Читать книгу Otto mit dem Pfeil im Kopf - Horst Bosetzky, Uwe Schimunek - Страница 9
Drei
ОглавлениеDie Heveller hatten auf der Brandenburger Dominsel ihre zentrale Burg angelegt. 928/29 war sie von König Heinrich I. erobert worden, und Otto I. hatte 948 das Bistum Brandenburg errichtet. Im Slawenaufstand 983 war die Burg von den Hevellern zurückerobert worden, und Anfang des 12. Jahrhunderts war sie in den Fokus des Römischen Reiches geraten, des sacrum Romanum imperium, das darauf aus war, das Gebiet zwischen Elbe und Oder seinem imperialen Machtbereich einzugliedern. Wie bei allen Großreichen gab es an den Außengrenzen abgestufte politische Beziehungen zu den fremden Völkern und Stämmen sowie »Durchmischungen« der Ethnien und Kulturen. Im Bereich der Nordmark hatte man es mit drei slawischen Größen zu tun: mit Wirikind von Havelberg, Pribislaw-Heinrich von Brandenburg und Jaxa von Cöpenick – alle drei Christen. Wirikind konnte seine Erbfolge nicht regeln und spielte in den Jahren ab 1150 keine Rolle mehr, und Jaxa hatte sich auf die Seite der Polen geschlagen.
Anders Pribislaw-Heinrich, der um 1075 auf die Welt gekommen war und sich den Deutschen verbunden fühlte. Schon Meinfried, sein Vater, war Christ gewesen, und Pribislaw-Heinrich hatte als Kind die christliche Taufe empfangen. Seinem Volk aber passte das alles nicht so recht, es hielt mehrheitlich lieber an seinen »heidnischen Bräuchen« fest und sah es gar nicht gern, dass ihr Fürst Unterkönig und Vasall des Heiligen Römischen Reiches geworden war. Er war kinderlos geblieben, und um sicherzugehen, dass nach seinem Tode nicht wieder ein heidnischer Fürst das Land regierte, setzte er Markgraf Albrecht als seinen Erben ein und wurde Taufpate Ottos, dem er bei dieser Gelegenheit den Landstrich schenkte, den man die Zauche nannte. Als er 1150 an Altersschwäche gestorben war, hielt Petrissa, seine Gattin, die Nachricht seines Todes so lange zurück, bis Albrecht auf die Brandenburg geeilt war, um sie gleichsam in erblicher Thronfolge in Besitz zu nehmen.
In der Stadt und auf der Burg Brandenburg lebten Deutsche – in der Hauptsache Anhaltiner und Sachsen – und Slawen vergleichsweise friedlich zusammen. Die Besatzung der Burg war auf einen Angriff der Sprewanen gut vorbereitet, denn Lynhardt von Schleibnitz herrschte hier mit harter Hand und ließ seine Leute nahezu täglich üben, so auch die Bogenschützen auf den Mauern und Wällen.
»Die Sehne spannen! Zielen! Und Schuss!«
Auf dem Vorfeld waren Strohballen zu Rittern und Lanzenträgern geformt worden, und in diese Zielscheiben bohrten sich nun die Pfeile – zum Teil jedenfalls.
Der Ritter Ottin von Strenznau hatte in einiger Entfernung Posten bezogen und kam nun herangeritten, um die Trefferzahl nach oben zu melden. »Nur knapp die Hälfte aller Pfeile hat ihr Ziel gefunden.«
»Zu wenig!«, befand Lynhardt von Schleibnitz. »Auf ein Neues!«
»Ruhe!«, schrie Mertin von Freckleben, einer der Kämmerer Albrechts. »Aua!« Er war gerade dabei, sich von einem Bedienten die Läuse aus dem Haar kämmen zu lassen. »Wenn ich so viele Brakteaten im Säckel hätte wie Läuse auf dem Kopf, dann könnte ich jubeln.« Brakteaten waren neumodische, aus dünnem Blech einseitig geprägte Münzen, die unter dem Bild des Fürsten oder Königs das Jahr zeigten, in dem sie in Umlauf gebracht worden waren. Mertin von Freckleben galt als geldgieriger Mann, wurde aber von Albrecht geschätzt, weil er das askanische Vermögen nicht verschwendete.
Während Lynhardt von Schleibnitz sich mühte, die Kampfkraft der Burgbesatzung zu erhöhen, hatte sich seine holde Gattin einen gewissen Mickel ins Bett geholt, einen Jäger aus der Umgebung, der die Küche mit Hase, Wildschwein, Hirsch und Reh belieferte. Alle, bis auf ihren Mann, wussten von ihren nymphomanen Anwandlungen, und man nannte sie überall nur »Adelhayt von Leibschlitz«.
