Читать книгу Otto mit dem Pfeil im Kopf - Horst Bosetzky, Uwe Schimunek - Страница 8
Zwei
ОглавлениеAuf der Halbinsel Cöpenick hatte es schon in der Bronzezeit eine Burg gegeben, und in der Mitte des 12. Jahrhunderts befand sich hier die Hauptburg und größte Ansiedlung des slawischen Stammes der Sprewanen unter ihrem Fürsten Jaxa von Cöpenick. Die Sprewanen hatten im Zuge der Völkerwanderung um 720 den Berliner Raum erreicht und sich im dünnbesiedelten Gebiet an der Spree niedergelassen. Die wenigen verbliebenen Germanen waren mehr oder minder in der slawischen Bevölkerung aufgegangen. Ulric von Huysburg wollte sich in Cöpenick als Stammesmitglied der Obotriten ausgeben, die im westlichen Mecklenburg siedelten und 955 den Krieg gegen Otto I. verloren hatten, aber knapp dreißig Jahre später die deutsche Herrschaft wieder hatten abschütteln können. Seitdem hatten im Obotritenland mal christliche, mal heidnische Fürsten geherrscht, und seit 1131 war Niklot König der Obotriten. Aber Heinrich der Löwe, der Sachsenherzog, war im Begriff, in einem neuen Wendenkreuzzug das Land der Obotriten zu erobern.
Dies alles und noch mehr hatte sich Ulric eingeprägt, und er hatte auch die Sprache der Obotriten so weit erlernt, dass er sich als ein Sohn des Königs Niklot ausgeben konnte, als Wertislaw. Wollte er als Obotrit gelten, gebot es die Logik, dass er sich Cöpenick in weitem Bogen von Norden her näherte. Er war allein unterwegs, denn Bogdan-Otto hatte ein unbekanntes Fieber außer Gefecht gesetzt – abgesehen davon, dass sein Begleiter seine Mission wohl eher gefährdet denn gefördert hätte.
Auf dem Plateau des Barnims war Ulric auf ein Flüsschen gestoßen, dessen Wasser nach Süden hin flossen und von dem er vermutete, dass es irgendwo in der Nähe Cöpenicks in die Spree mündete. Dass es den Namen Wuhle trug, wusste er nicht. Den Dörfern, die am Wege lagen, wich er ein jedes Mal aus, wenngleich er den Frauen, die er aus der Ferne sah, gern etwas näher gekommen wäre, denn schon zu lange hatte er keine mehr besessen. So sang er denn auch voller Sehnsucht ein Minnelied, das er bei den Askaniern gehört hatte:
Dû bist mîn, ich bin dîn:
des solt dû gewis sîn.
dû bist beslozzen
in mînem herzen:
verlorn ist daz slüzzelîn:
dû muost ouch immer drinne sîn.
Endlich konnte er die Cöpenicker Burg am Horizont entdecken. Sie lag auf einer Insel in der Dahme, und zwar kurz vor deren Einmündung in die Spree. Eine schmale hölzerne Brücke stellte die Verbindung mit der Siedlung Cöpenick dar, die auf einer weiteren Insel angelegt war, während es am Ostufer der Dahme eine alte slawische Fischersiedlung gab, vicus Kytz, in der auch viele Bedienstete der Burg untergebracht waren.
Ulric von Huysburg wurde auf seinem Weg zur Burg nur wenig bestaunt. Offenbar hielt man ihn für einen polnischen Ritter, und die waren in dieser Gegend nicht gerade selten. Er hielt auf die Burgwache zu und zügelte sein Pferd, um mit den Posten zu verhandeln, deren über Kreuz gehaltene Lanzen den Schlagbaum ersetzten. Beide waren auffällige Burschen. Der eine hatte eine Hasenscharte, der andere eine schiefe Nase.
»Wer bist du? Was willst du?«, scholl es Ulric wenig freundlich entgegen.
Er gab sich hochmütig, denn Hochmut schien ihm die beste Strategie zu sein. »Was fragt ihr, seht ihr nicht, wer ich bin? Wertislaw, der Sohn von Niklot, dem König der Obotriten! Mein Vater schickt mich, mit Jaxa wegen eines Bündnisses zu verhandeln.«
Die beiden Posten berieten sich erst einmal. »Können wir das glauben, Bohuměr?«, fragte der mit der schiefen Nase.
