Читать книгу Skandal um Zille - Horst Bosetzky, Uwe Schimunek - Страница 8

Drei

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Johannes Banofsky war 1895 in Friedrichshagen bei Berlin als Sohn eines Lehrers zur Welt gekommen und Opfer einer frühkindlichen Prägung ganz besonderer Art geworden. Sein Vater hatte des Öfteren führende Mitglieder des Friedrichshagener Dichterkreises zu Gast gehabt, etwa Max Dauthendey, Richard Dehmel, Max Halbe, Knut Hamsun, Maximilian Harden, Gerhart Hauptmann, Peter Hille und Erich Mühsam. Letzterer hatte ihn ganz besonders beeindruckt, und so suchte Banofsky diesem in seiner äußeren Erscheinung zeitlebens zu gleichen.

Bei diesem Hintergrund nahm es nicht wunder, dass er schon als Zehnjähriger erklärt hatte, einmal Dichter werden zu wollen. Angesichts seiner mangelnden schulischen Leistungen, auch im Fach Deutsch, erschien dieser Wunsch seinen Eltern jedoch geradezu lächerlich, und so gaben sie ihn nach Abschluss der Volksschule 1909 zu einem Zimmermann in die Lehre. Dort glänzte Banofsky, schaffte die Gesellenprüfung ohne jede Mühe und zog dann, wie es Brauch war, durch halb Europa und erlebte manches Abenteuer. Wieder zurück in Berlin, brachte er seine Eindrücke zu Papier. Sein Roman Auf Schusters Rappen erschien 1920, wurde aber kein großer Erfolg, weil die Menschen nach Kriegsende anderes im Kopf hatten, als sich mit schöngeistiger Lektüre zu befassen.

Auch Johannes Banofsky war Soldat gewesen, hatte an vielen Fronten im Osten wie im Westen gekämpft, jedoch nur kleinere Verwundungen davongetragen. Nach dem Krieg hatte er sich bei einer Cousine in Rüdersdorf eingemietet und bei der May-Film GmbH Arbeit als Kulissenbauer gefunden.

In Joe Mays Filmstadt Woltersdorf, einem Vorläufer Hollywoods, wurden Abenteuerfilme wie Die Herrin der Welt (1919) und Das indische Grabmal (1921) gedreht. Banofsky ließ sich von der Begeisterung für den Film anstecken und versuchte alsbald sein Glück als Schauspieler. Nach ein paar Wochen Unterricht in einer erstklassigen Schauspielschule bekam er bei verschiedenen Produktionsfirmen kleinere Rollen, sogar der große Jules Greenbaum besetzte ihn einige Male. Zuletzt hatte man ihn in einer Nebenrolle in Zilles Die Verrufenen bewundern können.

Darüber hinaus hatte Banofsky einen Hang zur Malerei und einige Semester Kunstgeschichte an der Hochschule für Bildende Künste studiert.

Fragte man ihn, womit er seinen Lebensunterhalt verdiene, antwortete er stets: »Ich schlage mich so durch.« Derzeit hatte er keinerlei Einkünfte, konnte sich aber von den Zuwendungen seiner Eltern immerhin ein winziges Zimmer in der Köpenicker Straße leisten und musste nicht verhungern. Außerdem verdiente seine Freundin Cilly als Schneiderin auch ein bisschen was.

Als Banofsky Mitte Januar 1928 über das Filmgelände der U FA in Berlin-Tempelhof schlenderte, geschah dies nicht in der Erwartung, womöglich für einen plötzlich erkrankten Statisten einspringen zu können, sondern in der Hoffnung, Thea von Harbou zu treffen, die er in seiner Woltersdorfer Zeit aus der Ferne angehimmelt hatte. Sie hatte ihre Karriere zwar als Schauspielerin begonnen, war aber als Schriftstellerin bekannt geworden. Zu ihrer wahren Berufung sollten Drehbücher werden. Für Joe May hatte sie die erste Fassung von Das indische Grabmal geschrieben und für Erich Pommer das Drehbuch zu Dr. Mabuse, der Spieler. Regie hatte dort ein gewisser Fritz Lang geführt. Mit dem war sie inzwischen verheiratet, wenn es auch hieß, in ihrer Ehe krisele es anhaltend.

Banofsky wusste, dass Thea von Harbou in den Drehpausen gern an den Gleisen der Ringbahn spazieren ging, von wo aus man einen herrlichen Blick auf das Tempelhofer Flugfeld und die Türme der Berliner Innenstadt hatte. Er plante seinen Rundgang so, dass er ihr über den Weg laufen musste. Banofsky hatte ein Exemplar seines Romans bei sich, versehen mit einer anrührenden Widmung. Als Thea von Harbou ihm dann tatsächlich begegnete, stellte er sich vor und überreichte ihr mit einer kleinen Verbeugung das Buch.

»Oh …« Die Schauspielerin wurde zu oft von fremden Männern angesprochen, um wirklich überrascht zu sein.

