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DREI
2007

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SIEGFRIED SCHWELLNUSS war vor zwanzig Jahren nach Friedenau gezogen, um hier in der Aue des Friedens, wie er seinen Stadtteil immer nannte, ein glückliches und erfülltes Leben zu führen. Mit Verena an seiner Seite, einer Grundschullehrerin. Doch die höheren Mächte hatten es anders gewollt, und die letzten Jahre waren die Hölle gewesen. Nach der Scheidung hatte er die Wohnung behalten, froh darüber, nun Platz für all seine Bücher und sogar kleinere Seminare zu haben. Doch dann hatte er Ulrike kennengelernt, und die hasste jede Form von Stadt, auch wenn sie so gehoben daherkam wie Berlin-Friedenau und große Männer wie Erich Kästner, Günter Grass, Uwe Johnson, Günther Weisenborn und Karl Schmidt-Rottluff als Mieter gesehen hatte, nicht zu vergessen die Comedian Harmonists. Ulrike klagte immer nur, sie würde in der Schwalbacher Straße ersticken, und entweder er zöge zu ihr hinaus nach Finkenkrug, was hinter Spandau im Brandenburgischen gelegen war, oder es wäre aus mit ihnen. Vielleicht hätte er nicht nachgegeben, aber da war ihm nach endlosen Streitereien vor mehreren Gerichten doch noch das ererbte Grundstück in Schmöckwitz zugefallen, und sie hatten beschlossen, das Haus am Imkerweg zu sanieren und auszubauen und dort einen Neustart zu wagen.

Es war nun viel zu planen und zu bedenken, so dass er sich zur Durchsicht zweier Hausarbeiten zum Thema Abnabelung von der Familie in den Zeiten des Nesthockers geradezu zwingen musste. «Und zwar mit der Pistole an der Schläfe», wie er Ulrike gegenüber betont hatte, denn er hasste es, wenn ihm junge Leute in umständlicher Art und Weise, in diesem Falle auch noch ziemlich unbeholfen, das mitzuteilen versuchten, was er schon lange wusste.

… ob die Abnabelung nach der Geburt wirklich zur Traumatisierung eines Menschen führt, wissen wir nicht so genau, weil man ja ein Baby nicht danach befragen kann, was es fühlt. Vielleicht ist es ja auch froh darüber, nun ein eigenständiger Mensch zu sein. Noch immer an der Nabelschnur hängend, könnte ja ein Mann kaum zum Torschützenkönig der Bundesliga werden.

Schwellnuss musste nun doch ein wenig schmunzeln, obwohl das Geschriebene mit Wissenschaft nicht viel zu tun hatte. An den Rand schrieb er: Sehr originell, aber ich bin nicht Mephistopheles, siehe Faust (Zeile 2009). Dort stand: Ich bin des trocknen Tons nun satt …

Die zweite Hausarbeit war ernsthafter angelegt, aber auch hier konnte er mitunter nur laut aufstöhnen und den Kopf schütteln.

Das Bestreben nach Neubelebung der kindlichen Einheit mit der Mutter in meinem Fallbeispiel kann man auch als Sucht verstehen. Er sucht/die Sucht – mit der Gleichheit der Worte ist schon alles gesagt. Der Volksmund sieht das auch so: Eifersucht ist, wenn man mit Eifer sucht. Einer meiner Freunde, 23 Jahre alt, verhält sich, wenn er betrunken ist, immer wie ein Baby und möchte sogar gewindelt werden, was voll in die Argumentationskette von Kernberg und anderen Autoren passt, dass Menschen nämlich mit pathologischer Mutterbindung dazu neigen, auf die Stufe eines Säuglings zu regredieren, um dadurch wieder mit der Mutter zu verschmelzen.

Fast hätte Schwellnuss an den Rand geschrieben: Ich hole meine Mutter auch zu mir ins Haus, ohne dass ich mich windeln lasse!

Was sollte er den beiden für Noten geben? Dieses Ringen um Gerechtigkeit war noch stressiger als die bloße Lektüre. Einerseits war er gern der milde Vater, andererseits mussten auch gewisse Standards der Profession beachtet werden. Am liebsten hätte er gewürfelt, aber Würfel ohne die Zahlen drei bis sechs gab es nun einmal nicht.

Sein Telefon sonderte die seltsamen Klingeltöne ab, die Ulrike so schön fand. Froh über die Störung, nahm er das schnurlose Gerät aus der Empfangsstation und meldete sich mit einem anonymen «Ja, bitte …?»

«Hier Grauen.»

«Hier auch …»

«Wie?»