Einmal schon hatte Mickel sein Bestes gegeben, doch Adelhayt war immer noch heiß und knetete sein Glied, um es wiederauferstehen zu lassen.
Diese Bemühungen beobachtete heimlich Zlata. Sie war als Beiköchin auf der Burg beschäftigt und hatte gesehen, wie Mickel ein am Morgen erlegtes Reh angeschleppt hatte. Bei jedem seiner Besuche machte sie ihm schöne Augen, und er hatte ihr auch schon zu verstehen gegeben, dass sie sich Hoffnungen machen könne. Und nun das! Tief verletzt schlich sich Zlata weg vom Fenster und überlegte, wie sie sich für Mickels Untreue rächen konnte. Was sie ihm gönnte, war eine gehörige Tracht Prügel, und die bekam er bestimmt verabreicht, wenn Lynhardt von Schleibnitz ihn bei seinem Tun erwischte. Also schlich sie sich zum Burgverwalter und flüsterte ihm ins Ohr, dass er doch schnell mal ins Schlafgemach seiner Gattin schauen möge.
Lynhardt von Schleibnitz lief sofort los, um sein Weib in flagranti zu erwischen, und stürzte genau in dem Augenblick in ihr Schlafgemach, als Mickel stöhnend und keuchend auf den nächsten Höhepunkt seiner Geliebten hinarbeitete und mit seinen Gedanken bei der Bärenjagd war, um seinen Erguss hinauszuzögern. So hörte er den Ritter nicht kommen und fiel aus allen Wolken, als der furchtbar schrie und ihn grob an der Schulter packte, um ihn von seiner Frau zu reißen.
»Was machst du da?«
Mickel sprang auf und hatte keine Zeit für eine Antwort – er musste zugleich seine Blöße bedecken und seine Hände nach oben reißen, um seinen Kopf zu schützen, denn Lynhardt von Schleibnitz war drauf und dran, ihn mit einem schnell gegriffenen hölzernen Hocker zu erschlagen.
»Tu es nicht!«, schrie seine Frau. »Du machst uns alle unglücklich.«
Mickel konnte den ersten Schlag abwehren und verschaffte sich etwas Luft, indem er Schleibnitz in die Hoden trat. Der war auf diese wenig ritterliche Art des Zweikampfes nicht vorbereitet und sank jammernd zu Boden. Der Jäger nutzte die Gelegenheit, sprang über den Gehörnten hinweg und rannte in Richtung Tor.
Überraschend schnell hatte sich Lynhardt von Schleibnitz wieder aufgerafft. Er stürzte zum Fenster und schrie, man möge Mickel festhalten, er sei ein Dieb und Mörder. Das tat seine Wirkung, und Mickel war schnell eingekreist. Er war sich sicher, dass sie ihn hängen würden, wenn sie ihn zu fassen bekamen. In seiner Not schlüpfte er in die offene Tür zum Weinkeller und schaffte es gerade noch, von innen den Riegel vorzuschieben und die Treppe hinunterzulaufen.
Es würde ein paar Minuten dauern, bis sie die Tür mit einer Axt aufgebrochen hatten. Er war allein, es brannten aber ein paar Kienspäne an der Wand. Der Kellermeister musste gerade noch im Keller zu tun gehabt haben.
Mickel betete zu Triglaw. Und der alte Slawengott ließ den Seinen nicht im Stich. Denn er ließ ihn an das denken, was sein Vater, der lange auf der Brandenburg gedient hatte, ihm des Öfteren erzählt hatte: dass nämlich vom Weinkeller aus ein geheimer Gang zum Ufer der Havel hinunterführte. Mickel begann die Wände abzuklopfen, ob es wohl irgendwo hohl klang.
Wer von Cöpenick aus zur Brandenburg reisen wollte, brauchte im Jahre 1157 mehrere Tage dafür, man hatte unberührte märkische Urwälder und Sümpfe zu durchqueren, wie sie nur ein Urstromtal zu bieten hatte. Jedenfalls kam Jaxa äußerst langsam voran, denn sein kleines Heer bestand nur zum geringeren Teil aus Reitern, in der Mehrzahl aber aus polnischen Bogenschützen und Lanzenträgern, die zu Fuß unterwegs waren.
Jaxa und Radogost ritten an der Spitze des Zuges und waren nicht bei allerbester Laune, da es seit Stunden regnete.
»Wenn es so weitergeht, versinken wir alle noch im Schlamm«, sagte Radogost.