»Ich weiß nicht so recht«, antwortete der mit der Hasenscharte.
Die beiden Posten musterten ihn mit dem größtmöglichen Misstrauen. Ulric von Huysburg erschrak. Hatte sein bestes Slawisch in ihren Ohren nur geklungen wie eine Ansammlung von Phantasielauten? Sollte er vergeblich tagelang mit Bogdan-Otto geübt haben?
Nein, die beiden Sprewanen hatten ihn wohl verstanden. Aber dass ein Königssohn ohne Tross durch die Lande zog, das erschien ihnen verwunderlich.
Ulric stöhnte auf, als er ihre Bedenken vernommen hatte. »Meine Begleiter sind alle ums Leben gekommen, als wir beim Übergang über den Rhin von einer Gruppe der Zamzizi angegriffen wurden. Ich bin der Einzige, der entkommen konnte.«
Das war mit derartig großer Schauspielkunst vorgetragen worden, dass ihm die beiden Posten Glauben schenkten und ihn in die Burg führten, wo sie einen Knecht anwiesen, sein Pferd zu versorgen und ihn zu Jaxa zu führen.
Er möge warten, hieß es vor dessen »Palast«. Ulric von Huysburg nutzte die Zeit, sich unauffällig umzusehen. Auf dem Rand des Brunnens lag eine Münze. Sie zeigte Jaxa mit Palmenzweig und Doppelkreuz, also mit christlichen Symbolen. Ulric machte sich noch einmal klar, dass Jaxa erstens Christ war und zweitens polnischer Fürst, ein Vasall der Piasten. Deren Königreich befand sich zwar in der Krise, man war aber noch immer darauf aus, nach Westen zu expandieren.
Ulric setzte sich auf den Brunnenrand, schloss die Augen und genoss die Frühlingssonne. Als er Stimmen hörte, öffnete er sie wieder. Zwei Frauen kamen aus einem der Nebengebäude, hölzerne Eimer in der Hand. Offenbar wollten sie Wasser holen, schreckten aber zurück, als sie ihn, einen Fremden, sahen.
Er sprang auf, schnellte ein paar Meter zurück und machte eine einladende Handbewegung. »Bitte sehr, die Damen, tretet doch näher, vor mir braucht niemand Angst zu haben.«
Die beiden Frauen berieten sich kurz.
»Miluša, geh du voran«, hörte er die Ältere flüstern.
Ulric von Huysburg war im Nu entflammt. Es erschien ihm, als würde das Blut heiß durch seinen Körper strömen, und wäre sein Gemächt nicht so eng eingeschnürt gewesen, hätte er seine Erektion nicht verbergen können. Miluša. Eine Schönheit wie sie in einem Sprewanennest zu finden, hätte er nicht für möglich gehalten. Sie tat zwar schüchtern, doch als sich ihre Blicke trafen, zögerte sie eine Sekunde zu lange, den ihren zu senken. Ulric wusste, das konnte was werden, aber hier in der engen Burg gab es mit Sicherheit kein Plätzchen, wo man ungestört der Minne frönen konnte. Wenn er sie nun auf sein Pferd hob und mit ihr davonsprengte? Sein Pflichtbewusstsein verbot es ihm. Aber vielleicht gab es doch noch eine Möglichkeit?
»Du bist die Tochter des Fürsten?«, fragte er.
Sie lächelte. »Weiß man’s?«
Die Ältere verbot ihr, so zu reden. »Das lass nicht deinen guten Vater hören.« Sie fixierte Ulric von Huysburg. »Wer seid Ihr eigentlich, wo kommt Ihr her?«
Ulric verbeugte sich. »Ich bin Wertislaw, ein Sohn Niklots.«
Miluša staunte. »Du bist von den Obotriten zu uns an die Spree gekommen?«
Er nickte. »So ist es.«
In diesem Augenblick kam ein grimmig dreinschauender Slawe aus der Waffenkammer und herrschte Miluša und ihre Begleiterin an, sie mögen hier nicht müßig herumstehen, sondern endlich Wasser holen und sich wieder in die Küche begeben.