«Nein, Schwellnuss, aber ich habe nur an meine Hausarbeiten gedacht.»

«Ah, Sie sind gerade beim Putzen?», fragte Günther Grauen.

«Hausarbeiten, nicht Hausarbeit», erklärte ihm Schwellnuss. «Was gibt es denn Neues?»

«Eher was Altes …», druckste Grauen.

«Wie?» Nun war es an Schwellnuss, nicht folgen zu können.

«In Schmöckwitz ist etwas Schreckliches passiert.»

«Was!? Sind die beiden jungen Leute beim Buddeln auf eine Bombe gestoßen und …?»

«Eine Bombe schon, aber keine, wie Sie denken. Machen wir es kurz: An der Außenwand Ihres Hauses ist eine Leiche gefunden worden, das heißt ein Skelett, und es sieht ganz nach Mord aus.»

«Na, wunderbar!», rief Schwellnuss. «Das steigert ja den Wert der Immobilie ungemein, vor allem wenn die Tat auch noch im Haus geschehen ist.»

«Das weiß die Kripo noch nicht, man wird sich aber bald bei Ihnen melden.»

Schwellnuss variierte seine Ausrufe. «Wie schön!»

Günther Grauen wurde langsam ungehalten. «Was kann ich denn dafür?»

«Nichts, aber … Die weiteren Pläne für Schmöckwitz können wir ja dann besprechen, wenn Sie mich mal im Knast besuchen.»

Als er wieder aufgelegt hatte, stürzte Schwellnuss ins Bad, wo Ulrike in einem irgendwie indisch anmutenden Kräutersud lag und auf eine wohltuende Wirkung für Leib und Seele hoffte. Nichts liebte sie mehr als diese exotischen Düfte und die göttliche Stille ringsum.

«Ist das alles eine Scheiße!», schrie Schwellnuss.

«Bitte», bat Ulrike ganz sanft, «nimm dich bitte etwas zurück, Siegfried.»

«Na, ist doch wahr! Da kämpfe ich nun fünfzehn Jahre, um endlich an dieses Haus zu kommen, und nun stellt sich heraus, dass da drin jemand ermordet worden ist! Die Leiche liegt im Garten, die haben sie vorhin gefunden.»

«Ich fürchte, es liegt ein Fluch auf diesem Haus. Ob es wirklich gut ist, dort einzuziehen?»

Schwellnuss knallte die Badezimmertür hinter sich zu.

«Ich kann jeden verstehen, der ab und zu mal einen kleinen Mord begeht!»

Die Spezialisten hatten sich inzwischen die Leiche vom Imkerweg genauer angesehen und Mannhardt ihre ersten Erkenntnisse mitgeteilt. Er fasste die Nachricht mit eigenen Worten für Schönbier zusammen.

«Die erste Inaugenscheinnahme lässt die Annahme zu, dass wir es mit einer Frau zu tun haben. Das Skelett ist vergleichsweise grazil, die Muskelansatzpunkte sind geringer ausgeprägt als bei einem Mann, das Becken typisch. Alles muss aber noch mit den entsprechenden Tabellenwerten verglichen werden. Ein vorläufiges Messen der Röhrenknochen lässt auf eine Körpergröße von 1,65 bis 1,70 Meter schließen. Eine genau Altersschätzung der Person ist noch nicht möglich, aber der Schmelzabschliff der Zähne, die Randzackenbildungen an den Wirbelkörpern und die Verknöcherung des knorpeligen Kehlkopfgerüstes lassen eine erste Schätzung zu: um die zwanzig Jahre herum, vielleicht auch etwas älter. Zur Todesursache können noch keine Angaben gemacht werden. In Anbetracht der Bodenbeschaffenheit, des Pflanzenwuchses, der Verwitterung der Knochen und der Zerstörung der Kleidungsstücke kann eine erste Liegezeitschätzung vorgenommen werden: dreißig Jahre plus/minus fünf. DNA-Material konnte sichergestellt werden. Ebenso Reste der Bekleidung. Der skelettierte Schädel ist so gut erhalten, dass eine Gesichtsrekonstruktion über Computersuperpositionen gute Ergebnisse bringen müsste.»

«Das ist ja eine ganze Menge», sagte Schönbier.

«Dreißig Jahre plus/minus fünf», murmelte Mannhardt. «Dann läge der Tatzeitraum zwischen 1962 und 1972.»

«1972 und 1982», verbesserte ihn Schönbier. «2007 weniger dreißig ist 1977.»

«Ja, klar. Ohne Taschenrechner bin ich leider hilflos. 1977 …» Mannhardt überlegte. «Die DDR in ihrer Blüte und schon durch den antifaschistischen Schutzwall vom Westen getrennt. Wie soll es da in der entwickelten sozialistischen Gesellschaft einen Mord gegeben haben?»