»Ich bin gelernter Zimmermann«, erklärte Banofsky ihr, »und habe in Woltersdorf als Kulissenbauer gearbeitet, auch kleine Rollen habe ich schon gespielt. Eigentlich bin ich aber Schriftsteller. Sie sind mein Vorbild, denn ich trage mich mit dem Gedanken, auch einmal ein Drehbuch zu schreiben.«

»Machen Sie das! Sie müssen nur ein Thema finden, das die Produzenten vom Hocker reißt.« Thea von Harbou überlegte einen Augenblick, was sie Banofsky raten könnte. »Soll ich Ihnen nun Mut machen oder Ihnen sagen, dass das ein ziemliches Lotteriespiel ist – mit wenig Gewinnen und vielen Nieten? Ich empfehle Ihnen, sich auf einen Roman zu stützen, aus dem man einen guten Film machen kann, oder sich eine Berühmtheit zu suchen, deren Leben danach schreit, endlich verfilmt zu werden.«

Diesen Ratschlag hatte Banofsky befolgt und sich per Telephon mit Kurt Tucholsky verabredet. Sie kannten sich aus der Gruppe Revolutionärer Pazifisten, der Banofsky kurzzeitig angehört hatte. Als Treffpunkt hatten sie ein Café am Kleinen Tiergarten gewählt, das an der Straße Alt-Moabit lag. Tucholsky war ganz in der Nähe, Lübecker Straße Nr. 13, zur Welt gekommen und wollte noch einmal die Stätten seiner Kindheit sehen, bevor er womöglich für immer nach Schweden ging. Banofsky hatte in der Sickingenstraße etwas zu erledigen gehabt und ging nun die Rostocker Straße Richtung Süden entlang, um auf die Turmstraße zu stoßen und dann die Straße Alt-Moabit zu erreichen.

Kurz vor der Wittstocker Straße stutzte er. Der ältere Herr, der da stand, das war doch … Heinrich Zille! Er hielt einen großen Skizzenblock in der Hand und zeichnete das Eckhaus. Eine Meute von Kindern aller Altersklassen umringte ihn. In der zweiten und dritten Reihe hatten sich etliche Erwachsene eingefunden.

»Pinselheinrich is hier und malt dit Haus, in dem ick wohne!«, rief eine Zehnjährige.

Banofsky, von Natur aus neugierig, kam näher heran. »Was führt Sie denn hierher, Herr Professor?«

»Jetzt, da ich siebzig jewor’n bin, kehre ick noch mal an die Stätten zurück, wo ick wat alebt habe. Hier ham se mir beim Kohlenarbeitastreik fast jetötet. 1910 war det, da hab ich um een Haar ’n Blumentopp uff’n Kopp jekricht.«

Banofsky nickte und ging weiter. Als er sich noch einmal umdrehte, sah er, dass Zille bei den Erwachsenen eine Sammelbüchse herumgehen ließ. »Für die Armen, die ick untastütze!«

Banofsky kam das seltsam vor. Noch nie hatte er gehört, dass Zille selber sammelte. Johannes Banofsky war Schauspieler und Schriftsteller, weshalb er sich gut in andere Menschen hineinversetzen konnte – und in diesem Moment sagte ihm sein Instinkt, dass hier nicht der echte Pinselheinrich am Werk war. Der Mann trat offensichtlich als Zille auf, um sich seinen Lebensunterhalt zu verdienen.

Aber Banofsky war ein viel zu gutmütiger Mensch, um die Polizei zu rufen. Außerdem wartete Tucholsky auf ihn.

Der begrüßte ihn freundschaftlich und erzählte ihm sogleich von seinem Reisebericht Ein Pyrenäenbuch und dem geplanten Sammelband Mit 5 PS. Auch hatte er eine neue Frau kennengelernt, Lisa Matthias, und wollte sich von Mary trennen.

»Irgendwann gehe ich sowieso nach Schweden«, erklärte Tucholsky.

»Sie wollen Deutschland sich selbst überlassen?«, rief Banofsky.

»Richtig zu resignieren ist eine hohe Kunst. Ach … Die Bürokratie in Deutschland ermüdet mich. Es sitzen noch immer diejenigen an den Schalthebeln, die dem Kaiserreich nachtrauern und der Weimarer Republik den Garaus machen möchten. Für mich gibt es nur eine Lösung: Umwälzung, Generalreinigung, Aufräumung, Lüftung! Die deutsche Revolution steht noch aus. Was habe ich vor kurzem den Obdachlosen zugerufen? Wohltaten, Mensch, sind nichts als Dampf. / Hol dir dein Recht im Klassenkampf!”

Sie diskutierten eine Weile darüber, ob die K PD, der sich Tucholsky immer mehr annäherte, in Deutschland jemals an die Macht kommen konnte und ob Tucholsky, wenn er wirklich nach Schweden emigrierte, so etwas wie Fahnenflucht beging. Dann kamen sie auf Banofskys Probleme zu sprechen.

»Ich bin der Prototyp der freischwebenden Intelligenz, ich irrlichtere nur so umher, und vor kurzem ist mir der Gedanke gekommen, ein Drehbuch zu schreiben. Der Tonfilm scheint gerade den Stummfilm abzulösen, wie man an The Jazz Singer von Warner Brothers sehen kann. Thea von Harbou, die ich flüchtig kenne, hat mir den Rat gegeben, nach einem Roman zu suchen, der sich zu einem Drehbuch umschreiben lässt. Ich dachte mir, am besten befrage ich Sie dazu. Das Thema sollte etwas mit Berlin zu tun haben, weil ich mich nur hier richtig gut auskenne.«

Tucholsky überlegte. »Was haben wir an Berlin-Romanen … Zuerst fallen mir Lemkes sel. Witwe von Erdmann Graeser und Die Familie Buchholz von Julius Stinde ein.«