»Ja, Radogost, ja!«
Ulric von Huysburg hatte einen sicheren Instinkt in solchen Angelegenheiten und wusste sofort, dass er in diesem Radogost keinen Freund fürs Leben finden würde. Offenbar sah der Miluša als seine Beute an und wollte sie sich von keinem entreißen lassen.
Endlich wurde er zu Jaxa geführt. Dessen Residenz war ein großer Blockbau, über dessen Tür eine Art Banner angebracht war, das einen Palmzweig und ein Doppelkreuz zeigte.
Der Sprewanenfürst empfing ihn freundlich und mit ausgesuchter Höflichkeit. »Sei mir herzlich willkommen! Wenn dein Vater an ein Bündnis aller Slawenstämme gegen Heinrich den Löwen und Albrecht den Bären, aber auch die Wettiner denkt, dann hat er Großes im Sinne. Bolesław IV. wird uns jede Unterstützung zuteilwerden lassen.«
»Der Kraushaarige«, murmelte Ulric von Huysburg. Wenn der Fürst so genannt wurde, hatte er es weit besser als sein Vater, denn Bolesław III. hatte den Beinamen Schiefmund getragen.
Jaxa bat Ulric von Huysburg, von dem zu berichten, was sich oben im Obotritenland in letzter Zeit ereignet hatte.
»Da hätten wir vor allem die Auseinandersetzungen mit den Wagriern, gefürchteten Piraten, die unter anderem die dänischen Inseln drangsaliert haben. Und nun erwartet mein Vater einen Angriff der Dänen und der Sachsen auf unser Reich.«
Dann kam er auf Heinrich den Löwen zu sprechen. Ulric von Huysburg wusste genau, dass der Welfe und Albrecht der Bär alles daransetzen würden, ihre Herrschaftsgebiete auszudehnen und sich weite slawische Gebiete anzueignen. Hatte Jaxa das Format, den beiden Männern standzuhalten?
Immer wieder musterte Ulric den Sprewanenfürsten. Sein Gesicht war lang und asketisch. Ein sauber gestutzter dunkler Bart umrahmte den Mund und bedeckte das Kinn. Die dunkelbraunen Augen blickten ernst. An diesem Mann war nichts Weichliches zu entdecken. War er wirklich ein geborener Sprewane? Oder war er, wie manche munkelten, vielmehr ein gewisser Jaxa von Miechow, ein Pole, den die Piasten nach Cöpenick geschickt hatten, um die Burg gegen Askanier und Wettiner zu halten? Ulric wagte es, dem anderen diese Frage zu stellen.
Jaxa lächelte. »Nehmt an, was Ihr annehmen wollt. Geben wir den späteren Geschichtsschreibern eine harte Nuss zu knacken.«
Nun, listig schien dieser Mann auch noch zu sein. Und damit doppelt gefährlich. War er wirklich dieser Jaxa von Miechow, hatte er sicher den geheimen Auftrag, nach Westen zu ziehen. Doch auch wenn er ein autochthoner Sprewane war, blieb ihm nichts anderes übrig. Aber hatte dieser Mann wirklich Mut, Kraft und Feuer genug, die Brandenburg anzugreifen und die Askanier in ihre Stammlande zurückzutreiben? Da war sich Ulric nicht sicher. Zu neugierig durfte er nicht wirken, das wäre verräterisch gewesen, dennoch kam er auf die Nachfolge Pribislaw-Heinrichs zu sprechen.
»Ihr seid verwandt mit ihm, und da …«
Wieder hielt sich Jaxa bedeckt. »Heute ist heute, und morgen ist morgen, warten wir’s ab.«
»Und wann erfahre ich, ob Ihr an eine Unterstützung meines Vaters denkt?« Das war eine Frage, mit der er hoffte, Jaxa aufs Glatteis zu führen. Denn für beide Unternehmungen, die Obotriten zu unterstützen und den Askaniern die Brandenburg zu entreißen, fehlten ihm vermutlich die Kräfte.
