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ZWEI

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AM MORGEN DES 7. SEPTEMBER schob Konrad Katzmann sein Motorrad vor sich her. Die Glocken von Lockwitz läuteten dazu, wenn auch nicht seinetwegen, denn es war ein Sonntagmorgen. Katzmann, Dresdner Korrespondent der Leipziger Volkszeitung. war unterwegs nach Pirna, weil ihn sein Redakteur gebeten hatte, über den mysteriösen Jagdunfall im Kirnitzschtal zu berichten, dem die Gattin des Sanitätsrates Dr. Florschütz zum Opfer gefallen war.

Katzmann fluchte und schwitzte, denn er schob immerhin das größte von der NSU bis dato gebaute Motorrad, ein Schwergewicht mit 8 PS und 1000 Kubikzentimeter Hubraum. Es verfügte über einen Beiwagen mit Phaetonkarosse, und in dem saß und bellte Harry, ein Terrier, den er vor Jahren aus der Elbe gerettet hatte und der ihn seitdem begleitete.

Katzmann hätte auch ohne diese Panne schlechte Laune gehabt, denn aus ideologischen Gründen hatte er etwas gegen Jäger. Bis ins Mittelalter war die Jagd immer mehr zum Privileg des Adels sowie staatlicher und kirchlicher Würdenträger geworden, und auch in der Weimarer Republik war sie nahezu ausschließlich den oberen Zehntausend vorbehalten – für das gemeine Volk blieb der Kammerjäger. Dazu fiel ihm Der Freischütz ein. Katzmann hatte die Oper zweimal gesehen und konnte sich noch an vieles erinnern: Der Landesfürst und sein Gefolge erschienen auf der Bühne, um dem Probeschuss des Kandidaten für die Erbförsterei beizuwohnen. Der Chor besang die Freuden der Jagd: Was gleicht wohl auf Erden dem Jägervergnügen? Der Landesfürst forderte den Jägerburschen Max auf, den Probeschuss abzulegen und eine Taube vom Baum zu schießen. Max legte an, zielte und drückte ab. Seine Agathe, die genau zu diesem Zeitpunkt mit ihren Brautjungfern das Gelände erreicht hatte, fiel – scheinbar getroffen – zu Boden. Schaut, o schaut, er traf die eigne Braut!

Es gab durchaus eine gewisse Parallele zum vorliegenden Jagdunfall, aber Dr. Florschütz war im Gegensatz zu Max ein gemachter Mann, und so sang Katzmann im Opernstil: «Das mit dem Probeschuss ist absoluter Stuss!» Harry empfand den Gesang seines Herrchens als widerliches Gejaule und begann, heftig zu bellen.

Nach ein paar hundert Metern erreichten sie eine Tankstelle, und einer der jungen Männer dort verstand einiges von Motorrädern.

«Ich bin selbst Rennen gefahren, auf dem Marienberger Dreieck sogar, zuletzt am 9. September 1923. Der Start und das Ziel waren auf der Heinzebank. Die Strecke ging hinunter nach Geringswalde, dann über Wolkenstein hinauf nach Marienberg und von da wieder zurück zur Heinzebank. Durchschnittsgeschwindigkeit achtzig Kilometer pro Stunde. Hinter Gustav Muth bin ich Zweiter geworden, auf NSU.»

«Gratuliere!» Katzmann streckte dem jungen Mann die Hand hin. «Dann können Sie mir ja vielleicht meine Kiste reparieren …»

Das konnte dieser tatsächlich, und nach einer knappen Stunde knatterte Katzmann durch die ruhigen Straßen von Pirna. Seine Maschine schaffte sogar den Anstieg hinauf zum Schloss Sonnenstein, von dem aus er – so hatte man es ihm an der Tankstelle beschrieben – über die Berg-, die Schandauer und die Hohe Straße die Sanitätsrats-Villa an der Doktor-Friedrichs-Höhe erreichen konnte. Er ließ seine Maschine hundert Meter vor Erreichen des Zieles ausrollen, zog den Zündschlüssel ab und hob erst einmal seinen Hund aus dem Beiwagen.

«So, Harry, such dir die schönste Toreinfahrt aus …» Wer hier wohnte, hatte ein Recht darauf, auch einmal mit den beschissenen Seiten des Lebens in Berührung zu kommen.

«Guerre aux châteaux! Paix aux chaumières!»

«Wie?», fragte Harry.