Banofsky winkte ab. »Das ist mir alles zu idyllisch.«

»Und wie wäre es mit Georg Hermanns Jettchen Gebert

»Vom Judentum verstehe ich zu wenig.«

»Man erzählt sich, dass Erich Kästner, Gabriele Tergit und Alfred Döblin an großen Berlin-Romanen sitzen, aber wer weiß, wann die fertig sind …« Tucholsky dachte weiter nach. »Muss die Vorlage für ihr Drehbuch unbedingt ein Roman sein? Warum denken Sie sich nicht selber etwas aus?«

»Mir fehlt die nötige Phantasie dazu«, musste sich Banofsky eingestehen »vielleicht auch nur die Geduld. Am liebsten wäre mir eine Biographie, die Geschichte einer großen Frau oder eines großen Mannes.«

»Ich scheide da aus!«, rief Tucholsky mit der nötigen Portion Selbstironie. »Aber nehmen Sie doch einen Freund von mir, dem ich gerade zu seinem siebzigsten Geburtstag geschrieben habe, er sei Berlins Bester: Heinrich Zille.«

Hinter ihm wurden die eisernen Tore zugeknallt. Es klang wie der Schuss aus einem Mörser. Unwillkürlich duckte sich Gustav Budenstieg. Aber warum sollten sie ihn erschießen? Diesmal hatten sie ihn wegen guter Führung sogar zwei Wochen früher entlassen. Budenstieg blieb noch einmal stehen. Sein Blick ging zurück. Der Backsteinklotz des Strafgefängnisses Tegel ragte in den grauen Winterhimmel. Er war ihm zur eigentlichen Heimat geworden. Im Haus III hatte er schon achtmal seine mehr oder minder lange Strafe abgesessen. Eigentlich hätte man für ihn an der Pforte eine Drehtür statt der eisernen Tore anbringen müssen. Eine Weile hatte er die Zelle mit Wilhelm Voigt geteilt, dem sogenannten Hauptmann von Köpenick. Der war am 16. August 1908 vorzeitig entlassen worden, Kaiser Wilhelm II. hatte ihn begnadigt. Des Öfteren träumte Budenstieg von einem solchen Coup wie der »Köpenickiade«, die ein großes Echo hervorgerufen hatte. Er dachte nach. Weswegen hatte er bisher eingesessen? Wegen Leistungserschleichung, Sachbeschädigung, Raub und Diebstahl, Landfriedensbruch sowie schwerer Körperverletzung. Nicht viele hatten eine solch lange Liste von Vorstrafen aufzuweisen. Seine Freunde wurden langsam neidisch. Aber etwas richtig Großes fehlte ihm noch. Nun, der Richter hatte ihm zuletzt Hoffnungen gemacht: »Wenn Sie sich weiter so entwickeln, Budenstieg, dann können wir Sie hier bald als Mörder oder wenigstens als Totschläger begrüßen.«

Budenstieg drehte sich noch einmal um. »Auf Wiedersehen!« Mit ein paar Schritten war er an der Seidelstraße angekommen. Aus Richtung Tegel näherte sich ein Straßenbahnzug. Er überlegte. Mit der Linie 25 kam er schnell in die Innenstadt. Aber die Fahrt war teuer! Ein paar Mark hatten sie ihm mit auf den Weg gegeben, aber die brauchte er nicht gleich der Verkehrsgesellschaft in den Rachen zu werfen. Was änderte das an deren Verlusten, wenn er für seine Fahrt keinen Pfennig bezahlte? Nichts! Er konnte also mit ruhigem Gewissen schwarzfahren. Die Bahn hielt. Budenstieg musterte die Schaffner. Wer sah dümmer aus, wer gutmütiger? Der im Trieb oder der im Beiwagen? Budenstieg entschied sich für den Anhänger. Da der Schaffner auf dessen vorderem Perron abklingelte, enterte er den hinteren. Der Wagen war ziemlich voll, und er konnte hoffen, bis zur Afrikanischen Straße nicht kontrolliert zu werden.

Es war ein merkwürdiges Gefühl, wieder einmal in einer Straßenbahn durch Berlin zu gondeln. An jeder Haltestelle stand es ihm frei, einfach auszusteigen – ohne einen Vormelder an die Anstaltsleitung zu schicken. Andererseits hatte er keinen festen Schlafplatz mehr, und niemand schob ihm morgens, mittags und abends einen Napf mit etwas Essbarem durch die Luke. Auch wenn die Mahlzeiten meistens nur als Fraß zu bezeichnen waren.

»Noch jemand ohne Fahrschein?«

Der Schaffner war in seinem Abteil angekommen. Budenstieg schwang sich hinunter aufs Trittbrett, um während der Fahrt abzuspringen. Das war riskant. Man konnte unter einen Lastwagen geraten. Aber die Straße war frei.

»Heh, Sie da!«, schrie der Schaffner. »Hierjeblieben, sonst …« Budenstieg hatte Glück. Am Ende der Scharnweberstraße hatte der Mann vorn an der Kurbel ein wenig Fahrt wegnehmen müssen. Er sprang. Es kam darauf an, beim Laufen in etwa so schnell zu sein wie die Straßenbahn. Budenstieg schaffte es und geriet nicht ins Straucheln. Und das, obwohl er anderthalb Jahre nicht richtig gerannt war und sich immer nur mit den Spaziergängen auf dem Gefängnishof hatte begnügen müssen. Budenstieg war stolz auf sich. Autos hupten hinter ihm. Er drehte sich um und drohte mit der Faust. »Willste was auf die Schnauze, du Arschloch?«

Endlich hatte er den Bürgersteig erreicht und sich in Sicherheit gebracht. Nach ein paar Metern blieb er stehen und blickte die Müllerstraße hinunter, die sich wie eine endlose Schneise dahinzog, bis sie in die Chausseestraße überging. Wo war das Ende? Budenstieg versuchte, sich den Stadtplan ins Gedächtnis zu rufen. Am Ende der Chausseestraße lag das Oranienburger Tor mit der Kreuzung von Elsasser, Oranienburger und Friedrichstraße. Das mochten sechs Kilometer sein – viel für einen untrainierten Menschen wie ihn. Aber so hatte er endlich wieder etwas Bewegung und kam unter Menschen. Er marschierte los.