Jaxa reagierte unwirsch. »Du weißt doch selber, dass wir nicht länger warten konnten. Die Welfen, die Askanier, die Sachsen, die Wettiner – alle sind sie gierig, neues Land in Besitz zu nehmen, unser Land, Slawenland.«
Radogost drehte sich nach hinten. »Mit diesem Haufen, mit dem wir gen Westen ziehen, wirst du ihnen keine Angst einjagen. Mit dem können wir die Brandenburg nie und nimmer zurückerobern.«
»Damit könntest du recht haben – aber warten wir’s ab. Die Erinnerung an 983 sollte uns zuversichtlich stimmen.«
In diesem Jahre hatte es den sogenannten Slawenaufstand gegeben. Heinrich I. und Otto I. hatten mit ihren Kriegszügen bis 955 die Elb- und Ostsee-Slawen unterworfen und von Magdeburg aus christianisiert. Als aber ein Streit um die Nachfolge des Kaisers und des Magdeburger Erzbischofs entbrannt war, hatten die Liutizen und Obotriten die Schwächung des Reiches genutzt und dessen politische und kirchliche Vertreter vertrieben. Die Bischofssitze Brandenburg und Havelberg waren besetzt, das Kloster Kalbe geplündert worden. Für die nächsten 150 Jahre hatte die Expansion des Heiligen Römischen Reiches nach Osten ein Ende gefunden.
»Hast du schon einen Plan?«, fragte Radogost den Fürsten.
Jaxa lachte. »Nein, denn mach nur einen Plan, sei nur ein großes Licht! Und mach dann noch ’nen zweiten Plan, geh’n tun sie beide nicht.«
Wortlos ritten sie weiter, mit Rücksicht auf ihre Fußtruppen nur im Schritt. Um den Burgwall von Poztupimi machten sie einen weiten Bogen, denn den Hevellern trauten sie nicht. Die Landkarte, die sie in den Händen hielten, war die Kohlezeichnung eines Mönchs, und auf der war die Seenkette südlich Potsdams nur als ein etwas größerer Teich eingezeichnet, so dass sie lange brauchten, um auf Höhe des heutigen Ferch wieder Richtung Westen reiten zu können. Jetzt ging es weithin über trockenes Gelände, und erst die Sümpfe um den Rietzer See machten ihnen wieder zu schaffen. Als sie auch dieses Hindernis glücklich überwunden hatten, kamen sie auf eine höher gelegene Waldfläche und rasteten dort, wo heute auf den Karten der Galgenberg verzeichnet ist. Von hier aus waren Burg und Siedlung Brandenburg zwar noch nicht zu sehen, aber schon zu erahnen.
Sie hatten sich gerade auf dem Boden ausgestreckt und sich über ihre kargen Vorräte hergemacht, da waren in ihrer Nähe Schritte zu vernehmen.
Radogost sprang auf und griff sich eine der herumliegenden Lanzen. »Halt! Wer da?«
Aus dem Gebüsch trat ein Slawe, der erklärte, er sei der Jäger Mickel aus einem der Dörfer nebenan und aus der Brandenburg geflohen, weil man dort gedroht habe, ihn aufzuhängen. »Und hätte ich den geheimen Gang nicht gefunden, der vom Weinkeller der Burg bis ans Havelufer führt, dann würde ich jetzt am Galgen baumeln.«
Jaxa begriff schnell, dass dieser Mann ein Geschenk des Himmels war. »Bei mir bist du gut aufgehoben«, versicherte er dem Bedrohten. »Und du sollst der oberste Jäger meines Hofes werden, wenn ich erst Herr über die neue Mark geworden bin, die es geben wird, die Mark Brandenburg.«
Mickel fiel ihm zu Füßen und dankte ihm.
»Nichts zu danken.« Jaxa hob Mickel vom Boden auf und ließ den Mundschenk zwei Becher seines besten Weines holen. »Komm, labe dich und erzähle uns, was es auf der Brandenburg an Neuigkeiten gibt.«
»Albrechts Verwalter ist jetzt der Ritter Lynhardt von Schleibnitz, ein Fettsack, der so dumm ist, dass ihn die Schweine beißen.«
Jaxa hörte das gern. »Also werden wir auf wenig Gegenwehr stoßen, wenn wir die Brandenburg erstürmen?«
»Das wohl nicht, denn es gibt wackere Kämpfer. Unter den Rittern ist einer, der Hayntz von Helsungen, der wird sich nicht ergeben, bis dass der letzte Pfeil verschossen ist. Und die Askanier haben wesentlich mehr Männer auf der Burg, als ich hier in Eurem Lager sehe.« Da fiel Mickel noch etwas ein, das er bis jetzt vergessen hatte. »Ah ja, und außerdem hat Albrecht einen Ritter zu Euch nach Cöpenick geschickt, den Ulric von Huysburg. Der sollte sich als Sohn des Obotritenfürsten Niklot ausgeben und bei Euch einschleichen, um von Euren Plänen zu erfahren.« Er sah sich um. »Wo steckt er denn?«
Jaxa lachte. »Bei uns in Cöpenick im Verlies.«
»Das ist gut so.«
