei sich.
«Ich habe Ihre Bücher immer gern gelesen», sagte Yaiza Teetzmann. «Und insbesondere Der Dispatcher ist in meinen Augen ein Meisterwerk.»
Da leuchteten Oybins Augen. «Richtig: Was damals ein Meisterwerk war, kann heute kein Machwerk sein, und was damals Recht war, kann heute kein Unrecht sein.»
Mannhardt fletschte die Zähne. «Das kenne ich doch von Hans Filbinger.» Gab es furchtbare Juristen, so gab es auch furchtbare Schriftsteller.
Oybin hatte es nicht gehört, denn zu sehr war er damit beschäftigt, Yaiza Teetzmanns Figur in sich aufzunehmen.
«Kommen Sie, mein Zimmer ist gleich hier nebenan, lassen Sie uns miteinander plaudern.»
Mannhardt verstand, warum der Mann mit seinem Charme die Frauen reihenweise erobert hatte. Er war einer von denen, die auch mit neunzig noch konnten und immer sagten, ein Mann nähme seine Potenz mit ins Grab. Er ließ Yaiza Teetzmann freie Hand, denn wenn er sich einmischte, lief er nur Gefahr, dass Oybin ihm ein Disziplinarverfahren anhängte.
Oybins kleines Zimmer war eine Zumutung und mit der Würde des Menschen, wie sie im Grundgesetz fixiert war, nicht ganz zu vereinbaren, das musste sich auch Mannhardt eingestehen. Es war eine Aufbewahrungsbox für Abgeschobene, deren baldiges Ableben anzunehmen war. Irgendwie tat er Mannhardt sogar ein wenig leid.
«Ich weiß, wie kränkend es für Sie sein muss, Herr Oybin, aber …» Yaiza Teetzmann zögerte fortzufahren. «Fakt ist nun einmal, dass auf Ihrem Grundstück in Schmöckwitz eine Leiche gefunden worden ist und alles auf einen Mord hindeutet.»
«Und die West-Presse wartet nur darauf, mir den anhängen zu können», sagte Oybin. «Aber da kann ich ihr nur hinterherrufen: Nu pogodi! »
«Das heißt: Na warte!», übersetzte Yaiza Teetzmann für Mannhardt. «Und stammt aus einer legendären sowjetischen Zeichentrickserie bei uns. Da gab es einen freundlichen, wissbegierigen Hasen und einen bösen Wolf. Der verliert zwar alle Duelle mit dem Hasen, steht aber nach jeder Niederlage wieder auf und brüllt dem davonhüpfenden Hasen hinterher: Nu pogodi! »
Mannhardt wollte sich der Sinn dieser Bemerkung nicht ganz erschließen, sah er doch in Oybin nicht den lieben Hasen, sondern den bösen Wolf.
Oybin setzte zu einer längeren Rede an. «Nun, ich hasse abgestandene Redewendungen, aber manche bringen einen Tatbestand wirklich auf den Punkt, zum Beispiel: Jede gute Tat rächt sich einmal. Jahr für Jahr habe ich mindestens einem Dutzend von guten Freunden und Verwandten mein Domizil in Schmöckwitz zur Verfügung gestellt.»
«Da war doch sicherlich auch alles verwanzt!» Mannhardts spontaner Ausruf entsprang keiner moralischen Verurteilung, sondern der Hoffnung, dass sich in den Stasi-Unterlagen noch etwas finden ließ, das sie auf die Spur des Mörders brachte.
«Raus hier!», schrie Oybin.
Mannhardt reagierte so cool, wie er es bei Schönbier gesehen hatte. «Dem Sieger fällt es nicht schwer zu gehen. Frau Teetzmann kann ja sicher noch bleiben.»
Damit verließ er den Raum, um vor der Tür auf und ab zu gehen. Es dauerte. Nach einigen Minuten hörte er Yaiza Teetzmanns Lachen, fast war es ein Kreischen. Mannhardt stöhnte auf. Seine Kollegin als Groupie, es war nicht zu fassen. Endlich kam sie auf den Flur hinaus.
«Das war ja voller Einsatz, um ihm ein Geständnis abzuringen», sagte Mannhardt. «Hat er denn gestanden?»
«Und wie!», rief Yaiza Teetzmann.
«Könntest du bitte deine sexistischen Bemerkungen im Dienst unterlassen, ich wende mich sonst an den Männerbeauftragten.»
«Okay, entschuldige. Nein, Oybin hält das alles für eine Rufmordkampagne. Er wird sich in den nächsten Tagen hinsetzen und mir eine Liste mit allen Freunden und Bekannten geben, die in den fraglichen Jahren bei ihm in Schmöckwitz in seiner Abwesenheit zu Gast gewesen waren. Soweit er sich erinnern kann.»
«Und will», fügte Mannhardt hinzu.
«Wenn es ihn entlastet, wird er schon wollen.» Mannhardt hatte da so seine Bedenken. «Er wird doch keinen Freund der Klassenjustiz ausliefern wollen.»
«Warten wir’s ab.»
«Ich könnte mir schon vorstellen, dass er’s selber war», sagte Mannhardt.
«Dir geht’s ja nur um die klammheimliche Freude!», hielt Yaiza Teetzmann ihm vor.
«Zugegeben, aber als West-Berliner – und damit als Opfer der DDR-Diktatur – darf ich die wohl haben.»