Katzmann lachte. Manchmal hatte er das Gefühl, sein Hund würde mit ihm sprechen. Sicherheitshalber übersetzte er ihm den Spruch aus den Zeiten der Französischen Revolution: «Krieg den Palästen! Friede den Hütten!»

Harry bellte zustimmend und legte postwendend eine wunderschöne Tretmine. Katzmann bedankte sich bei ihm und setzte ihn wieder in den Beiwagen. Was nun? Einen Plan hatte er nicht. Und als ihm nichts einfiel, murmelte er: «Da vertraue ich ganz meiner Intuition.» Ohne ein Hauch von Selbstironie war jeder Mensch unerträglich, und Katzmann wollte immer gut mit sich auskommen. Ein Glück, dass er Brillenträger war! So konnte er seine Sehhilfe erst einmal in die Hand nehmen und putzen. Das brachte Zeit. Er überlegte. Klingelte er jetzt bei Dr. Florschütz, machte garantiert keiner auf. Klar, der Schock. Wer seine Frau versehentlich erschossen hatte, befand sich am nächsten Tag ganz sicher in einem fürchterlichen Zustand und konnte leicht ein Fall für Schloss Sonnenstein werden, die Landesheil- und Pflegeanstalt gleich nebenan.

Katzmann hatte Mitleid mit Dr. Florschütz und nahm sich vor, möglichst behutsam über den Jagdunfall zu berichten. Obwohl … Sanitätsräte, Unternehmer und DVNP-Politiker gehörten nicht gerade zu den Leuten, denen man in der Leipziger Volkszeitung allzu viel Sympathie entgegenbringen durfte. Nun, er musste sich erst einmal ein Bild von diesem Dr. Florschütz machen. Also trat er an den Gartenzaun – eine kunstvolle Schmiedearbeit – und spähte in den Garten. Nichts, kein Mensch, kein Liegestuhl. Es war so still, dass man die Bienen, die Wespen und die Mücken summen hörte. Bis zur Villa, die in toskanischen Farben getüncht war, mochten es dreißig Meter sein, und er hätte gern ein Fernglas bei sich gehabt. Doch das hätte auch nicht viel gebracht, denn vor allen Fenstern waren die dunkelgrünen Jalousien heruntergelassen worden. Er wartete noch ein paar Sekunden, dann drückte er auf den Klingelknopf, der zwar nur aus Messing war, aber glänzte wie echtes Gold. Nichts rührte sich. Auch sein zweiter Versuch war vergeblich. Gott, aus diesem Stillleben hätte nicht einmal ein Pulitzer-Preisträger einen Sensationsbericht machen können!

Harry wurde die Sache zu langweilig, und er begann, heftig zu bellen. Er wollte seinem Herrn unbedingt etwas mitteilen.

«Denk doch mal nach!», übersetzte Katzmann die Gedanken seines Hundes. «Es handelte sich um eine Jagdgesellschaft, es müssen demnach noch andere mit im Kirnitzschtal gewesen sein. Fahr doch mal zum Oberförster und frage den!»

Katzmann bedankte sich bei Harry mit einem Hundekeks und startete durch. Ein Blick auf die Landkarte war nicht vonnöten, er kannte sich in dieser Gegend ganz gut aus. Aus Pirna raus nach Krietzschwitz, dann nach Königstein und immer an der Elbe entlang, bei Bad Schandau über den Fluss hinweg und auf der Kirnitzschtalstraße direkt zum Forsthaus. Es war eine landschaftlich wunderschöne Strecke, und er wunderte sich, dass er für ihre Benutzung keine Vergnügungssteuer zu zahlen hatte.

Er erreichte sein Ziel ohne Zwischenfall und hatte das Glück, dass der Oberförster zu Hause und gerade dabei war, seinen Hunden das Futter in den Zwinger zu bringen. Die Meute gebärdete sich heftig. Das war ja noch schlimmer als auf dem Wochenmarkt, wenn der Händler die letzten Bananen verschenkte! Harry nutzte die Gelegenheit und bellte so laut und heftig mit, dass er sich verschluckte und ihm die Luft wegblieb.

«Mensch, Harry», rief Katzmann, «bloß keine Mund-zu-Mund-Beatmung!» Als sich die Hunde auf ihre Fressnäpfe gestürzt hatten und Ruhe eingekehrt war, ging er auf den Oberförster zu.

