Читать книгу Der Lustmörder - Horst Bosetzky, Uwe Schimunek - Страница 8
VIER
Оглавление«MÜHSAM NÄHRT SICH DAS EICHHÖRNCHEN», sagte Gustav Galgenberg, bevor er sich daranmachte, im Kriegsministerium alle Namenslisten der Freikorps, die in die Reichswehr eingegliedert worden waren, auf die Namen Schlucht, Schluchter und Schluchtmann hin durchzusehen.
«Vielleicht hat sich der Bruda ooch jeirrt, und sie hat den Mann Schlucki jenannt, weila so viel jesoffen hat.»
Kappe schüttelte den Kopf. «Nein, er hat ganz deutlich Schluchti gesagt.»
Er selber machte sich daran, die Freundinnen und Kolleginnen der Ermordeten nach dem mysteriösen Schluchti zu fragen - Eltern hatte sie keine mehr.
Ihre beste Freundin, so hatte ihr Bruder zu Protokoll gegeben, sei eine gewisse Vera Orschel gewesen, Verkäuferin in der Hutabteilung des KaDeWe. Kappe machte sich auf zum Wittenbergplatz.
Das Kaufhaus des Westens stand nun schon dreizehn Jahre und versuchte, wieder an den Glanz der Vorkriegszeit anzuknüpfen. Als Kappe das Gebäude betrat, bekam er fast ein wenig Atembeklemmungen, denn dieser Luxus war absolut nicht seine Welt. Wer in Wendisch Rietz aufgewachsen war und als Kriminalkommissar sein Geld verdiente, kaufte in aller Regel im Laden um die Ecke ein. Aber das konnte sich noch ändern, denn Klara hatte ja diesen gewissen Hang zum Höheren …
Er trat an die Information und suchte nach der Abteilung für Damenhüte. Sie war schnell gefunden. Ein feudaler Lift trug ihn nach oben. Suchend ging er umher und freute sich, dass man ihn misstrauisch musterte. Irgendwie juckte es ihn in den Fingern, sich eines dieser komischen Gebilde aufzusetzen. Manche erinnerten ihn an eine Form für Napfkuchen.
Eine der Verkäuferinnen hielt es nicht länger auf ihrem Platz, und sie kam auf ihn zu.
«Kann ich Ihnen irgendwie behilflich sein, mein Herr?» Kappe konnte sich ein gewisses Grinsen nicht verkneifen. «Ich glaube schon …»
«Ich muss doch sehr bitten!»
«Wieso?» Er präsentierte ihr seine Dienstmarke. «Ich bin beruflich hier und hätte gern ein Fräulein Orschel gesprochen.»
«Das bin ich persönlich. Es geht sicherlich um meine Freundin …»
Kappe staunte nicht schlecht. Vera Orschel war offenbar ebenso intelligent wie hübsch. «… um Erna Reczyn, ja.»
«Schrecklich!»
Kappe nickte. «Es ist der fünfte Fall mit derselben Handschrift, und da sind wir natürlich sehr interessiert an …» Er stockte. Das lag vor allem an dem Parfum und dem Lippenstift der jungen Dame. Klara kam ihm dagegen wie ein Landei vor.
«Woran?»
«An … an den Männern, mit denen Fräulein Reczyn Kontakt hatte, denn eine Eifersuchtstat ist nicht ausgeschlossen.» Das durfte er verraten, das hatte auch in den Zeitungen gestanden.
Vera Orschel überlegte einen Augenblick. «Zuletzt hatte sie nur diesen Tischlermeister mit dem Haus draußen in Hermsdorf, diesen Kittlitz, aber vorher … Wenn die Männer von der Front gekommen sind, dann …»
Kappe hakte nach. «Es waren also auch Soldaten darunter?»
«Ja, das auch.»
«Nennen Sie doch mal bitte ein paar.»
Sie kam seiner Bitte nach, und tatsächlich fiel auch der Name Schluchti.
Kappes Blutdruck schnellte nach oben. «Hieß der so - oder war das ein Spitzname?»
«Das war sein Spitzname.»
«Und wie hieß er wirklich?»
«Keine Ahnung. Ich weiß nur, dass er bei den Baltikumstruppen war und fürchterlich mit seinem Orden angegeben hat.»
Kappe hatte Mühe, sich seine Freude über diese Auskunft nicht anmerken zu lassen. «Ist er Ihnen dadurch aufgefallen, dass er besonders eifersüchtig war?»
Vera Orschel zuckte zurück. «Sie meinen, dass er Erna deswegen getötet hat?»