Bis zur Kreuzung mit der Seestraße kam er gut voran, dann wurde er müde. Als er die Utrechter Straße erreicht hatte, fiel ihm ein, dass seine Eltern seit kurzem ein Stückchen weiter in der Malplaquetstraße wohnten. Was für ein idiotischer Name für den Wedding! Sein Vater arbeitete nebenan bei Osram. Hell wie der lichte Tag. Nach einiger Suche fand Budenstieg die richtige Hausnummer. Im Flur hing der Stille Portier. Budenstieg – Gartenhaus, 3 Treppen, rechts. Er machte sich auf den Weg. Das Treppensteigen fiel ihm schwer. Oben angekommen, verschnaufte er einen Augenblick. Sein Puls raste. Budenstieg zögerte. Dann hob er den Messinggriff der elektrischen Klingel an. Drinnen im Flur schellte es. Nichts rührte sich. Er wiederholte den Vorgang. Jetzt waren schlurfende Schritte zu hören.

»Wer is’n da?« Das war die Stimme seiner Mutter.

»Gustav.«

»Wer is Gustav?«

»Dein Sohn.«

»Ich habe keinen Sohn mehr.«

»Und ich keine Mutter!«

Damit sprang er die Treppen hinunter. Ich bin doch kein Aussätziger! Doch, das bist du! Er kam wieder auf die Müllerstraße und überlegte, ob er nicht doch ein paar Pfennige opfern und die Straßenbahn nehmen sollte. Nein, er musste hart bleiben! Budenstieg marschierte weiter. Genieße es doch, dass du wieder draußen bist! Die Welt ist so schön bunt! Besonders bunt war die Reklame, die überall angebracht war, vor allem die an den Litfaßsäulen. Budenstieg blieb stehen. Eines der Plakate war besonders hübsch: Hofball bei Zille. Zum 70. Geburtstag von Heinrich Zille im Sportpalast. 4. Februar 1928.

Zille! Budenstieg ballte die Fäuste. Diesen Armleuchter hatte er gefressen. Wenn der sich damals in Moabit beim Kohlenarbeiterstreik nicht so dusslig angestellt und sein Geld eher hergegeben hätte, wären ihm drei Jahre Knast erspart geblieben.

Bloß schnell weiter! Bis zur Oranienburger Straße musste er noch durchhalten. In den Kneipen dort traf er mit Sicherheit ein paar alte Kumpels, die ihm weiterhelfen würden. Was er brauchte, war ein Schlafplatz für ein paar Nächte und ein bisschen was zu essen. Dann musste er sich überlegen, wo er ein paar Mark herbekommen konnte.

Konrad Kowollek gingen die Worte des Chefredakteurs Reinhard Rummler nicht aus dem Kopf: »Das ist eine heiße Kiste, Kowollek, bleiben Sie an dieser Geschichte unbedingt dran! Wenn Sie Ihren Verdacht belegen können, kommen wir damit groß heraus. Überschrift: Skandal um Zille! Aber Indizien reichen mir nicht, Kowollek, ich brauche Beweise.«

Sein Freund Karl-Heinz, zumeist Heiner gerufen und Photograph beim Berliner Boulevard Blatt, konnte nur den Kopf schütteln, als er das hörte. »Da sagst du einen Grand mit Vieren an – und hast keinen einzigen Buben in der Hand.«

»Den beschaffe ich mir noch!«, rief Kowollek. »Die Sache ist kein Skatspiel. Aber selbst dabei findet man manchmal noch zwei Buben auf dem Tisch, wenn man sich scheinbar überreizt hat.«

»Wie kommst du eigentlich auf den Skandal um Zille?«, wollte Heiner wissen.

»Durch Intuition wie durch Konklusion.«

»Was Intuition ist, weiß ich, aber Konklusion habe ich noch nie gehört«, ließ der Freund verlauten.

Kowollek erklärte es ihm. »Das Wort ist vom lateinischen Substantiv conclusio abgeleitet und bedeutet Schlussfolgerung. Der Begriff stammt aus der Philosophie. Im Allgemeinen gilt etwas als konkludent, wenn es als Schlussfolgerung offenkundig wird, ohne daß es einer weiteren ausdrücklichen Erklärung bedarf.«

Heiner machte eine abwehrende Handbewegung. »Das ist zu hoch für mich! Aber wenn ich das richtig verstanden habe, dann ist Rummler mit deinen … deinen so zwingenden logischen Ausführungen nicht ganz zufrieden und will Beweise. Liebermann und Frey müssen also zugeben, dass sie für Zille Bilder gemalt und Texte geschrieben haben. Oder du musst ihre gefälschten Werke ausfindig machen. Du solltest auch Photos von Zilles Doppelgängern auftreiben.«

»So ist es«, musste sich Kowollek eingestehen. »Darum sollst du mich auch begleiten und meine Nachforschungen photographisch festhalten.«

»Wie bist du überhaupt auf die Idee gekommen, dass Zille andere für sich arbeiten lässt?«, hakte Heiner nach.

