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Zwei

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Heinrich Zille lag auf dem Bett und starrte gegen die Decke. Bekleidet war er nur mit einem Nachthemd und langen weißen Unterhosen. Er war zu müde und zu zerschlagen, um aufzustehen und zu den Freunden im Nebenzimmer zu gehen, aber zu wach, um zu schlafen. Er hätte gern an seinen Sohn Hans geschrieben, der Lehrer war und in Vorpommern lebte, aber die Gicht in den Fingern machte es unmöglich, einen Kopierstift zu halten. Schon seit Ewigkeiten hatte Zille keine Nacht mehr durchschlafen können. Die Krämpfe in den Beinen ließen ihn immer wieder auffahren. Sie waren eine Folge seiner Zuckerkrankheit, ebenso wie der Harndrang, der ihn alle zwei Stunden zwang, zur Toilette zu eilen. Ließen ihn diese beiden Quälgeister einmal in Ruhe, dann plagten ihn Schreckensträume. Manchmal sehnte er den Tod herbei, die Erlösung von allem, dann wieder hing er am Leben, denn an ein Dasein nach dem Tode glaubte er nicht. Frömmigkeit war nie seine Sache gewesen. Er nahm sich vor, in den nächsten Tagen ein neues Bild zu zeichnen: Er liegt auf dem Sterbebett – der Sensenmann kommt, ihn zu holen. Darunter würde er schreiben: Kein Zweck, mein Herr, der Zille ist unsterblich. Ein wenig verbittert murmelte er, dass Humor offenbar nicht gegen Krankheit und Altern immun mache.

In Gedanken formulierte Zille, was er seinem Sohn schreiben wollte, wenn die Schmerzen in den Fingern nachließen:

Ich bin arm dran, und Sorgen verschiedenster Art drücken mich. Ich werde weiß wohin eingeladen, schreibe ab, werde besucht, lasse mich verleugnen, verkrieche mich, will arbeiten … aber immer schwerer wird’s. Jetzt, da ich alt bin, verstehe ich den Wert des Alters: Ich habe jetzt drei Ärzte. Vorläufig ist nichts Gesundes von mir zu erwarten. Es ist mir auch egal … Ich kann nicht mehr die Treppen laufen. Bin müde … müde … müde. Ich lass mich aber nirgends hinholen, leb in meiner Stube mit meinen vier Piepmätzen. Mir fällt schreiben schwer. Es gehen so viele von mir, die noch jünger sind, dass ich mich wundere, warum sie mich nicht mitnehmen.

Draußen an der Wohnungstür drückte jemand auf den Klingelknopf. Er zuckte zusammen. Hoffentlich nicht noch mehr Besuch! Es reichte doch schon, dass Max Liebermann und Hermann Frey nebenan saßen und warteten, bis es ihm besserging.

Frau Riethmüller kam herein, die Nachbarin, die ihm die Wirtschaft führte, seit seine Schwiegertochter erkrankt war.

»Draußen steht ein älteres Ehepaar, und die Frau behauptet, Sie gut zu kennen.«

Zille richtete sich ein wenig auf. »Wer isset denn?«

»Sie sagt, sie hätte unter dem Namen Senta Söneland mit Ihnen Bekanntschaft gemacht.«

»Richtig, ick hab se mal jemalt. Die hat auch vor da letzten Fülmprämjere wat Berlinischet jesungen. Imma rin mit die beeden!«

Senta Söneland, inzwischen 46 Jahre alt, stand in der Zimmertür. An ihrer Seite hatte sie einen erheblich älteren Mann, den ehemaligen Offizier und nunmehrigen Direktor der Horch-Werke Karlernst Krocker.

»Dürfen wir eintreten, Herr Professor?«

»Nenn mir nich Professor, nenn mir Heinrich.«

»Jut, mach ick.«

Zille erhob sich überraschend behende von seinem Lager und begrüßte die Schauspielerin mit einer herzlichen Umarmung, während es bei Direktor Krocker nicht mehr wurde als ein Händedruck.

Die Söneland holte ein dickes Paket aus ihrem Einkaufsnetz.

»Ham wir dir mitgebracht, statt Blumen. Ein Stück Hasenbraten. Hat mein Mann selba jeschossen – und ooch jebraten.«

»Danke, Herr Major!«, rief Zille.