«Katzmann, Leipziger Volkszeitung. guten Tag! Entschuldigen Sie die Störung, Herr … Aber Sie werden ahnen, warum ich aus Dresden hergekommen bin …»

«Sicher.» Der Oberförster gab ihm die Hand und stellte sich vor. «Anton Scharrach. Ja, ich war gestern dabei, als der schreckliche Unfall geschehen ist und Frau Doktor Florschütz … Gott, die arme Frau!» Scharrach schloss die Augen und fuhr sich mit der Hand über das Gesicht, als schäme er sich seiner Tränen.

Katzmann schwieg einen Moment, um dem Mann Gelegenheit zu geben, sich wieder zu fassen. «Es muss für Sie alle schrecklich gewesen sein …»

«Wenn einer lange auf dem Krankenbett liegt und man Zeit hat, Abschied zu nehmen, ist es schon schwer genug – wenn aber jemand so mitten aus dem Leben gerissen wird, dann …»

Katzmann merkte, dass Scharrach die Worte fehlten, um seine Gedanken auf den Punkt zu bringen, und fragte ihn, ob es möglich sei, ihn zum Unfallort zu führen.

«Aber gerne.» Scharrach zeigte sich sehr bereitwillig. «Es ist ja Sonntag heute.»

«Wunderbar.» Katzmann bedankte sich. «War denn die Kriminalpolizei schon da? Die ist doch bei solchen Gelegenheiten immer schnell zur Stelle.»

«Ja, aus Pirna ist der Kriminalsekretär Georg Schlunzig gekommen, der hat sich alles zeigen lassen und auch die Flinte von Doktor Florschütz mitgenommen. Der hatte sie sich gerade erst aus London schicken lassen. Sie war ganz neu, und er hatte noch keine Erfahrung damit.»

«Wo steckt er denn jetzt?»

«Doktor Florschütz? Hier bei uns im Forsthaus, im Gästezimmer. Er ist gestern zusammengebrochen, und wir konnten ihn nicht allein nach Hause lassen.»

Katzmann nickte. «Verständlich. Ob ich ihn nachher einmal sprechen kann?»

«Ich glaube schon. Aber gehen wir erst einmal.»

Katzmann nahm Harry an die Leine, und dann zogen sie los. Wenn es nicht Teil seiner Arbeit gewesen wäre, hätte er es als einen gemütlichen Spaziergang mit einem Freund genommen. Scharrach war ein angenehmer Begleiter, und Katzmann hätte gern gewusst, wie er denn über das Bild des Försters in der Gesellschaft dachte. «Einerseits», sagte er, «genießt der Förster bekanntlich ein hohes Ansehen, ist Staatsbeamter und trägt eine wunderschöne Uniform. Auch Max in der Oper Der Freischütz ist ja ganz wild darauf, Förster zu werden. Andererseits gibt es auch viele Romane und Novellen, in denen alle Sympathien auf Seiten des Wilderers, des Wilddiebs sind. Da ist dann der Förster der Böse, meist der hartherzige Handlanger eines ekligen Grafen – wie beispielsweise in Fontanes Quitt. Wie ist das denn bei Ihnen gewesen?»

Scharrach musste nicht lange überlegen. «Mir ist es so ergangen wie dem Max: Ich wollte schon immer Jägerbursche werden, Förster, Oberförster. Bereits als Junge war das meine große Leidenschaft.»

«Aber Sie kommen nicht aus Sachsen, jedenfalls hört man es nicht …»

Scharrach lachte. «Nein, ich komme aus Bentschen, heute Zbąszyn´.»

«Aus Polen also?»

«Nein, als ich 1873 geboren wurde, hat Bentschen zu Deutschland gehört. 1793, nach der zweiten Teilung Polens, war es an Preußen gekommen, 1920 mit dem Versailler Vertrag aber wieder an Polen zurückgefallen. Ich war Oberförster in der preußischen Provinz Posen, dann ab 1914 Vizefeldwebel, das heißt Portepee-Unteroffizier im Brandenburgischen Jägerbatallion Nummer 3, und nach dem Krieg hat es mich dann der Liebe wegen nach Sachsen verschlagen. Die Waltraud, meine Frau, kommt nämlich aus Dresden, genauer gesagt aus Weixdorf. Als die Stelle hier im Kirnitzschtal frei geworden ist, da habe ich mich sofort darum beworben, ja mich förmlich darum gerissen – und sie auch bekommen.»

«Und gefällt es Ihnen hier?»

«Aber selbstredend!», rief Scharrach. «Das ist das Paradies hier.»

«Obwohl es manchmal Jagdunfälle gibt …», wandte Katzmann ein.

Scharrach winkte ab. «In welchem Beruf gibt es keine Unfälle?