»Wie schon gesagt, durch Konklusion. Überall steht doch, dass der Mann nur noch ein Wrack ist und von zahlreichen Krankheiten heimgesucht wird. Kein Wunder, wenn man bedenkt, was der sich alles hinter die Binde gegossen hat … Es soll schon in Trunksucht übergegangen sein. Und seit seine Frau im Sommer 1919 gestorben ist, haust er allein in seiner Höhle am Bahnhof Westend, vier Treppen hoch, wobei seine kranken Beine kaum noch zulassen, dass er wieder nach oben kommt, wenn er es überhaupt mal nach unten geschafft hat. Steht überall in den Zeitungen. Wie soll er unter diesen Umständen bei den Zille-Bällen leibhaftig erscheinen, wo sie doch keinen Fahrstuhl im Haus haben?«

Der Freund war beeindruckt von diesen Argumenten. »Du hast recht, das klingt wirklich überzeugend.«

»Wenn ich diesen Skandal an die Öffentlichkeit bringe, Heiner, bin ich ein gemachter Mann. Dann habe ich endlich Geld in der Tasche und Aussicht auf eine feste Stelle als Reporter oder Redakteur. Dafür muss ich alles versuchen.«

Karl-Heinz nickte. »Womit du abermals recht hast. Und Zille ist doch dafür bekannt, dass er armen Teufeln wie dir gerne hilfreich unter die Arme greift.«

»Sei nicht so gemein!«

In den nächsten Tagen streifte Kowollek vom frühen Vormittag bis zum späten Nachmittag durch Berlin, immer in der Hoffnung, Zilles Doppelgänger zu treffen und zu entlarven. Das schien ihm die leichteste Methode zu sein, Rummler den nötigen Beweis für seinen Verdacht zu liefern.

Am 4. Februar schien er endlich Glück zu haben. Er ging die Friedrichstraße Richtung Norden entlang und hatte vor, am Oranienburger Tor in die Linienstraße einzubiegen und bis zum Rosenthaler Platz zu laufen – von den Berlinern gern Blasenthaler Rotz genannt, da in dieser Gegend viel von Zilles »Milljöh« zu finden war. Karl-Heinz lief einen Meter hinter ihm.

Auf der Weidendammer Brücke blieb Kowollek stehen und sah auf das trübe Wasser der Spree hinunter. Er hatte in den letzten Tagen alle Zeitschriften und Bücher durchgeblättert, in denen sich Zilles Zeichnungen finden ließen, und nun stand ihm diejenige vor Augen, die er für die beste hielt: Ins Wasser aus dem Band Kinder der Straße. Eine Mutter will mit ihrem Kind zusammen Selbstmord begehen, die Kleine fragt ängstlich: »Mutter, is’s ooch nich kalt?«, und die Mutter antwortet: »Sei ruhig, die Fische leben immer drin!«


Ins Wasser »Mutter, is’s ooch nich kalt?« – »Sei ruhig – die Fische leben immer drin.«

»Willste hier baden?«, fragte Karl-Heinz.

»Nein, gehen wir weiter!«

Nach ein paar hundert Metern kamen sie an einem der merkwürdigsten Gebäude Berlins vorbei, dem Großen Schauspielhaus, wie es jetzt genannt wurde. Kowollek hatte erst neulich etwas darüber geschrieben. Ursprünglich war es von 1865 bis 1867 als erste Berliner Markthalle nach Plänen des berühmten Oberbaurats Friedrich Hitzig gebaut worden. Niemand aber wollte in dieser Halle so recht kaufen, und sie ging bankrott. Im Deutsch-Französischen Krieg von 1870 / 71 nutzte die preußische Heeresleitung das Gebäude als Nachschubarsenal. Von 1873 bis 1897 fanden in dem Bau Zirkusvorführungen statt, unter anderem die von Ernst Renz und seinem Sohn. Es folgte – wenn auch abermals ohne positive Bilanz – eine Zeit als Revuetheater, bis es Albert Schumann erneut mit einem Zirkus versuchte. Nach Ende des Großen Krieges war dann Max Reinhardt auf den Plan getreten, hatte das Haus von Hans Poelzig zum Großen Schauspielhaus umgestalten lassen – zur »Tropfsteinhöhle«, wie die Berliner lästerten – und Aischylos auf die Bühne gebracht. Aber auch das war nicht lange gutgegangen, und nun präsentierten Erik Charell und andere hier ihre Revuen.

Kowollek überlegte, ob man aus der Geschichte des Gebäudes nicht ein Buch machen könnte. So war er ein wenig abwesend, als sie am Oranienburger Tor ankamen.

»Nanu, wat is denn hier los?«, hörte er den Photographen hinter sich rufen.

Sie sahen einen Menschenauflauf. Kowollek drängte sich durch die Menge. Als Reporter hatte er das Recht, alle zur Seite zu stoßen. Dann stand Heinrich Zille vor ihm. Oder war das einer der Doppelgänger, nach denen er so lange gesucht hatte? Der Mann hielt einen Skizzenblock in der Hand, auf dem Kowollek einen gezeichneten Lumpensammler erkannte. Jetzt hob er eine Sammelbüchse vom Boden auf und schüttelte sie lautstark.