Yaiza Teetzmann, gerade hereingekommen, hatte die Antwort: «Als ob der Sozialismus die Menschen besser machte.» Sie schloss die Tür hinter sich. «Das ist nicht von mir, sondern stammt von einem Leipziger Schriftsteller: Steffen Mohr. Der hat es in einem Heft unserer Blaulicht- Reihe geschrieben, die Zensur hat es übersehen – und meine Schwester hat es in einem Aufsatz zitiert. Mann, gab das ein Theater bei uns zu Hause in Marzahn!»

«Was würde denn über den Schmöckwitzer Leichenfund im Neuen Deutschland stehen, wenn die DDR bei der deutschen Wiedervereinigung gesiegt hätte und Egon Krenz Bundeskanzler wäre?», fragte sich Mannhardt. «Wahrscheinlich: Antifaschistische Widerstandskämpferin in den letzten Kriegstagen von der SS ermordet und an einer Hauswand verscharrt.»

Yaiza Teetzmann schüttelte den Kopf. «Das hätten unsere Leute wegen der über dreißig Jahre Unterschied nicht mitgemacht. Eher hätte man versucht, die Sache einem Westler in die Schuhe zu schieben, rüber konnten ja die meisten von euch.»

«Hoffentlich habe ich für die Jahre 1972 bis 1982 ein lückenloses Alibi», sagte Mannhardt.

«Warten wir ab, bis wir Genaueres wissen», sagte Schönbier. Wenn ihn etwas anödete, dann waren es Dialoge wie der zwischen den beiden Kollegen. Alles zu unpräzise. Was zählte, waren allein die Fakten. Fakten, Fakten, Fakten. Das hatte er aus der Werbung, nicht aus dem Focus.

«Wann können wir denn selber mal unter die Lupe nehmen, was bei der Toten alles so gefunden wurde?», fragte Mannhardt.

Yaiza Teetzmann zuckte mit den Schultern. «Morgen oder übermorgen. Aber fahrt doch zu diesem Schwellnuss, und fragt den.»

«Wer ist Schwellnuss?», fragte Mannhardt.

«Der Eigentümer des Grundstückes. Wenn der nicht den Auftrag gegeben hätte, das Haus zu sanieren, dann wäre die Sache nie ans Licht gekommen.»

«Wenn er den Auftrag dazu gegeben hat, kann er selber schwerlich der Täter sein», merkte Schönbier an.

Yaiza Teetzmann grinste. «Er kommt jedenfalls aus West-Berlin.»

Mannhardt und Schönbier fuhren mit der U9 nach Friedenau, da sie wussten, wie nervig es war, dort nach einem Parkplatz zu suchen. Vom Zoologischen Garten bis zum Friedrich-Wilhelm-Platz brauchten sie gerade einmal acht Minuten. Sie standen so dicht nebeneinander, dass es schwer war, nur zu schweigen. Mannhardt erinnerte sich an eine alte Weisheit seiner Mutter: «Durch Reden kommt eine Unterhaltung zustande.» Also redete er.

«Trifft ein Psychologe den anderen und sagt: ‹Dir geht es gut – und wie geht es mir?›»

Als sie ausgestiegen waren, brauchten sie eine Weile, um sich zu orientieren. Die Gegend um den Friedrich-Wilhelm-Platz war ein wenig unübersichtlich, und prompt erwischten sie den Ausgang auf der falschen Seite. Dort war keine Schwalbacher Straße.

«Fragen wir mal jemanden», sagte Schönbier. Mannhardt wehrte ab. «Das geht gegen meine Ehre als Kriminalbeamter. Steigen wir noch mal in die U-Bahn runter und sehen auf dem Stadtplan nach.»

«Nicht mit mir!», erklärte Schönbier.

Da keiner nachgeben wollte, blieb ihnen nur das Prinzip trial and error, und so zogen sie eine halbe Stunde lang immer weitere Kreise um den Friedrich-Wilhelm-Platz, bis sie die Schwalbacher Straße gefunden hatten.

Danach konnte Mannhardt nicht mehr ernsthaft bestreiten, dass Psychologen und Psychiater in dieser seiner Gesellschaft unerlässlich waren.

Als Professor Dr. Siegfried Schwellnuss ihnen die Haustür öffnete, drohte Mannhardts Impulskontrolle zu versagen, und er hätte um ein Haar laut losgelacht, denn der Mann sah so sehr nach einer Parodie seines Berufsstandes aus, dass man glauben konnte, in eine Comedy-Serie geraten zu sein. Ein bisschen Ähnlichkeit hatte er mit Albert Einstein, ein bisschen mit Sigmund Freud und ein bisschen mit dem letzten Neandertaler.