«Wie gesagt: Wir halten es nicht für ausgeschlossen.» Sie zögerte mit einer Antwort. «Ich weiß nicht …»
Kappe ahnte den Grund: Auch sie hatte ganz bestimmte Sympathien für diesen Schluchti gehegt und wollte ihn nicht ans Messer liefern. «Aber eine Photographie von Erna und ihm haben Sie doch ganz sicher.»
«Nein!»
«Fräulein Orschel, ich kann Sie auch der Mittäterschaft verdächtigen und mitnehmen zum Alexanderplatz, damit sich meine Kollegen mal ein bisschen mehr mit Ihnen beschäftigen.»
Das wirkte, und sie schien den Tränen nahe. «Ich kenne ihn doch gar nicht weiter.»
«Aber Sie haben eine Photographie von ihm?»
«Eine ganz kleine aber nur, darauf ist er kaum zu erkennen.»
«Und wo haben Sie die?», wollte Kappe wissen.
«Bei mir zu Hause.»
«Dann holen Sie sie bitte.»
Vera Orschel zeigte auf ihren Abteilungsleiter. «Ich kann hier nicht weg.»
«Dann komme ich heute Abend bei Ihnen vorbei. Wo ist das, bitte?»
«In der Barbarossastraße, gleich am Bayerischen Platz.»
Um sieben Uhr stand Hermann Kappe vor ihrer Wohnungstür, und als er eine Stunde später wieder ging, hatte er nicht nur die begehrte Photographie in der Brusttasche stecken, sondern auch einiges an amourösen Erfahrungen gesammelt. Nicht dass es zum Geschlechtsverkehr gekommen wäre - sie hatten sich nur heftig geküsst und umarmt und schließlich intime Berührungen sehr direkter Art ausgetauscht. Fremdgehen konnte man das seiner Meinung nach beim besten Willen nicht nennen, und so hielt sich sein schlechtes Gewissen Klara gegenüber auch in Grenzen. Gott, man war nun schon seit vier Jahren verheiratet - und es war ja nicht seine Schuld, denn Vera Orschel hatte ihn in klassischer Manier verführt.
In den nächsten Tagen kamen Kappe und Galgenberg nicht weiter, denn es begannen die «Tage der Säbelherrschaft», wie das Berliner Tageblatt titelte.
In der Abendausgabe von Freitag, dem 12. März 1920, war noch von der Vereitelung eines reaktionären Putschversuchs die Rede gewesen: In Berlin hat seit einiger Zeit das Treiben einer rechtsradikalen Clique eingesetzt, deren Bestrebungen auf gesetz- und verfassungswidrigen Umsturz hinauslaufen. Dem Ganzen wurde keine Chance eingeräumt, denn selbst weite Kreise altkonservativer Richtung lehnen die Desperadopolitik dieser rechtsspartacistischen Clique restlos ab. Dennoch werde die Reichsregierung Vorsicht walten lassen.
Am nächsten Tag musste das Berliner Tageblatt dann zugeben, die Lage falsch eingeschätzt zu haben: Die im gestrigen Abendblatt von uns mitgeteilten Vorgänge über einen reaktionären Putschversuch bleiben weit hinter bereits vollzogenen Tatsachen zurück. In der Nacht vom 12. auf den 13. März waren die in Döberitz untergebrachten Truppenteile der Brigaden Ehrhardt und Löwenfeld in Berlin einmarschiert, ohne dass die Reichswehr Widerstand geleistet hätte. Der Generallandschaftsdirektor Dr. Wolfgang Kapp übernahm als Reichskanzler und preußischer Ministerpräsident die gesamte Staatsgewalt. Der General der Infanterie Walther Freiherr von Lüttwitz wurde militärischer Oberbefehlshaber und Reichswehrminister.
Das Erste, was die Kapp-Regierung tat, war, die Zeitungsredaktionen Berlins militärisch zu besetzen, um das Erscheinen der Blätter unmöglich zu machen. Auch das Berliner Tageblatt war betroffen und musste bereits am Sonnabendvormittag sein Erscheinen einstellen, einerseits weil die Kapp-Leute dies untersagten, andererseits weil die Arbeiter in den Streik getreten waren.
So waren sowohl die Kapp-Regierung als auch die legale Reichsregierung gezwungen, auf Flugblätter auszuweichen, wenn sie dem Volke etwas mitteilen wollten.