»Spenden Sie für das Waisenhaus in der Ackerstraße!«

In diesem Augenblick sprang ein Kerl auf Zille zu und riss ihm die Sammelbüchse aus der Hand. Kowollek war nun weniger an diesem Räuber interessiert als an Heinrich Zille – oder wer immer es war. Der Mann mit dem Skizzenblock wirkte nicht zerbrechlich, sondern war ein kräftiger Siebzigjähriger. Kowollek wollte ihn packen und zur nächsten Polizeiwache schleppen, doch in dem allgemeinen Durcheinander, das entstanden war, stieß jemand Kowollek zu Boden, und dann trat ihm auch noch jemand so heftig in die Nieren, dass er kurzzeitig das Bewusstsein verlor.

Als er sich wieder aufgerappelt hatte, war der offensichtlich falsche Zille längst verschwunden. Dennoch – und trotz seiner Schmerzen – hätte Kowollek jubeln können. Er war auf der richtigen Spur!

Johannes Banofsky hatte zwar Heinrich Zille noch nicht persönlich sprechen können, war aber bereits dabei, alles über den »Pinselheinrich« zu sammeln, was sich in den Zeitungsarchiven auftreiben ließ. Über den ersten »Hofball bei Zille«, den es am 21. März 1925 im Großen Schauspielhaus gegeben hatte, war im Berliner Tageblatt in schönstem Berlinerisch zu lesen gewesen:

Awa det Scheenste am Abend, det war janz hinten, in eener Losche, da saß son janz stilla, janz bescheidena oller Mann in jrauen Haaren, mit’n jrauen Anzuch, der kiekte sich, janz in die Ecke jedrückt, den Zimt an. Det war der Meester Zille selba, janz valejen, det die son Radau um ihn machen (…) Jeschwooft wurde bisn Morjen, et warn massenhaft Leute zujejen, uff Zillen uffjemacht, ick erwähne nur Ejon Erwin Kisch, der det verrückte Buch von den rasenden Reporter jeschrieben hat. (…) Im jrauen Morgen dusselte man iwa die Bricke, lang die Friedrichstraße, allens, wat man da sah, war von Zillen entworfen, un vaniejt det eene Ooche in die Morjenröte, det andere schon im Bette, singt man det scheene Lied: »Der Kellner hat’s Delirijum, die Wirtin latscht ins Hemde rum, die Jäste, die sin knille.«

Nun wurde zum vierten »Hofball bei Zille« geblasen, diesmal im Sportpalast. Die Eintrittspreise lagen zwischen 12,50 und 50,00 Reichsmark, den Wohlfahrtszuschlag eingeschlossen. Das war eine Menge Geld für Banofsky und seine Freundin. Eigentlich hätten sie sich die Eintrittskarten gar nicht leisten können, aber Cilly hatte einen goldenen Ring, ein Erbstück, in die Pfandleihe getragen.

Banofsky stand in der Potsdamer Straße und wartete auf Cilly, die eigentlich Cäcilie hieß. Sie hatte ursprünglich Schneiderin gelernt, aber auch einige Jahre die Hochschule der Künste besucht und Kostümbild studiert, ohne in einem Theater oder einer Filmfirma eine feste Anstellung zu finden. Ihren Lebensunterhalt verdiente sie, indem sie gelegentlich für Damen der höheren Stände Kostüme und Ballkleider schneiderte.

Straßenbahn auf Straßenbahn kam angerauscht und hielt vor dem Sportpalast. Hunderte stiegen aus, nur Cilly war nicht dabei. Langsam wurde Banofsky unruhig. Hübsch, wie seine Freundin war, wurde sie immer wieder angesprochen, und es sollte Männer geben, die nicht nur was hermachten, sondern im Gegensatz zu ihm auch noch eine Menge Geld verdienten. Banofsky ging ein wenig auf und ab, um sich zu beruhigen. An einigen Wänden hingen noch die Plakate vom Boxkampf Max Schmeling (Berlin) gegen Michele Bonaglia (Italien). Er kannte Leute, die sich zwar über den Sieg Schmelings riesig gefreut hatten, aber dennoch anhaltend fluchten, weil man den Kampf auf fünfzehn Runden angesetzt hatte, der Italiener aber schon in der ersten Runde K. o. gegangen war.

Plötzlich prallte Banofsky mit einem Mann zusammen, der ungefähr in seinem Alter sein mochte. Erst wollten sie sich anschreien – »Passen Sie doch auf, Sie Trottel!« –, dann aber erkannten sie sich und lächelten. Banofsky stand Fred Hildenbrandt gegenüber, dem Feuilletonchef vom Berliner Tageblatt.

»Was denn?« Banofsky staunte. »Sie als kulturell hochstehender Mensch bei dieser Schlimmer-geht’s-nimmer-Veranstaltung?« Um Banofsky zu zeigen, wie weit über ihm er angesiedelt war, antwortete Hildenbrandt mit Zeilen aus dem Faust. »Greift nur hinein ins volle Menschenleben! / Ein jeder lebt’s, nicht vielen ist’s bekannt, / Und wo ihr’s packt, da ist’s interessant.« Banofsky lächelte. »Ja, ja, wir leben in goldenen Jahren …« Hildenbrandt holte aus zu einem kleinen Exkurs. »In der Tat, es sind große und goldene Jahre für Journalisten, Schriftsteller, Theaterdirektoren, Redakteure, Regisseure, Schauspieler und Schauspielerinnen, Tänzerinnen und Tänzer, Kabarettisten, Maler, Bildhauer, Zeichner, Musiker … Sehen Sie sich doch um, überall sind sie zu finden: in Zeitungen, Zeitschriften und Büchern, Theatern, Buchhandlungen und Antiquariaten, in ihren Varietés und Kabaretts, ihren Ateliers, ihren billigen und teuren Kneipen, Destillen, Restaurants und Cafés. Da sitzen sie zusammen – unter sich wie mit ihren Gästen, Lesern, Zuschauern und Zuhörern und quatschen, philosophieren, politisieren, genießen, schlucken, trinken, saufen, fressen … Das sind wir, wir auf unseren Inseln, aber außerhalb unserer Welt. Da tobt ein erbitterter und gnadenloser Kampf um Geld und Macht, da geht es um Existenz oder Untergang.«