Aber Jaxa ließ sich nicht aus der Reserve locken. »Wir werden sehen, ich muss alles erst mit meinen Beratern besprechen.« Damit erhob er sich, um Ulric von Huysburg anzuzeigen, dass er ihr Gespräch für beendet hielt. »Ihr werdet ja einige Tage bei uns bleiben und rechtzeitig erfahren, was wir beschlossen haben.« Dann winkte er einen Knappen herbei. »Führe unseren Gast zu seiner Lagerstatt!«
Die befand sich in einer Art Gästehaus im hinteren Bereich der Burg. Ulric streckte sich auf seinen Fellen aus und sang Verse des provenzalischen Troubadours Bernart de Ventadorn: »Non es meravelha s’eu chan/Chantars no pot gaire valer …« Dabei träumte er von Miluša.
Der Gedanke an sie ließ ihn aufspringen. Vielleicht ergab sich eine Gelegenheit, sie allein in einem verborgenen Winkel zu treffen … Er verließ das Gästehaus und schlenderte an den Wällen entlang. Nein, das Glück war nicht auf seiner Seite, er bekam sie nicht zu Gesicht. Gelangweilt ging er auf die hölzerne Brücke zu, die Burg und Siedlung miteinander verband.
In Cöpenick gab es überwiegend sogenannte Flechtwandhäuser, deren Dächer mit Reisig gedeckt waren. Oben hatte man Öffnungen für den Dunstabzug gelassen, Fenster konnte Ulric keine entdecken. Daneben hatte man Blockbauten errichtet, deren Grundriss erheblich größer angelegt war und die jeweils Platz für zwei Zimmer boten. Einige wiesen auch Fenster auf. Ein paar Handwerker saßen im Freien und brachten Beile, Scheren und Schlüssel in Ordnung.
Vor einem Lehmofen sah er Miluša stehen, wie sie ein hölzernes Brett mit dampfenden Brotlaiben aus der Öffnung zog und ihm dabei ihr Gesäß entgegenstreckte.
»Herr«, murmelte Ulric von Huysburg, »ich will ein Jahr meines Lebens drangeben, wenn ich der auch nur einmal beiwohnen darf.«
Sich ihr zu nähern, wagte er nicht, denn sofort wäre dieser Armleuchter von Radogost zur Stelle gewesen. Zwar hätte er den mit einem einzigen Fausthieb für mindestens zehn Minuten ins Land der Träume schicken können, doch dann wäre es mit seiner Mission zu Ende gewesen. Also entfernte er sich und tat, als interessierten ihn Miluša wie auch Radogost nicht im Allergeringsten. Am besten, er sah sich ein wenig in der Gegend um, teils aus Interesse, teils um im Falle eines Falles schnell den besten Fluchtweg zu finden.
Die Posten nahmen keine Notiz von ihm. Von der Brücke ging eine Leiter zu einem kleinen Steg hinunter, an dem ein klobig gebautes Ruderboot festgebunden war, kein Einbaum mehr, wie ihn die Slawen früher gebaut hatten, sondern ein geklinkerter Kahn. Ulric fragte die Sprewanen, ob er ihn für eine kleine Fahrt benutzen könne. Man hatte nichts dagegen. So stieg er ein und ruderte ein Stückchen die Dahme hinab, um dann in die Spree einzubiegen. Das war ziemlich anstrengend, denn sein Boot hatte keinen Kiel, sondern unten eine mächtige Sohle aus Eichenholz. Ein paar Fischer hockten in ihren Kähnen und waren zu träge, den Kopf zu heben und ihm hinterherzublicken. Ulric fehlte jemand, mit dem er sich unterhalten konnte. Er wünschte sich an den Hof der Staufer. Barbarossa war ja nicht nur deutscher König, sondern seit 1155 auch Kaiser des Heiligen Römischen Reiches und plante große Feldzüge. In Rom, Mailand und Besançon hatte er sich aufgehalten, und das waren schon Orte von anderem Format als Cöpenick.
Langsam brach die Dämmerung herein, Ulric beendete seinen Ausflug mit dem Ruderboot und warf sich wieder auf seine Felle, noch missmutiger als zuvor. Es drängte ihn, endlich etwas zu unternehmen. Die Sache war klar: Wenn Jaxa ihm nicht verraten würde, ob er gegen Albrecht Front machen wollte oder nicht, dann blieb ihm nur, ihn zu belauschen, wenn er mit seinem Gefolge alles besprach.