Nachdem er von Mickel alles erfahren hatte, was ihm wichtig schien, setzte sich der Sprewanenfürst mit Radogost zusammen, um ihm mitzuteilen, dass er nun doch einen Plan entwickelt habe. »Du kleidest dich um und reitest als Askanier durch die Tore der Brandenburg, als der Ritter Ulric von Huysburg.« Er gab weiter, was er von Mickel erfahren hatte. »Du erzählst vom Leben in Cöpenick, wiegst diesen Lynhardt von Schleibnitz, der ein Schwachkopf sein soll, in Sicherheit und machst ihm klar, dass die Sprewanen nicht daran denken, die Brandenburg anzugreifen. Ich sei mit den Meinen gerade nach Norden zu den Obotriten aufgebrochen, um Niklot gegen Heinrich den Löwen beizustehen.« Dann zog er einen Beutel mit Goldstücken aus seinem Wams. »Und hiermit versuchst du, so viele Askanier wie möglich zu kaufen.«
Radogost grinste. »Gut. Und wer mir widersteht, der bekommt denselben Trunk aufgetischt wie dieser komische Ulric von Huysburg.«
Jaxa nickte. »Wenn das erledigt ist, dann lässt du vom Wall oben eine Fanfare ertönen. Das ist für mich das Zeichen loszuschlagen. Eine kleine Schar lasse ich das Tor stürmen. Aber das nur zum Schein, um die zu binden, die vielleicht nichts von deinem Schlaftrunk genossen haben, aus welchem Grund auch immer. Während des Gefechts am Burgtor komme ich mit meiner Schar durch den geheimen Gang, dessen Eingang uns dieser Mickel zeigen wird, und besetze die Burg. Kein Tropfen Blut wird fließen, denn die Christen haben uns ja gelehrt: Du sollst nicht töten.«
Ulric von Huysburg versuchte, den Ratten, die um ihn herumwuselten, klarzumachen, dass er noch am Leben war. Dazu schnellte er mit seinem Körper, sofern es die Hände, die hinter seinem Rücken zusammengebunden waren, und die ebenfalls gefesselten Füße zuließen, mal nach links, mal nach rechts. »Wartet doch, ihr verdammten Viecher, bis ich tot bin und in Verwesung übergehe, dann schmecke ich euch viel besser!«
Dass er in seinem Cöpenicker Gefängnis ein jämmerliches Bild abgab, wie er da nicht gegen edle Ritter kämpfte, sondern gegen abgemagerte Ratten, war ihm schon bewusst. Aber sosehr Ulric auch an seinen Fesseln zog und zerrte, sie hielten ihm stand.
So ergab er sich auch an diesem Tage wieder in sein Schicksal und schloss die Augen, um seine Gabe zu nutzen, große Ereignisse der Weltgeschichte in Gedanken so zu erleben, als wäre er selbst dabei gewesen.
Da wurde der Deckel über seinem Kellerloch angehoben, und ein Knecht kam die Leiter heruntergestiegen, um ihn mit einem ekligen Hirsebrei zu füttern und ihm schales Wasser einzuflößen.
»Was soll mit mir geschehen?«, brachte Ulric hervor, als alles seine Speiseröhre passiert hatte.
»Ihr werdet aufgehoben.«
Ulric kniff die Augen zusammen. »Um eurem Triglaw geopfert zu werden?«
»Nein, wir sind Christen wie ihr.«
»Was dann?«
»Ganz einfach: Wenn Albrecht beim Kampf um die Brandenburg einen von unseren Leuten gefangen nehmen sollte, dann sollt Ihr gegen den ausgetauscht werden.«
Damit war ihr Dialog beendet, und der Sprewane kletterte wieder nach oben. Dass Jaxa auf dem Weg zur Brandenburg war, hatte sich Ulric denken können. Albrecht aber war auf diesen Angriff in keinster Weise vorbereitet. Er würde ganz sicher seine, Ulrics, Rückkehr aus Cöpenick abwarten, ehe er eine ausreichend große Heerschar um sich sammelte, um die Brandenburg gegen Jaxa zu verteidigen. Die vorhandene Besatzung reichte bestenfalls aus, einem etwaigen Angriff einiger aufständischer Heveller standzuhalten.
Diese Überlegungen brachten Ulric dahin, seine Bemühungen zu verdoppeln. Nach einer Viertelstunde hatte er es geschafft, sich aufzurichten und auf dem Gesäß Millimeter um Millimeter nach hinten zu rutschen, bis er an der Wand seines Verlieses angekommen war. Bald hatte er einen etwas hervorstehenden scharfkantigen Stein ertastet, und an dem rieb er nun die Stricke, die seine Hände zusammenhielten. Es war mehr als mühsam, aber es gelang ihm dennoch, Faser für Faser zu durchtrennen. Endlich hatte er die Hände frei! In Fetzen hing ihm die Haut an den Knöcheln herab, und es dauerte eine Weile, bis er alles Blut abgeleckt hatte. Die Füße freizubekommen war dagegen ein Kinderspiel, denn in seiner Hose hatte er ein kleines Messer eingenäht. Bald waren auch die Fußfesseln zerschnitten. Er wollte sich erheben, aber die Beine knickten ihm weg, und er musste sich an der Leiter festhalten. Es dauerte eine Weile, bis das Blut wieder durch die Adern strömte.