»Wie bei Zilles fünftem Stand«, warf Banofsky ein.

»Genau …« Damit verabschiedete sich Hildenbrandt. Banofsky stellte sich in einen Hauseingang und notierte sich, was Hildenbrandt gesagt hatte, denn sein Zille-Film musste diese Berlin-Atmosphäre unbedingt einfangen. Auf einem anderen Zettel stand schon, was ihm Walther Kiaulehn vom Berliner Abendblatt gesagt hatte: Nie sei die Stadt größer, reicher, bunter, glänzender gewesen … Die Genusssucht und die neue Lebenskraft produzierten sich in prächtigen Restaurants und unzähligen Tanzsälen. Juden und Nicht-Juden belachten den nicht immer geschmackvollen jüdischen Witz, die Orchester unter ihren berühmten Dirigenten entzückten die feineren Ohren. Eine kostbare Theaterkunst, über die Max Reinhardt herrschte, breitete einen goldgesponnenen Zauberschleier über allem aus.

Banofsky steckte seine Notizen wieder ein. Die Frage war, welchen Stellenwert Heinrich Zille in dieser Welt hatte. Bevor Banofsky sie nicht wenigstens halbwegs beantwortet hatte, konnte er kein Drehbuch beginnen. Zilles Bilder hingen in vielen ernstzunehmenden Galerien, er war als Professor in die Akademie der Künste aufgenommen worden – und er hatte viel getan, um auf die elende Lage des fünften Standes aufmerksam zu machen. Andererseits hatte er viele Auftragsarbeiten angefertigt, die in ihrer Rührseligkeit seiner Absicht der Aufklärung auf fast schon ärgerliche Art und Weise zuwiderliefen. Und er hatte sich vor zu viele Karren spannen lassen. Angefangen von seinen Zirkusplakaten – Wohin gehen wir denn heute? In den Circus Busch, Bahnhof Börse – bis hin zu den Zille-Bällen. Wie hatte man in einem Lied gelästert? Selbst Frau Hofrat Trumm / läuft als Nutte rum. Unangebracht fand Banofsky auch die Werbung für die Zille-Zigaretten: Ich rauche nur meine eigene Marke: Heinrich Zille, 5 Pfennige. Das Volk liebte ihn, aber liebte er sich auch selbst? Und wenn sein Herz wirklich ganz weit links schlug, warum hatte er in der Politik nie eine Rolle zu spielen versucht? Käthe Kollwitz hatte in dieser Hinsicht schon mehr bewirkt, obwohl auch sie nie in die SPD oder die K PD eingetreten war. Es gab noch eine Menge herauszufinden.

Die nächste 76 kam herangerollt und hielt. Cilly? Da war sie! Banofsky eilte hin, sie in die Arme zu schließen.

»Ich musste noch ein Ballkleid zu Ende nähen.«

»Aber nicht für den Zille-Ball?«

»Nein, für den Presseball.«

Sie eilten in die Garderobe. Als sie dort ihre Mäntel abgelegt hatten und ein wenig später aus den Umkleideräumen herauskamen, präsentierte sich Banofsky als Budiker in Hemdsärmeln und blauer Schürze, Cilly trat als Harfenjule auf. Dabei hatte sie sich so hässlich gemacht, dass er zumindest an diesem Abend keine Angst vor aufdringlichen Kavalieren und Hahnenkämpfen haben musste. Sie nahmen ihre Plätze oben auf dem Rang ein und warteten gespannt auf den Beginn des Programms.

»Hier habe ich vor vier Jahren beim Sechstagerennen gesessen«, erinnerte sich Banofsky. »Damals haben Richard Huschke und Franz Krupkat ihren Weltrekord aufgestellt, insgesamt 4544,2 Kilometer sind sie gefahren. Eine Zahl, die ich nie vergessen werde.«

Cilly schüttelte den Kopf. »Womit ihr Männer euch so eure Gehirnzellen füllt!«

»Und womit füllt ihr sie?«, fragte Banofsky zurück.

»Wir träumen von Männern wie diesem …« Cilly deutete auf den Schauspieler, Kabarettisten und Komiker Harry Lambertz-Paulsen, der gerade an der Seite von Claire Waldoff die Halle betreten hatte und mit einigem Applaus begrüßt wurde.