Ulric erhob sich, warf sich das sackartige graubraune Gewand über die Schultern, wie es die Slawen für modisch hielten, steckte sich einen kurzen Dolch in den Gürtel und öffnete vorsichtig die Tür seiner … nun ja, seiner Hütte. Draußen war es mehr als finster. Wer sich nach Sonnenuntergang im Innern der Burg bewegte, tat dies nicht ohne Fackel. Ulric schloss die Augen, damit sie sich an die Dunkelheit gewöhnten und er die Umrisse der einzelnen Gebäude erkennen konnte. Nachdem dies geschehen war, schlich er sich zu Jaxas »Palast«, dem mächtigsten der Blockbauten. Laute Stimmen drangen nach draußen, man war bei dem, was landläufig als Palaver bezeichnet wurde. Ulric konnte es recht sein. Das Fenster stand offen, ein Vorhang verhinderte aber, dass er erkennen konnte, wer was sagte. Nur ab und an sah er einen Schatten auf dem Vorhangstoff, aber eine Gestalt oder ein Profil war nicht zu erkennen, dazu war das Licht, das die brennenden Öllampen und Kienspäne spendeten, viel zu schwach. Ulric lauschte. Jetzt hatte ganz offenbar Jaxa das Wort ergriffen, dessen Stimme und Tonfall kannte er ja.
»Die Brandenburg muss wieder unser werden! Das Hevellerland ist altes Slawenland. Zurück mit Albrecht hinter die Elbe!«
Es kam ein Einwand. »So recht du hast, so müssen wir doch anerkennen, dass wir die Askanier in der Burg niemals mit unseren geringen Kräften in die Knie zwingen können.«
»Das wohl nicht«, entgegnete Jaxa. »Aber wir haben Geld aus Polen zur Verfügung, viel Geld, und damit werden sich etliche von Albrechts Gefolgsleuten sicherlich umstimmen lassen. Außerdem haben wir, sind wir erst Herren des Landes, das Pribislaw gehörte, viele Lehen zu vergeben, Pfründe, und auch damit wird sich mancher locken lassen.«
»Wen willst du also zur Brandenburg schicken?«, fragte jemand.
»Einen gut getarnten Mann, vielleicht kommt er als Mönch, vielleicht als Händler. Da müssen wir sehen, wer sich findet.«
Jetzt wurden Rufe laut, man solle aufhören zu debattieren, denn es sei schon längst Zeit für das Abendessen.
Ulric von Huysburg hatte genug gehört, und er machte, dass er schnell wieder zu seinem Lager kam, denn es war fest damit zu rechnen, dass man ihn zur Tafel bat. Auf halbem Weg zu seiner Hütte glaubte er, Schritte hinter sich zu hören. Er blieb stehen, zog seinen Dolch aus dem Gürtel und lauschte. Nichts. Er musste sich getäuscht haben. Sekunden später lag er wieder auf seinen Fellen und dachte nach. Eigentlich hätte er jetzt aufbrechen und zur Brandenburg reiten können, denn er hatte ja herausgebracht, was er hatte herausbringen wollen, doch mit seinem Verschwinden hätte er Jaxa nur gewarnt und dazu gebracht, seine Pläne zu ändern. Nein, er musste sich ganz offiziell von ihm verabschieden. Außerdem wäre es selbstmörderisch gewesen, in dieser sumpfigen Gegend ohne Weg und Steg durch die Nacht zu reiten. Also streckte er sich aus und suchte sich zu entspannen. Bald war er in leichten Schlummer gefallen.
Eine knappe Stunde mochte vergangen sein, als ein Knappe ihn weckte. Fürst Jaxa habe den Wunsch geäußert, er, Wertislaw, möge neben ihm sitzen und speisen.