Als Hermann Kappe am Sonnabend, dem 13. März, zum Polizeipräsidium fuhr, wehten ihm von den amtlichen Gebäuden die alten Reichsfahnen, die Kriegsflagge der Marinebrigade und schwarz-weiß-rote Fahnen entgegen. Stacheldrahtverhaue, Maschinengewehre, Feldgeschütze, starke Militärpatrouillen, umherjagende Automobile und kampfbereite Offiziere und Soldaten machten ihm bewusst, dass der befürchtete Militärputsch Wirklichkeit geworden war.
Der Krieg hatte bei der Polizei weder die patriotische Begeisterung der Frontsoldaten noch ein besonderes Gefühl der Verbundenheit mit Hindenburg und Ludendorff hervorrufen können, und auch den Kapp-Putschisten stand man gleichgültig gegenüber.
«Unsam Kappe ham se det E hinten jeklaut, und jetz issa Reichskanzla!», rief Galgenberg. «Hut ab, meine Herren!»
Kappe war die weitgehende Gleichheit der Namen geradezu peinlich. «Soll ich mich umtaufen lassen?»
«Ja, in Lüttwitz!»
Noch stärker als Kappe war Ernst Gennat betroffen, denn wie viele andere Betriebe und Geschäfte hatte auch die Konditorei, in der er seine Torte kaufte, schon geschlossen, und das Gerücht machte die Runde, dass die beiden sozialdemokratischen Gruppierungen, die SPD und die USPD, im Einvernehmen mit den Führern der Deutschen Demokratischen Partei und den Gewerkschaften den Generalstreik proklamiert hätten.
«Dann streike ick ooch», sagte Galgenberg.
«Beamte dürfen nicht streiken», erklärte Dr. Kniehase.
«Beim Generalstreik schon», belehrte ihn Galgenberg. «Det heißt ja deswegen so, weil da ooch ’n General in Streik treten darf - und dann darf ick det ooch.»
«Ein richtiger Kriminaler ist immer im Dienst», sagte Ernst Gennat. «Aber nachdenken über seine Fälle kann man auch zu Hause. Also: Auf Wiedersehen, meine Herren!»
Kappe schwankte. Einerseits war es ihm ein Herzensbedürfnis, sich in die Front gegen die Putschisten einzureihen, andererseits trieb es ihn, die Jagd nach dem Mörder aus dem Landkreis Niederbarnim fortzusetzen. Jeder Tag, der ihnen verlorenging, konnte das Todesurteil für ein sechstes Liebespaar bedeuten.
Unschlüssig verließ er das Polizeipräsidium und ließ sich mit der Menge zum Bahnhof Alexanderplatz treiben. Wer dort gerade von der Stadtbahn kam, war Theodor Trampe, sein früherer Nachbar aus der Waldemarstraße.
Trampe war seit Jahren Funktionär bei der SPD und hatte es inzwischen zum Abgeordneten in der Kreuzberger Bezirksverordnetenversammlung gebracht. Von Beruf war er Elektroinstallateur und verdiente, da er sich selbständig gemacht hatte, nicht schlecht.
«Natürlich streike ich auch», sagte Trampe, nachdem er Kappe begrüßt hatte. «Aber ich werde dennoch nicht zu Hause sitzen, sondern durch die Stadt streifen, um zu sehen, was passiert. Vielleicht kann man irgendwo eingreifen, um zu retten, was noch zu retten ist.»
Kappe nickte. «Das hab ich mir auch gedacht.»
Doch als sie in der Königstraße einen alten Bekannten trafen, Kappes alten Schulfreund Ludwig Latzke, der es in Berlin zum Malermeister gebracht hatte, war es mit ihrem Eifer vorbei, und sie gingen in die nächstbeste Kneipe, um eine Runde Skat zu spielen. Es wurde spät.
«Morgen früh stürzen wir uns aber ins Getümmel», sagte Trampe, als sie sich am Mariannenplatz verabschiedeten, bevor Kappe sich zu Weib und Kind nach oben schlich.
Am Sonntagmorgen hielt ihm Trampe einen Aufruf der Regierung Gustav Bauer an das deutsche Volk hin.