Was nun? Sollte er warten, bis der Knecht wieder zu ihm herabstieg, um ihn zu füttern, und ihn dann überwältigen? Oder sollte er nach oben steigen und zusehen, ob es eine Gelegenheit gab, sein Pferd aus dem Stall zu holen und davonzusprengen? Er schwankte lange, entschied sich dann aber für die zweite Möglichkeit.
Sprosse für Sprosse stieg er die Leiter nach oben, bis sein Kopf gegen die hölzerne Klappe stieß, die sein Verlies abdeckte. Er drückte sie ein wenig nach oben. Alles war dunkel, es schien später Abend oder Nacht zu sein. Nirgendwo brannte ein Kienspan. Ulric hob den Deckel vollends an und legte ihn nach hinten ab. Nun war es ein Leichtes, aus dem Verlies zu steigen. Er sah nicht das Allergeringste, aber sein Geruchssinn sagte ihm, dass er sich in einem Kornspeicher befand. Er wartete einen Augenblick und hoffte auf eine Eingebung. Die kam nicht, dafür aber ging knarrend eine Tür auf, und in der erschien der Knecht, der ihn bisher »betreut« hatte, einen Krug in der einen und eine Art Fackel in der anderen Hand. Ulric von Huysburg bückte sich und schlüpfte hinter ein paar aufgestapelte Säcke. Der Knecht kam vorbei, und mit einem wohlgezielten Faustschlag gegen die Schläfe hatte Ulric dieses Problem gelöst. Ehe der Mann wieder zu sich kam, war er schon längst über alle Berge. Der Krug fiel zwar auf den Boden und zerschellte, aber es war offenbar niemand da, der es gehört hätte. Ulric stülpte sich die Kappe des Slawen über den Kopf und warf sich seinen Umhang über die Schultern, dann nahm er den noch brennenden Kienspan vom Boden auf und schlich sich Richtung Tür.
Als Ulric von Huysburg im Freien angekommen war, bemerkte er, dass es doch noch nicht so spät war, wie er angenommen hatte. Noch nicht alle waren schlafen gegangen. Eine Magd kam ihm entgegen.
»Na, Vuk, hast du deinen Ritter gut versorgt?«
»Tak, przestać robić swój obowiązek«, brummte er, das Gesicht zur Seite gewendet.
Es funktionierte, und er machte sich auf die Suche nach dem Stall, in den man sein Pferd gebracht hatte. Eine Minute später hätte er auf dessen Rücken gesessen, wenn er nicht gegen eine junge Frau geprallt wäre.
»Miluša!«
Er umfing sie, und sie ließ es geschehen. Bald hatte er ihren Mund gefunden und mit seiner Zunge ihre Lippen geöffnet. Er war so entflammt, dass er vergaß, wo er war.
»Ich will dich ganz und für immer!«, flüsterte er und biss ihr ins Ohrläppchen. »Du bist die große Liebe meines Lebens!«
Schreie rissen ihn in die Wirklichkeit zurück. Irgendjemand musste diesen Vuk gefunden haben.
»Flieh, Liebster, flieh!«, hauchte Miluša.
Ulric von Huysburg riss sich los von ihr und rannte in die Richtung, in der er sein Pferd vermutete. Sein Instinkt ließ ihn nicht im Stich. Hinzu kam, dass in diesem Augenblick der Mond durch die Wolken brach. Die Stalltür stand offen, sein Hengst begrüßte ihn mit freudigem Wiehern. Schnell hatte er ihn losgebunden und sich auf seinen Rücken geschwungen.
Im Jahre 1157 dauerte es in den östlichen Grenzregionen des Heiligen Römischen Reiches sehr lange, bis die Menschen im Orte A das erfuhren, was sich in B und C ereignet hatte, und so hatte Albrecht der Bär, als er auf dem Weg nach Althaldensleben war, nicht die geringste Ahnung davon, was sich in Cöpenick und auf der Brandenburg ereignet hatte. Im Prinzip wusste er, dass seine Zukunft im Osten lag, jenseits der Linie, die von der Havel und der Nuthe gebildet wurde, und er hätte sich mehr um die Brandenburg kümmern müssen. Doch sein Gefühl stand ihm dabei im Wege, sein Hass auf alle Welfen und insbesondere auf Heinrich den Löwen. Der hatte ihm Sachsen genommen, das Gebiet, das Jahrhunderte später als Niedersachsen bezeichnet wurde.