Mein Vater hat immer gesagt: Junge, wenn du Pech hast, bricht dir beim Popeln der Finger in der Nase ab. Aber klar, auch mir geht der Tod von Frau Doktor Florschütz an die Nieren, sie war ja eine unheimlich nette Frau. Ich habe die Nacht nicht richtig schlafen können.»

Nun schwiegen sie eine Weile, und erst nachdem sie mehrere hundert Meter gegangen waren, nahm Katzmann den Faden wieder auf. «Für uns Städter hat der Försterberuf vornehmlich romantische Seiten …»

«Ach, das ist überwiegend harte Arbeit! Ich muss mich nicht nur um die Tiere kümmern, sondern auch um die Bäume. Welche müssen gefällt, welche neu gepflanzt werden? Das gefällte Holz muss dann sortiert und für den Käufer termingerecht hergerichtet werden. Da muss ich ganz Kaufmann sein.»

«Und die Jagd, die bringt doch auch was ein?», unterbrach ihn Katzmann. «Wenn die Jagdgesellschaften kommen, die Honoratioren aus dem Umkreis …»

«Das stimmt. Ich bin aber vor allem mit folgenden Fragen beschäftigt: Gibt es zu viele Tiere im Wald, und schaden sie den Bäumen? Welche Tiere müssen in welchem Umfang gejagt werden? Obendrein kümmere ich mich auch noch um die Wege für die Wanderer, die Radfahrer und die Reiter. Sie sehen, Arbeit über Arbeit. Und viel Ärger – wie der Jagdunfall gestern.»

«Da wären wir ja beim Thema. Wie war denn die Reihung der Personen? Wer lief hinter wem?»

«Warten Sie, gleich sind wir an der Stelle angekommen, wo es passiert ist, dann zeige ich Ihnen alles ganz genau.»

«Ich bin gespannt», sagte Katzmann, obwohl ihm schon klar war, dass Gisela Florschütz nicht die Letzte gewesen sein konnte.

Nach ein paar Minuten waren sie an der Unfallstelle angekommen. Es ging hier durch ein Stück sumpfiger Wiese, und es gab nur einen schmalen Pfad, so dass man hintereinandergehen musste. Links und rechts war dichtes Gebüsch, von Westen her ragte ein Stück Laubwald wie eine Landzunge in die Niederung.

«Ganz vorn ist Meinhard Müschen gegangen, unser Apotheker», erklärte ihm Scharrach. «Dann kamen Ludwig Hölzel, unser Rektor, Gerhard Pöhlau, unser Hotelbesitzer, und Heinrich Nobitz, das ist einer von der DNVP. Hinter dem ging dann Gisela Florschütz», er stieß einen tiefen Seufzer aus, «und am Schluss der Sanitätsrat und ich.»

«Sie nicht an der Spitze?», fragte Katzmann.

«Nein, ich gehe immer hinten, bis wir da angekommen sind, wo es mit der Jagd wirklich losgeht. Und der Müschen ist ein großer Wanderer und kennt den Weg bis dorthin genauso gut wie ich.»

«Und Ihre Frau war nicht mit von der Partie?»

Scharrach verneinte. «Waldtraud? Die macht sich nichts daraus.»

Katzmann holte sein Notizbuch hervor und machte sich eine Skizze vom Unfallort und der besagten Reihung der Personen.

«Und was ist dann passiert?»

«Nun, es ging alles ganz schnell …» Scharrach schloss die Augen, um sich besser erinnern zu können. «Doktor Florschütz ist vielleicht zwei Meter vor mir gelaufen und seine Frau mit etwa demselben Abstand vor ihm … Ich habe gesehen, dass der Schnürsenkel an seinem rechten Stiefel aufgegangen ist und wollte ihm das zurufen, da ist er auch schon gestolpert – und dann hat sich plötzlich ein Schuss gelöst … Das schreckliche Ende kennen Sie ja. Gisela ist an Hals und Hinterkopf getroffen worden, die Wirbel sind zertrümmert worden, die Bleikugeln sind ihr ins Gehirn gedrungen und …»

Katzmann drehte sich weg. «Hören Sie auf!»

«Sie wollten es doch ganz genau wissen.»

«So genau nun auch wieder nicht!» Den Obduktionsbericht würde er sich schon irgendwie beschaffen können. Katzmann sah sich noch eine Weile um. Alles war so zertreten, als hätte eine Viehherde geweidet. Klar, die Kriminaltechniker und Photographen waren am Werke gewesen. Bei tödlichen Unfällen mit Schusswaffen gab es immer ein großes Bohei.