Es ist nicht wahr, daß die verfassungsmäßige Reichsregierung abgedankt hat. Die verfassungsmäßige Reichsregierung denkt nicht daran, abzudanken, sie hat nur dasselbe getan, was sie im Februar 1919 tat, als sie nach Weimar übersiedelte. Um ruhig und klar arbeiten zu können, ist sie nach Dresden übergesiedelt und nimmt mit dem Zusammentritt der Nationalversammlung ihren Sitz in Stuttgart. Was in Berlin vorgeht, ist eine Köpenickiade im Großen … Für die Köpenick-Regierung besteht keine Möglichkeit zu regieren. Ihr Gebäude ist innen hohl, sie kann weder Kohlen noch Lebensmittel schaffen. Ohne Arbeiter kann man nicht regieren … In wenigen Tagen bricht dieses System zusammen. Wer es unterstützt, zieht den Fluch der Verantwortung auf sich. Beamte, Euch bindet nicht nur die politische Einsicht, sondern auch der Eid der Verfassung. Ihr habt nur den Befehlen der verfassungsmäßigen Reichsregierung zu gehorchen. Wer die neue Regierung unterstützt, bricht seinen Eid … Sorge jeder dafür, daß diese Militärdiktatur so schnell wie möglich zusammenbricht.
Trampe hielt es für richtig, wie der Genosse Bauer gehandelt hatte, Kappe dagegen hatte seine Bedenken.
«Man kann es auch Feigheit vor dem Feinde nennen.»
«Wenn man auf diese Art und Weise aber einen Bürgerkrieg verhindern kann!», rief Trampe.
«Kann man das wirklich?», fragte Kappe.
Auch ihn hielt es nicht in der engen Wohnung am Mariannenplatz, und gern schloss er sich Trampe an, um durch Berlin zu streifen und die Geschehnisse aus nächster Nähe zu verfolgen. Ungefährlich war das nicht, aber Kappe glaubte an seinen Schutzengel. Sie hatten sich ihre bequemsten Schuhe angezogen, denn Straßen- und Hochbahn hatten den Betrieb bis zum Mittag eingestellt, und auch die Omnibusse fuhren nicht mehr. Nur auf der Stadtbahn sollten hin und wieder, wenn auch in großen Abständen, Züge fahren.
Klara sah es gar nicht gern, dass ihr Mann das Haus verließ.
«Du weißt doch, Hermann: Wer sich selbst in Gefahr begibt, kommt darin um.»
Trampe, der nach oben gestiegen war, um Kappe abzuholen, lachte. «Die meisten Menschen kommen um, wenn sie im Bett liegen.»
«Besonders wenn es sich um Liebespaare handelt», brummte Kappe.
Ihre Portiersfrau, die gerade auf dem Weg zum Dachboden war, blieb stehen und lachte. «Mir kann det nich passieren, ick habe schon lange entsagt.»
«Das werde ich auch bald tun», murmelte Kappe und dachte dabei an Klaras Unmut, wenn er mehr wollte als heiße Küsse. Seit Margarete auf der Welt war, erst recht aber, seit seine Frau zum zweiten Mal schwanger war, gestattete sie nur noch, dass er sich an ihrem Körper rieb, und auch das nur unter hörbarem Murren.
In der Innenstadt war es noch ruhig, aber die Menschen waren so erregt und standen den Putschtruppen so ablehnend und hasserfüllt gegenüber, dass Zusammenstöße unvermeidlich erschienen.
«Ich dachte, das hätten wir schon alles hinter uns», sagte Trampe.
«Tja, das ist wohl wie mit der Hydra», meinte Kappe. «Schlägt man einen Kopf ab, wächst ein anderer nach.»
Der Tag verging, ohne dass etwas geschah, was sich für immer in ihr Gedächtnis eingebrannt hätte. In den Abendstunden lagen die Straßen in tiefstem Dunkel. Die Restaurants hatten durchweg geschlossen, da die Kellner dem Streikbeschluss gefolgt waren. Hin und wieder hörten sie in der Ferne einzelne Schüsse.
Gegen neun Uhr abends waren sie zurück, und Klara wie auch Trampes Familie konnten aufatmen.
Strom gab es keinen mehr, da auch die Kraftwerke bestreikt wurden und die Notversorgung - in Gang gehalten von Kräften der Technischen Nothilfe und Schülern - nur für Krankenhäuser und andere öffentliche Einrichtungen reichte. Klara hielt ein paar Kerzen bereit.
«Aber nicht unnütz brennen lassen und vor dem Einschlafen auspusten!»
Wasser gab es auch nicht mehr. Kappe hatte sich in weiser Voraussicht einen Eimer abgefüllt, um etwas zum Trinken zu haben und beim Harnlassen nachspülen zu können.
«Für das große Geschäft gehen wir aber zum Görlitzer Bahnhof oder in die Büsche!», mahnte Klara.
Es gibt Schlimmeres, sagte sich Kappe. Er brauchte nur daran zu denken, was Freunde und Kollegen im Krieg erlebt hatten. Dagegen waren die Tage im bestreikten Berlin die reinste Sommerfrische.