»Dieser Mistkerl möge alsbald verrecken!«, rief Albrecht, als ihm im Gespräch mit Hancz von Crüchern die ganze Geschichte noch einmal bewusst geworden war.
Seit fünf, sechs Jahren gab es zwischen ihm und Heinrich dem Löwen immer wieder kleinere Waffengänge und Gefechte, und man zog regelmäßig aus, Siedlungen und Burgen der anderen Seite zu verwüsten. Diesmal sollte es die Burgwartfeste Althaldensleben sein.
Sie erreichten die Ohre am späten Vormittag und beschlossen, hier noch ein wenig zu lagern und Kraft zu schöpfen, bevor sie sich zum Angriff formierten.
»Wenn wir den Fluss hier aufstauen, können wir die ganze Stadt Haldensleben unter Wasser setzen und im Nu erobern«, sagte Hancz von Crüchern.
Albrecht lachte. »Eine gute Idee – aber das Wasser würde wohl nur dann bis zur Burg ansteigen, wenn es wieder mal eine Sintflut gibt, diesmal hier bei uns und nicht am Berge Ararat.«
Dann zogen sie zur Burg, die Bogenschützen vorn hinter dem Fahnenträger, dann Albrecht mit seinen Rittern und den Fußsoldaten. Über eine Nachhut verfügten sie nicht.
Die Besatzung von Althaldensleben bestand nur aus wenigen Mann, nicht mehr als zwei Dutzend, das hatten sie schon herausgefunden, und so schrie Hancz von Crüchern nach oben, man solle sich ergeben. »Freier Abzug sei euch garantiert!«
Die Antwort bestand aus einem Hagel von Pfeilen, mehrere Askanier sanken zu Boden.
Aufs Äußerste gereizt ließ Albrecht zum Sturm auf Althaldensleben blasen, doch ihr Angriff wurde abgeschlagen. Auch beim zweiten und beim dritten Anlauf schafften sie es nicht, die Burgwartfeste zu erobern.
»Wie sollen wir da Jaxa standhalten, wenn wir uns schon hier eine blutige Nase holen?«, klagte Hancz von Crüchern.
Radogost hatte im Gästezimmer der Brandenburg prächtig geschlafen und konnte sich am nächsten Morgen ausgeruht ans Werk machen, das heißt alles vorbereiten, was Jaxa die Eroberung der Brandenburg ermöglichte, ohne dass viel Blut vergossen werden musste. Ein Knappe trat ein und bat ihn, das Frühstück gemeinsam mit Lynhardt von Schleibnitz einzunehmen.
»Aber gern, ich bin in wenigen Augenblicken zur Stelle.«
Albrechts Burgverwalter hatte Radogost den Ritter Ulric von Huysburg sofort abgenommen. Zum einen war er ohnehin nicht sonderlich helle, zum anderen fiel es Radogost nicht schwer, die Rolle eines deutschen Ritters so perfekt zu spielen, dass auch andere auf ihn hereingefallen wären. Bei den polnischen Fürsten hatte er gelernt, sich höfisch zu benehmen, und die deutsche Sprache beherrschte er so gut, weil er ein paar Jahre bei den Wettinern zugebracht hatte.
»Was gibt es Neues in der Welt?«, fragte Lynhardt von Schleibnitz, als sie sich an einer kleinen Tafel niedergelassen hatten und auf ihre Mehlsuppe warteten.
Radogost gab sich weltmännisch. »Der Kaiser und der Papst bekriegen sich mächtig, und auf dem Reichstag von Besançon werden die Fetzen fliegen.«
Lynhardt von Schleibnitz winkte ab. »Das ist mir doch reichlich egal. Wichtig für mich ist nur, dass wir mit diesem Slawenpack endlich fertig werden.«
Radogost hatte Mühe, ruhig zu bleiben. Seine rechte Hand krampfte sich derart um seinen Becher, dass er befürchten musste, den Verdacht des Burgverwalters zu wecken, so einfältig der auch schien. Darum lachte er schrill und setzte noch einen drauf: »Das kann ja kein Zufall sein, dass wir im Deutschen für Slawe und Sklave fast dasselbe Wort haben. Und daran sollten wir uns halten und die Slawen zu unseren Sklaven machen.«
»Ganz meiner Meinung!«, rief Lynhardt von Schleibnitz und wollte schon zu einer längeren Suada ausholen, als ihm einfiel, dass er vergessen hatte, nach dem Wichtigsten zu fragen. »Du warst doch, hört man, auf der Cöpenicker Burg, um für den Markgrafen herauszubringen, ob dieser Jaxa irgendwann nach Westen ziehen will.«
»Das hat er nicht vor. Ich habe ihn mehrmals belauschen können. Sein Interesse richtet sich gen Süden, den Meißenern und den Thüringern will er an den Kragen.«
Radogost hätte dem Burgverwalter noch einige weitere Ammenmärchen aufgetischt, da erschien ein anderer askanischer Ritter in der Tür und grüßte kurz, ehe er sich wieder entfernte.