«Reicht Ihnen das für einen Sonderbericht?», wollte der Oberförster wissen.

Katzmann zögerte mit einer Antwort. «Mh … Ich hätte schon noch gern mit Doktor Florschütz selbst gesprochen.»

«Das kann ich verstehen. Kommen Sie, wir marschieren zurück ins Forsthaus, und dann sehe ich einmal nach, wie weit er sich schon erholt hat und ob er die Kraft hat, mit Ihnen zu sprechen.»

Während der Oberförster ins Haus ging, setzte sich Katzmann auf die Terrasse, wo auf dem Tisch einiges an schmutzigem Geschirr stehengeblieben war. Ins Auge fiel, dass ein Teller mit Braten und Klößen kaum angerührt worden war. Daneben lagen die Sonnabend und die Sonntagsausgabe des Pirnaer Anzeigers. die vom 6. und 7. September 1924. Katzmann stürzte sich nicht gerade auf die Provinzzeitung, aber neugierig war er doch auf das, was man hier vor den Toren Dresdens für wichtig hielt … Im Palast-Theater Pirna gab es den dritten Teil des Ufa-Films Tragödie der Liebe. und im Volkshaus Pirna konnte man am Sonntag, nachmittags um drei Uhr, ein großes Schubert-Konzert genießen. Die Musiker kamen aus Berlin. Einen Roman hatten sie auch im Blättchen, und zwar den Sportroman Der letzte Start von einem gewissen Otfrid von Hanstein. Erstaunlich wenig war über Pirna selbst zu lesen, aber der Pirnaer Anzeiger war ja auch, wie auf der ersten Seite zu lesen war, das Hauptblatt für das gesamte Gebiet der Sächsischen Schweiz, das Meißener Hochland, das Müglitz- und das Gottleubatal. Katzmann legte die Samstagsausgabe beiseite und griff zur Zeitung vom Sonntag, um zu sehen, ob die bereits ein paar Zeilen über den mysteriösen Jagdunfall im Kirnitzschtal enthielt. Beim ersten Umblättern fand er nichts. Was ihm jedoch auffiel, war eine Beilage mit dem Titel Frauen-Zeitung. Er musste schmunzeln, als er die einzelnen Rubriken las: Was bringt die Herbstmode – Das Sofakissen – Wenn ich hässlich wäre – Mein Junge hilft im Haushalt.

In diesem Augenblick kam die Gattin des Oberförsters aus dem Haus, um den Tisch abzuräumen. Sie begrüßte ihn wortlos mit bloßem Nicken des Kopfes und ließ deutlich erkennen, dass sie kein Gespräch mit ihm beginnen wollte. Sie stellte das schmutzige Geschirr auf ein Tablett und legte die Zeitungen dazu.

Gerade war Waltraud Scharrach im Haus verschwunden, da ließ sich Dr. Florschütz blicken und setzte sich etwas abseits an einen zweiten Tisch. Er sah müde aus, und sein Schritt war etwas schleppend, insgesamt aber machte er doch einen recht gefassten Eindruck. Katzmann hatte dennoch Hemmungen, ihn anzusprechen. Er war kein Pfarrer und keiner dieser neumodischen Psychologen. «Mein herzliches Beileid» konnte er schlecht sagen, seine Frau war nicht eines natürlichen Todes gestorben – er hatte sie ja selbst getötet.

Scharrach kam aus dem Haus und nahm Katzmann die Arbeit ab, indem er ihn vorstellte.

«Konrad Katzmann, Zeitungsschreiber aus Dresden.» Und Scharrach fragte Dr. Florschütz auch, ob er zu einem kurzen Gespräch bereit sei.

«Ja, wenn es unbedingt sein muss.»

Katzmann näherte sich mit einer angedeuteten Verbeugung, gab Dr. Florschütz die Hand und murmelte: «Sie haben mein volles Mitgefühl, Herr Sanitätsrat.»

«Danke.» Dr. Florschütz forderte ihn mit einer knappen Handbewegung auf, sich zu ihm zu setzen. «Es ist ja klar, dass sich die Presse auf mich stürzen wird.»

«Die Menschen wollen Anteil nehmen …»

«Schreiben Sie, junger Mann: Ich habe im Krieg viel Schreckliches erlebt, habe Hunderte von Menschen vor mir sterben sehen, auch unter meinen Händen, doch die eigene, innig geliebte Frau …» Er musste schlucken, seine Stimme versagte. «Und dann noch durch mein eigenes Gewehr, mein Gott!»