«Ah, die Herren von der sehr verehrten Kriminalpolizei!», rief er. «Treten Sie bitte ein, aber möglichst nicht meine Tür, wie es Ihre Kollegen vom Sondereinsatzkommando so an sich haben.»

«War das bei Ihnen schon einmal der Fall?», fragte Schönbier.

«Nein, aber man muss ja heutzutage mit allem rechnen.»

«Sie wissen, warum wir hier sind?», fragte Mannhardt, als sie ins Wohnzimmer traten.

«Wegen Schmöckwitz, mein Architekt hat mich schon angerufen, der Herr Grauen. Schrecklich alles!» Schwellnuss fiel in einen seiner Sessel. «Aber ich werde Ihnen da auch nicht weiterhelfen können.»

«Es ist doch aber Ihr Haus?», wollte sich Mannhardt vergewissern.

«Das schon, aber erst seit Beginn dieses Jahres. Das heißt, eigentlich haben wir es schon 1975 geerbt, also meine Mutter, weil es deren Schwester gehört hat, meiner Tante, aber wir waren ja West-Berliner und damit rechtlos. Wenn ich Ihnen das mal erklären darf …»

Diese Erklärung dauerte gut zwanzig Minuten, denn wegen einer angeblichen Tätigkeit der Tante für die CIA hatte die DDR Haus und Grundstück in Staatseigentum übergehen lassen. «… und der Einigungsvertrag hat solche Tatbestände außen vor gelassen, so dass wir seit 1990 pausenlos prozessiert haben. Ein Gerichtsverfahren nach dem anderen hat es gegeben, mein Anwalt ist dadurch ein reicher Mann geworden, und erst Anfang dieses Jahres ist es uns gelungen, den üblen Grundstücksbesetzer wieder zu vertreiben und in Besitz zu nehmen, was unserer Familie seit 1924 gehört hat.» Mannhardt rechnete. Die Tat war zwischen 1972 und 1982 begangen worden, also kam Schwellnuss doch noch als Täter in Frage. «Sie sind Jahrgang …?»

«1955», antwortete der Professor.

«Danke!» Mannhardt tat sich bei der Rechnung mit Jahreszahlen auch diesmal wieder schwer, und so dauerte es ein paar Sekunden, bis er herausgefunden hatte, dass Schwellnuss im Jahre 1974 alt genug gewesen war, um einen Mord zu begehen oder zumindest im Affekt zum Totschläger zu werden.

Schwellnuss nutzte die kleine Gesprächspause, um allen ein Glas Mineralwasser einzugießen.

«Prost!» Er trank so hastig, dass er rülpsen musste.

«Oh, Pardon! Mal ganz direkt gefragt: Sind Sie eigentlich hier, weil sie mich für den Täter halten?»

«Wie kommen Sie denn darauf?», fragte Mannhardt zurück.

«Wozu bin ich Psychologe, ich spüre das.»

Schönbier lachte. «Wenn Sie wollen, dass Sie dadurch ins Fernsehen kommen, dann gerne.»

Mannhardt begann, laut zu denken. «Seit 1974 gab es Passierscheine für West-Berliner … Und Sie haben Ihre Tante sicherlich öfter besucht?»

«Ja, natürlich!», rief Schwellnuss. «Um mich am Imkerweg mit meinen Geliebten aus der DDR zu treffen. Und eine von denen habe ich dann umgebracht und im Garten verbuddelt.»

«War das schon ein Geständnis?», fragte Schönbier.

Da fuhr Schwellnuss auf und verlor die Contenance. «Ich verbitte mir das! Da stecken doch die alten SED-Seilschaften dahinter, dieses Arschloch von Oybin. Das ist seine Rache, weil es mir schließlich doch noch gelungen ist, ihn von dem Land zu vertreiben, das er und sein Verbrecherstaat uns geraubt hatten!»

Mannhardt war geradezu entsetzt über diesen Wutausbruch des Intellektuellen. «Wer bitte ist Oybin?»

«Bernhard Oybin ist ein gänzlich unbedeutender, aber vom DDR-Regime hochgejubelter Schriftsteller, der dafür, dass er Honecker und Co. in den Arsch gekrochen ist, mit dem Grundstück am Imkerweg belohnt worden war. Er soll ein fürchterlicher Blaubart gewesen sein. Kein Wunder, dass da auch eine Leiche zurückgeblieben ist.»

Nichts ist verjährt

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