»Wer war denn das?«, fragte Radogost.
»Der Mertin von Freckleben.« Der Burgverwalter beugte sich vor, damit die Mägde in der Nähe nicht mithören konnten. »Der ist so geldgierig, dass man ihn schon nicht mehr in die Kirche lässt, weil man Angst hat, dass er den Opferstock aufbricht und plündert.«
Diese Mitteilung war für Radogost Gold wert, und er hatte Mühe, sich seine Freude nicht anmerken zu lassen. Nachdem ihr Mahl beendet war und Lynhardt von Schleibnitz sich auf den Abtritt zurückgezogen hatte, machte er sich sofort auf die Suche nach Mertin von Freckleben. Der Erste, den er fragte, war ein hochaufgeschossener Mann, der vor der Rüstkammer saß und Schach mit sich selber spielte. Das war Hayntz von Helsungen, mit dem er schon am Abend zuvor ein paar Worte gewechselt hatte.
»Wie schaffst du es, dir nicht selbst zu verraten, was Weiß im Schilde führt, wenn du mit deinen schwarzen Figuren vorrückst?«
Hayntz von Helsungen grinste. »Wo andere nur ein Gehirn im Kopf haben, da habe ich zwei – und das eine weiß nicht, was das andere denkt.«
»Wie auch immer – ein jedes Mal, wenn du spielst, bist du der Gewinner.«
»Und zugleich auch der Verlierer. Man müsste einmal die Herren Platon, Sokrates und Aristoteles fragen, wie das von der Philosophie her zu bewerten wäre.« Er fixierte Radogost. »Ulric von Huysburg, es heißt, du seist ein vortrefflicher Schachspieler.«
Radogost zuckte zusammen, denn er kannte nicht einmal den Unterschied zwischen einem Läufer und einem Springer. »Heute Abend gerne und stundenlang, jetzt aber nicht, wo ich mich noch halb im Tiefschlaf befinde.«
»Komm, setz dich einen Augenblick zu mir, ich wollte dich kurz etwas fragen …«
Radogost war misstrauisch geworden, konnte aber die Einladung schlecht ausschlagen. »Ja, bitte?«
»Du erinnerst dich doch noch an Cuntz …«
Der Sprewane geriet ins Schwitzen. »An welchen Cuntz?«
»Na, deinen Knappen, den sie an der Nuthe aus dem Hinterhalt erschossen haben. Das war mein Neffe!«
Radogost stöhnte auf. »Gott, ja … schrecklich!« Er war bleich geworden, und seine Lippen zitterten vor Erregung, denn er war es selber, der Cuntz getötet hatte. Eigentlich hatte er Ulric von Huysburg treffen wollen, aber im Augenblick des Abschusses hatte ihn ein auffliegender Vogel erschreckt, und der Pfeil hatte sein vorgesehenes Ziel verfehlt.
Hayntz von Helsungen tat der andere leid. »Entschuldige bitte, dass ich das alles wieder aufgerührt habe.«
Radogost schloss die Augen. »Wir haben deinen Neffen am Ufer des Flusses ehrenvoll bestattet und ein Kreuz auf seinen Grabhügel gesteckt.« Das hatte er vom anderen Flussufer aus beobachtet. »Es war furchtbar, und es schmerzt auch jetzt noch. Mein herzliches Beileid!«
»Das habe ich dir auszusprechen!«, rief Hayntz von Helsungen.
Sie redeten noch eine Weile über die Sprewanen und Heveller, dann verabschiedete sich Radogost unter dem Vorwand, nach seinem Pferd sehen zu müssen, und suchte weiter nach Mertin von Freckleben. Er fand ihn in der Nähe der Küche, wo er mit einer Schar von Mägden scherzte, und fragte ihn, ob er einen Augenblick stören dürfe.
»Eigentlich habe ich keine Zeit …« Als die Mädchen davongerannt waren, nahm er sich aber Zeit für Radogost. »Ulric von Huysburg. Ich habe schon von dir gehört. Du warst in Cöpenick, um Jaxa auszuforschen. Was plant er denn so?«
»Er plant eine ganze Menge …« Radogost machte eine kleine Pause, um die Spannung zu erhöhen. »Vor allem will er viel Geld einsetzen.«
»Viel Geld?« Mertin von Frecklebens Körper spannte sich.