Ulric richtete sich auf, sagte, dies sei eine hohe Ehre für ihn, und folgte dem jungen Slawen. An Jaxas Tafel hatte sich dessen gesamter Hofstaat versammelt. Ulric schätzte, dass es fast zwei Dutzend Männer waren. Er begrüßte den Sprewanenfürsten höflich und mit allem nötigen Respekt, doch als er dann neben ihm saß und in die Runde schaute, hätte er vor Schrecken fast aufgeschrien, denn der ältere Mann schräg gegenüber war kein anderer als Nebojša, der Händler, dem er an der Nuthe das Leben geschenkt hatte. Wenn der jetzt aufsprang, zu ihm lief, ihn umarmte und rief, dass er diesem großmütigen Manne hier so viel verdanke, dann …
»Ein Hoch auf Ulric von Huysburg!«
Ulric wusste nicht, ob Nebojša es wirklich schon ausgerufen hatte oder ob er sich nur einbildete, es gehört zu haben, er straffte sich jedoch, um im Ernstfall in den nächsten Sekunden gegen alle Gefolgsleute Jaxas kämpfen zu können. Blitzschnell hatte er einen Plan gefasst: Ich reiße mein Messer vom Tisch, halte es Jaxa an die Kehle und fordere ein Pferd und freien Abzug. Das mochte gelingen, aber …
Doch Nebojša schwieg, als sich ihre Blicke getroffen hatten. Entweder der Händler hatte ihn nicht als Ulric von Huysburg erkannt – oder aber er war klug genug zu schweigen.
Ulric fiel es schwer, jetzt leichthin mit Jaxa zu plaudern, zumal ihm Radogost Blicke sandte, die mit feindselig viel zu schwach beschrieben waren. Sie waren wie Pfeile.
Jaxa kam auf die Wettiner zu sprechen, von denen Ulric nur wenig wusste. »Gegen die vor allem will ich mich in Zukunft wenden, nicht gegen die Askanier, die erscheinen mir harmloser zu sein, zumal Heinrich der Löwe diesem Albrecht dem Bären in allem überlegen ist.«
»Ja«, sprang Radogost ihm bei, »wenn ich mir vorstelle, dass in einem Zwinger ein Bär und ein Löwe miteinander kämpfen, dann würde ich meinen Kopf auf den Sieg des Löwen verwetten.«
»Was haben denn die Wettiner für ein Tier in ihrem Wappen?«, fragte einer.
»Kein Tier, nur grüne Blätter!«, lachte ein anderer.
Ulric war froh, dass sie nun auf Dinge zu sprechen kamen, die weniger verfänglich waren, zum Beispiel, ob es noch einen dritten Kreuzzug nach Palästina geben würde und ob bestimmten Edelsteinen, die Hildegard von Bingen in ihrer medizinischen Schrift Physica aufgeführt hatte, wirkliche Heilkraft zugeschrieben werden könne.
»Ihre Wirkung ist ganz unzweifelhaft«, sagte Ulric. »Wenn ich schwermütig bin, weil ich kein Geld habe und mir der Schuldturm droht, dann bekomme ich sofort ein sonniges Gemüt, sobald mir jemand einen Haufen Diamanten schenkt.«
»Darin erkennt man den Mann des Nordens!«, rief Jaxa. »Ich hebe meinen Becher auf das Wohl des Sohnes Niklots!«
Doch auf Ulric von Huysburgs Platz stand gar kein Becher, den er seinerseits ergreifen konnte.
»Los, schafft einen köstlichen Trunk herbei!«, rief Jaxa.
Ein Knappe brachte ihn.
»Auf das Wohl des Herrschers über alle Sprewanen! Auf dass er eines Tages alle Slawenstämme einigen werde und Albrecht, Heinrich und die Wettiner allesamt zum Teufel jage!«
Dies wurde mit großem Beifall aufgenommen, und Ulric von Huysburg leerte seinen Becher in einem einzigen Zug, so wie es Sitte war.
Ein paar Atemzüge später wurde ihm schwindlig und schwarz vor Augen. Er konnte gerade noch die Tischkante fassen, um Halt zu finden. Doch es nutzte nichts, er verlor das Bewusstsein und schlug lang hin.
Irgendwann in dieser Nacht kam er wieder zu sich und nahm wahr, dass er an Händen und Füßen gefesselt in einem Kellerloch lag.