»Die Zeiten sind vorbei …«

»Major war’n Se aba, als wa uns det erste Mal jesehn ham, in eem Weinlokal.« Zille konnte sich noch genau daran erinnern. Senta Söneland und er hatten in einer Jury des Acht-Uhr-Abendblattes gesessen, um die beste Bezeichnung für den neuen Verkehrsturm am Potsdamer Platz zu prämieren. »Die Mehrzahl war für ›Oberkieker‹, aber die andern ham mächtich jemeckert. Det jute Essen hat uns jetröstet – nur ick hatte Schwierigkeiten, mein Huhn mit Messa und Jabel zu zerleg’n.«

Krocker gab sich ein wenig von oben herab. »Unseren Hasenbraten dürfen Sie gern mit den Fingern essen – wenn Sie allein sind.«

»Bring det mal in die Küche!«, sagte Senta Sönland zu ihrem Mann.

Zille sah sie an. »Nee, Senta, du bist ja ’ne janz nette Person, dabei hab ick imma jehört, du bist ’n Biest. Wie kannste denn sowat mit Monokel und Smoking heiraten?«

»Zilleken, das mit dem Biest stimmt, aber der ›Sowat‹ ist ein hervorragender Kaufmann, und wir leben seit achtzehn Jahren in glücklicher Ehe. Wie geht’s dir so?«

»Ach, mir jeht et mies, seit meine Hulda tot is. Ick mach nich mehr lange, det Wassa steht ma schon bis an de Knie.«

»Ach was, Zilleken, du machst bis hundert. Jetzt wollen wir dich mal knipsen. Ick an deina jrünen Seite.« Sie wandte ihren Kopf Richtung Tür. »Karlernst, bringste mal den Photoapparat mit rin?«

»Photographieren wollta ma?« Er sah an sich hinunter. »Mit die Beene?«

»Die Hauptsache ist dein Kopp.«

Frau Riethmüller hatte das gehört und kam ins Zimmer, um das Photographieren zu verhindern. »Sie begehen ein Verbrechen an dem Mann.«

Zille machte eine Handbewegung, die sie beruhigen sollte.

»Lassen Se ma, Frau Riethmüller, ick sterbe schon nich, wenn et mal blitzt – und falls doch, denn jeschieht es in Sentas Armen und is ’n schöna Tod.«


Zille vor seiner Staffelei. Hinter der Staffelei Senta Söneland (Photographie)

Während Zille mit der Söneland und ihrem Mann angeregt plauderte und ein wenig aus seinem seelischen Tief gerissen wurde, saßen Max Liebermann und Hermann Frey im Nebenzimmer und waren schwer beschäftigt. Vor dem Fenster standen zwei Staffeleien, und Liebermann war dabei, auf beiden im Zille-Stil zu zeichnen. Auf dem ersten Bild war die Siegessäule zu sehen – nicht gekrönt von der Viktoria, sondern von Heinrich Zille.

»Det is nich schlecht, det könnte jehn, wenn wa drunta schreim: Det passende Jeschenk zu mei’m Jeburtstach – die Siebzigsäule

»Hm …« Liebermann war nicht begeistert von Freys Vorschlag. »Det andere Bild is mir politischer.«

Mit dicker schwarzer Kreide suchte er die Zeichnung zu vollenden. Sie zeigte einen Marktplatz mit fünf Ständen. Am ersten waren Priester und Bischöfe zu sehen, am zweiten der König und einige Herren vom Hochadel, am dritten hatten sich Fabrikherren, Kaufleute und Bankiers versammelt – unter ihnen Borsig, Siemens und Bleichenröder – und am vierten Bauern ihr Obst und Gemüse ausgebreitet.

»Und nun der fünfte Stand …« Liebermann überlegte einen Augenblick. »Wat hat unsa Heinrich im Büro der National-Film darum jerungen, det et eenen doppelten Titel jibt! Nich nur Die Verrufenen, sondan ooch noch Der fünfte Stand. Darum ooch dieset Bild. Aba wat soll ick am fünften Stand für Fijuren hinmalen?«

»Am besten welche aus sei’m Milljöh.«

»Det ick da nich von alleene drauf jekommen bin.« Max Liebermann begann, eine dralle Prostituierte und ihren Luden, eine Mutter mit einem tuberkulösen Kind und eine verhärmte Bettlerin zu zeichnen.

»Da muss aber Zille selba noch mit ruff!«, sagte Hermann Frey. Liebermann verstand das nicht. »Wieso’n dette?«

»Weil ick unta det Bild schreim will, wat a selba unta einen abjelehnten Entwurf zum Fülm-Plakat jeschriem hat: Das sind Wir ja alle! ›Wir‹ jroß.«

»Na schön.«

Als die Söneland und ihr Mann gegangen waren, hatte sich Zille wieder aufs Bett gelegt und Frau Riethmüller gebeten, den beiden Freunden im Nebenzimmer zu sagen, sie möchten sich noch ein Viertelstündchen gedulden. »Det is ma allet zu ville.«

Dann raffte er sich auf, und sie saßen zu dritt am Kaffeetisch und redeten über allerlei Neuigkeiten. Den Kaffee hatten sie schon ausgetrunken und waren inzwischen beim Rheinwein angekommen.