»Ja, wer von Albrecht abfällt und zu ihm überläuft, der soll reich belohnt werden, mit Gold wie mit Lehen, die viel Geld einbringen.«
In Mertin von Freckleben begann es zu arbeiten. »Wie stellt er sich das im Einzelnen vor?«
»Dass sich der, der für ihn ist, im Kampf zurückhält, wenn er zum Sturm auf die Brandenburg bläst.«
Mertin von Freckleben lachte. »Ach, du bist nur gekommen, um unsere Treue zu Albrecht zu prüfen.«
Radogost musste jetzt Farbe bekennen, auch wenn das Risiko hoch war. »Ich bin schon zu Jaxa übergelaufen«, flüsterte er und griff in sein Wams, um seinen Geldbeutel hervorzuholen. »Der hier ist für dich, wenn du auch …«
Mertin von Freckleben sah sich nach allen Seiten um, dann griff er zu.
Radogost konnte triumphieren. »Und wenn du noch jemanden weißt, der die Zeichen der Zeit erkennt …«
Innerhalb der nächsten Stunde hatte er noch zwei weitere Ritter Albrechts bestochen. Das reichte aber nicht, denn die Deutschen und Slawen, die zum Markgrafen hielten, waren noch immer weitaus in der Überzahl, und Jaxa hätte sich bei einem Angriff auf die Burg nur eine blutige Nase geholt. Radogost musste also zu einem anderen Mittel greifen, und das war der Sud aus giftigen Kräutern, der schon den echten Ulric von Huysburg in Cöpenick außer Gefecht gesetzt hatte. Es galt jetzt, einen günstigen Augenblick abzupassen, sich in die Küche zu schleichen und die betäubende Essenz in alle Krüge und Kannen zu schütten, die beim Mittagsmahl auf die Tafel kommen sollten.
Hayntz von Helsungen krümmte sich auf seinem Lager. Seine Schmerzen wurden immer schlimmer. Dabei hatte er am Mittagsmahl der anderen gar nicht teilgenommen und nichts gegessen und getrunken. Es musste wieder einmal die Galle sein. Er sprang auf, um in die Küche zu laufen und sich einen am Feuer erwärmten Stein zu holen und auf den Leib zu legen.
Nach ein paar Schritten auf dem Burghof hielt er inne, erschrocken und verdutzt, denn überall lagen Ritter, Knappen, Mägde und Knechte wie tot auf dem Boden. Er entdeckte auch Lynhardt von Schleibnitz.
Schnell entschlossen kniete er neben ihm nieder und legte ihm das rechte Ohr auf die Brust. Gott sei Dank, er atmete noch, schlief aber so fest, dass er auch nach heftigem Schütteln nicht aufwachte. Rätselhaft … Grübelnd stand Hayntz von Helsungen da. Dann aber begriff er schlagartig, was hier geschehen war, denn oben auf der Krone des Walls erblickte er den Mann, der sich für den Ritter Ulric von Huysburg ausgegeben hatte, und der setzte eine Fanfare an die Lippen und blies ein Signal. Das konnte nur Männern gelten, die unten standen und warteten, die Burg anzugreifen. Slawen, Jaxa!, schoss es ihm durch den Kopf. Dann war der Mann mit der Fanfare ein Verräter! Außer sich vor Wut griff Hayntz von Helsungen nach einer herumliegenden Lanze und zielte auf den Rücken des Betrügers. Der Wurf gelang, die Lanze bohrte sich in den Rücken des Mannes. Er stürzte zu Boden.
»Ein Überfall!«, schrie Hayntz von Helsungen. »Alle Mann auf die Mauern und ans Tor!«
Doch was sich um ihn scharte, war nur ein kläglicher Haufen – ein paar Männer, die aus den verschiedensten Gründen das Mahl versäumt hatten. Mertin von Freckleben war der einzige Ritter unter ihnen.
Einer der Knappen ergriff das Wort. »Wenn das Jaxa ist, dann sollten wir uns ergeben, er macht uns sonst mit seinen Polen alle nieder.«
»Richtig!«, ließ sich Mertin von Freckleben vernehmen.
Hayntz von Helsungen durchschaute in diesem Augenblick das Spiel, das hier getrieben wurde: Der falsche Ulric von Huysburg hatte einen Teil der Ritter gekauft und den Rest der Burgbesetzung mit einem Kräutertrunk betäubt. Er musste einer von Jaxas engsten Vertrauten sein, und erfuhr der Sprewanenfürst, wer ihn getötet hatte, dann würde es keine Gnade geben.
Hayntz von Helsungen stürzte davon. In dieser Sekunde wusste er noch nicht, was er tun würde: sich in sein Schwert stürzen, sich Jaxa zum Kampfe stellen oder sich irgendwo auf der Burg verstecken und abwarten, bis Albrecht kam.