»Der Weg der Tränen”, spottete Banofsky und zählte noch eine Reihe von Filmen auf, um Cilly zu beweisen, dass er Lambertz-Paulsen nicht unbedingt als nächsten Träger des Iffland-Ringes vorschlagen würde. »Harry lernt Radfahren, Harry wird Familienvater, Harry als Wachsfigur …«

Cilly sah ihn prüfend an. »Kann es sein, dass du ein wenig neidisch auf Lambertz-Paulsen bist?«

»Ein wenig nur?«

»Dann schreib doch für deinen Zille-Film eine Rolle, die nur du spielen kannst.«

Banofsky überlegte einen Augenblick. »Das könnte nur Heinrich Zille selber sein.«

»Mit dem hast du so viel Ähnlichkeit wie … wie …« So schnell wollte ihr kein passender Vergleich einfallen.

»… die Harfenjule mit Königin Luise«, half Banofsky ihr.

»Bei Männern fällt dir aber nichts ein!«

Banofsky überlegte. »So viel Ähnlichkeit wie … wie Siegfried mit Napoleon oder Bismarck mit Toulouse-Lautrec.«

»Wer is’n das?«

»Ein französischer Maler.«

»Womit wir wieder bei Zille wären.«

Wie auf Stichwort erschien ebender in diesem Augenblick im Sportpalast. Ein Begeisterungssturm brach los. Banofsky war beeindruckt. Claire Waldoff lief auf Zille zu und umarmte ihn.

Banofsky, der auch mit Bertolt Brecht befreundet war, kannte schon einige Songs aus dessen Dreigroschenoper, die bald Premiere haben sollte, und sang leise:

Denn die einen sind im Dunkeln und die andern sind im Licht und man siehet die im Lichte die im Dunkeln sieht man nicht.

Er wollte darüber nachdenken, wie sich Brechts Erkenntnis auf Heinrich Zille übertragen ließ: War der Maler ins Licht gekommen war, indem er die im Dunkeln gezeichnet hatte? Doch da setzte die Musik ein. Arthur Guttmanns Jazz-Symphonikern oblag die Eröffnung, weitere zehn Kapellen waren angerückt.

Banofsky und Cilly warteten noch ein Weilchen, dann wagten sie sich in den Innenraum. Die Stimmung stieg langsam, und eine der Kapellen heizte sie mit Berliner Liedern noch an. Sie spielte Durch Berlin fließt immer noch die Spree und Im Grunewald, im Grunewald is Holzauktion sowie den Rixdorfer. Cilly sang kräftig mit, obwohl sie den Text nicht richtig kannte:

Uff den Sonntag freu ick mir, ja, dann jeht et raus zu ihr, feste mit verjnüchtem Sinn, Pferdebus nach Rixdorf hin.

Banofsky konzentrierte sich derweil auf die Rutschbahn, die mitten in der Arena aufgebaut war. Die Mädchen zeigten hier juchzend, was sie gewöhnlich in der Öffentlichkeit schamhaft versteckten. Und auch sonst war man nicht prüde. Wer als Draufgänger auf den Treppen zwischen den Sitzreihen einem hübschen Mädchen begegnete, zögerte nicht, seine Hand klatschend dort landen zu lassen, wo der Rücken endete. Der Begleiter des Mädchens rächte sich sofort, indem er seinerseits die Partnerin des anderen beklatschte oder auch nur gutmütig drohend ausrief: »Det mach mal jefälligst bei deina Ollen, sonst fühlt se sich zurückjesetzt!« Damen aus den höheren Ständen, denen man ansah, dass sie einen solch handgreiflichen Spaß nicht verstanden, wurden verschont. Banofsky bekam unterdes eine Menge filmreifer Dialoge zu hören.

»Na, Kleene, suchste mir oder mich?« – »Nee, meinen Bruder suche ich!« – »Soll ich suchen helfen – oder biste schon vajeben?« Die Musik brach ab, Paukenschläge dröhnten durch die Arena, dann ein Tusch – und alles rief: »Hoch Zille! Hoch Vater Zille!« Der hatte in seiner Eckloge beim Signieren gesessen, erhob sich nun und winkte in die Menge. An der Bande, gegen die sonst die Eishockeyspieler krachten, hatten sich Hunderte aufgebaut, um sich Bücher und Zeichnungen von Zille signieren zu lassen oder ihm auch nur ein Programmheft, den Pappteller für ihre Bockwurst oder eine Papierserviette hinzuhalten.

»Da kannst du bis Mitternacht anstehen, bevor du dran bist«, musste Banofsky feststellen.

Cilly versuchte, es mit Humor zu nehmen. »Ruf doch ganz laut, dass du in Die Verrufenen mitgespielt hast, dann lassen dir die anderen bestimmt gern den Vortritt.«

»Die treten mir eher in den Hintern.«

»Dann tanzen wir und sehen nachher weiter.«

Es wurde fast Mitternacht, ehe sich Banofsky noch einmal vor Zilles Eckloge anstellte. Die Schlange vor ihm war nun überschaubar, seine Hoffnung wuchs. Doch als er in Hörweite war, hörte er Zille rufen: »Nu jeht’s nich mehr!« Daraufhin gaben einige auf, dafür aber drängten andere heran.

Banofsky stieß sie beiseite. »Herr Zille, ich will kein Autogramm, ich will nur ein Treffen mit Ihnen ausmachen!«

Zille hob abwehrend die Hände. »Nee, nu is endjültig Schluss! Wenn ick für jedet Autogramm ’ne Mark kriegen würde, hätte ick vielleicht mehr, als wie ick dafür kriege, dass se mit meim Namen krebsen gehen.«

Banofsky flehte ihn geradezu an: »Herr Professor Zille, ich will doch nur …«

»Lassen Se ma in Ruhe! Ick kann nich mehr, ick falle jleich tot um.«

Skandal um Zille

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