Zille füllte den Freunden die Gläser. »Endlich darf ick euch mal reinen Wein einschenken, ohne det ihr meckert.«

Max Liebermann hob sein Glas. »Uff deine Jesundheit, lieba Heinrich!«

Zille wehrte ab. »Lass det mit dem Heinrich. Immer wenn ick in’n Spiejel gucke, denn denk ich: Mein Gott, Joethe!«

»Wieso Goethe?« Hermann Frey kapierte das nicht.

»Na, Faust, erster Teil: Heinrich! Mir grauts vor dir.”

Max Liebermann schnauzte ihn an: »Janz Berlin himmelt dich an – keen Mensch graust sich vor dir. Jeh mal wieda unta de Leute!«

»Die Jelejenheit is jünstig.« Hermann Frey sah Zille an.

»Heinrich, wenn de jetzt untawegs bist, denn brauchste für die Straßenbahn, für’n Bus und de S- und U-Bahn nur noch eenen Fahrschein – mit dem kannste dann von eem Verkehrsmittel in det andere umsteijen.«

»Güldet der Fahrschein ooch für ’n Leichenwagen?«, wollte Zille wissen.

»Ja, aba nich raus bis nach Stahnsdorf uff’n neuen Friedhof, det is zu weit.«

»Dann übaleje ick mir det mit dem Sterben doch noch mal«, erklärte Zille. »Wat jibt et sonst Neuet?«

»Nüscht Jutet.« Max Liebermann berichtete von der schweren Gasexplosion im Mietshaus Landsberger Allee Nr. 115 / 116, bei der 17 Menschen verletzt und 90 obdachlos geworden waren.

»Und ’n paar Familien haben ihre janze Habe valor’n.«

»Bei Jas is mir nie janz wohl.« Zille schüttelte sich. »Eena will sich umbringen und dreht ’n Jashahn uff, der andere is zu tütelich und macht’n nicht zu, wenn a jekocht hat, der Dritte lässt de Kartoffeln übakochen, so det die Flamme ausjeht.«

»Zurück zum Lagerfeuer!«, forderte Max Liebermann. »Auf allen zentralen Plätzen in Berlin unterhält der Magistrat offne Feuer, und jeder kommt mit seim Fleisch hin, um et da am Spieß braten zu lassen.«

»Feuer frei!«, rief Zille.

»Nich Feuer frei, sondern Hermann Frey! Ich muss doch sehr bitten.«

Max Liebermann tat so, als sei er entsetzt. »Meine Herren, wo bleibt das Niveau?«

Hermann Frey begann darauf, freiheraus zu singen: »Die Menschen sind glücklich, die Menschen sind froh, / denn wieder einmal reden und lachen sie weit unter ihrem Niveau!«

Frau Riethmüller erschien in der Tür und fragte, ob sie noch eine Flasche Wein bringen solle.

Hermann Frey hob die rechte Hand und winkte ihr freudig zu. »Bringen Sie nur! Wir müssen uns gebührend auf den nahenden Geburtstag unseres Meisters einstimmen.«

Heinrich Zille verzog das Gesicht. »Hört bloß uff damit! Wenn ick am 9. Januar in’t Bett jehe, dann wünsche ick mir, det ick erst am 11. wieda uffwache. So könnt ick den Jeburtstach einfach übaspringen.«

»Mensch, Heinrich«, mahnte ihn Hermann Frey, »janz Berlin will dir jratulieren und dir ’n Ständchen und ’n paar Blumen bringen, jede Zeitung will ’n Photo von dir im Blatt haben.«

»Und ick will nüscht weita als meine Ruhe ham!«

Max Liebermann meldete sich zu Wort. »Ich erinnere an Fontane, der Melusine im Stechlin sagen lässt: Sich abschließen heißt sich einmauern, und sich einmauern ist Tod

Hermann Frey nickt. »Det is dit Stichwort: dein Bejräbnis, Heinrich. Wenn de dir vor Oojen führst, det janz Berlin da uff de Beene is, denn muss dich dit doch wieda uffrichten.«

»Na, wer weeß, wat noch allet kommt. Prost!«

Skandal um Zille

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