Katzmann schrieb in sein Notizbuch, dass der Mann nur noch ein einziges Häufchen Elend sei. Verständlich! Einen schwereren Schicksalsschlag kann man sich nicht vorstellen, als den Menschen, den man vor allen anderen liebt, mit eigener Hand getötet zu haben.

Scharrach zog Katzmann beiseite und flüsterte ihm zu, er möge das Gespräch doch lieber an dieser Stelle abbrechen, er habe Angst um Dr. Florschütz. «Nur nicht wieder alles aufrühren, er kann das nicht mehr ertragen. Ich habe schon alle Waffen fest verschlossen, damit er sich nicht selbst etwas antut.»

Katzmann seufzte. «Ach, ist das alles ein Elend! Am besten ziehe ich mich jetzt erst einmal zurück und komme vielleicht morgen wieder. Aber erst muss ich mit meinem Hund, der schon lange im Beiwagen wartet, noch eine kleine Runde drehen … »

Katzmann holte Harry, und sie machten sich auf den Weg in den Wald. Katzmann schauderte es noch immer. Wenn er sich vorstellte, sein Vater hätte seine Mutter bei einem Jagdausflug erschossen … Welch unendliches Leid hätte das über alle gebracht! In Gedanken versunken, erschrak er, als er plötzlich Schritte hinter sich hörte. Als er sich umdrehte, erkannte er die Frau des Oberförsters. War sie ihm mit Absicht gefolgt – oder hatte sie zufällig denselben Weg wie er genommen? Er blieb stehen und nahm Harry, der zu kläffen begann, fester an die Leine.

«Einen Augenblick, Herr Katzmann.»

«Ja, was ist?»

«Ich hätte Sie gern einmal unter vier Augen gesprochen», sagte Waltraud Scharrach und sah sich dabei achtsam nach allen Seiten um.

Katzmann war gespannt. «Geht es um den Jagdunfall gestern?»

«Ja …» Sie mochte wohl nicht gleich mit der Tür ins Haus fallen. «Wie fanden Sie denn Doktor Florschütz?»

«Ein sehr sympathischer Mensch … Ein Mann, der einem unendlich leidtun kann … Ein fürchterliches Schicksal! Und Angehörige hat er auch keine mehr, die ihm Trost spenden könnten.»

«Doch, er hat eine Tochter aus erster Ehe, die Gerda. Aber die lebt in Berlin, und er hat keinerlei Kontakt zu ihr.»

Katzmann horchte auf. «Er war schon mal verheiratet?»

«Nicht nur einmal!» Waltraud Scharrach unternahm einen zweiten Anlauf, um zum Eigentlichen zu kommen. «Ich glaube, ich sollte Ihnen die Augen öffnen …»

Katzmann konnte seiner Spannung nur Herr werden, indem er sich bückte, um sich eine Blaubeere abzupflücken und in den Mund zu stecken. «Ich höre …»

Waltraud Scharrach schlug einen Ton an, der eher leicht und ironisch und ohne jegliche Verbissenheit war, was ihre Worte umso wirkungsvoller werden ließ. «Ich weiß nicht, aber das ist nun schon die dritte Frau, die ihm wegstirbt. Alle nach Unfällen und nachdem sie ihm alles vererbt hatten, was zu vererben war. Und das war immer eine ganze Menge … Ich bin gespannt, wie ihm die vierte abhandenkommen wird. Vielleicht gibt er im Pirnaer Blättchen eine Anzeige auf: Suche für zwei bis drei Jahre vermögende Gattin – Unfalltod garantiert.»

Später sollte Konrad Katzmann sagen, dass bei ihm in diesem Augenblick die Alarmglocken geschrillt hätten. Das hatten sie nicht getan, er hatte sich nur plötzlich an das Märchen vom König Blaubart erinnert, das sich tief in sein Gedächtnis eingegraben hatte.

Der fremde Ritter nämlich hatte einen ganz blauen Bart, und vor dem hatte sie ein Grauen und es ward ihr unheimlich zu Muth, so oft sie ihn ansah … Allein am Morgen des vierten Tags konnte sie es nicht mehr über’s Herz bringen und schlich sich heimlich mit dem Schlüßel hin und steckte ihn in das Schloß und öffnete die Thüre. Aber wie entsetzte sie sich da, als das ganze Zimmer voller Leichen lag, und das waren lauter Weiber.

Der schwarze Witwer

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