Er flüchtete sich ins Bett und schaffte es sogar, schnell einzuschlafen und das ganze Elend Deutschlands zu vergessen.
Der Montag zog herauf, der 15. März. Der Generalstreik lähmte alles gesellschaftliche Leben. Außer den Milchzügen und zwei Kohlentransporten kam in Berlin nichts mehr an. Auch die Post wurde nicht mehr zugestellt.
Kappe traf die Portiersfrau beim Anstehen vor dem Bäckerladen in der Manteuffelstraße.
«Beeil’n Se sich ma, sonst is allet ausvakooft.»
Neben Kappe wartete Anna Matuschewski, die Kohlenhändlerin von gegenüber. Sie berichtete, dass die Warenhäuser kurz nach der Eröffnung alle wieder geschlossen hatten. «O du mein himmlischer Herrgott, was soll nur aus uns werden?»
«Jetzt haben Se uns ooch noch det Jas abjedreht!», rief jemand oben aus dem Fenster.
«Scheibenkleister», murmelte Rylski, der Rentner, der hinter Kappe stand. «Ick wollte ma nachher jrade vajiften. Nicht mal den Spaß jönnen Se eim noch.»
Kappe bekam eines der letzten Brote, und da sie noch ein bisschen Butter und Marmelade aus Wendisch Rietz im Schrank stehen hatten, konnten sie einigermaßen feudal frühstücken.
Bei den Trampes, wo ein jedes der drei Kinder in die Kategorie «Fresssack» einzustufen war, gab es schon wieder Tränen. «Mama, ich hab noch so’n Hunger!»
Trampe zog los, um zu sehen, ob er irgendwo etwas organisieren konnte. Wieder schloss Kappe sich ihm an.
«Bei so vielen Soldaten auf einem Haufen kann ich die ja gleich mal fragen, ob sie den hier kennen.» Er zeigte Trampe das Photo, auf dem Erna Reczyns heißblütiger Liebhaber zu sehen war.
«Der hier … genannt Schluchti. Wir haben zwar Streik, aber … Bin ich nun gleich ein Streikbrecher?»
«An sich schon …»
Die Stimmung in Berlin schien immer explosiver zu werden. Den ersten Zusammenstoß erlebten sie am Görlitzer Bahnhof. Dort wollte eine Mannschaft der Technischen Nothilfe eine Wasserpumpe reparieren, doch die Anwohner ließen dies nicht zu, weil es sich dabei um deutschnationale Schüler und Studenten handelte.
«Haut ab hier, ihr Packzeug!» Die ersten Steine flogen.
Der Fahrer riss eine Pistole hervor und begann zu feuern. Kappe und Trampe schafften es nicht mehr, in den nächstgelegenen Hauseingang zu flüchten.
An diesem 15. März 1920 und an den nächsten beiden Tagen geschah noch viel in Berlin.
In der Steglitzer Schloßstraße wurden bei einem Streit zwischen Militär und Zivilisten acht Menschen getötet.
Am Halleschen Tor überfiel die Menge einen Militärlastwagen. Die Soldaten feuerten, mehrere Tote blieben am Platze, darunter ein junges Mädchen.
Ein scharfer Zusammenstoß erfolgte an der Ecke Invaliden- und Brunnenstraße. Eine Militärabteilung, die mit klingendem Spiel durch die Straßen zog, wurde von der Menge mit Steinen und Handgranaten beworfen, einigen Soldaten wurden die Waffen entrissen. Truppen mit Maschinengewehren und Flammenwerfern eilten zu Hilfe und eröffneten ein scharfes Gewehrfeuer. Vier Menschen wurden getötet.
In der Rheinstraße in Friedenau wurden nach einem Streit mit dem Militär vier Zivilisten von einem Maschinengewehr niedergemäht.
Am Dienstag, dem 16. März, ging es ruhiger zu, und es schien, als kämen alle ein wenig zur Besinnung.
Der Streik hatte sich noch verschärft. Mit Ausnahme der Milchzüge erreichte kein Fernzug das Berliner Stadtgebiet. Fast alle Verkehrsmittel waren ausgefallen, selbst die «wilden» Fuhrwerke waren diesmal nur spärlich zu sehen. Die meisten wurden zum Umkehren gezwungen, oder die Pferde wurden ihnen ausgespannt. Wenige Droschken fuhren, und dies nur zu horrenden Preisen. Die Elektrizitätsversorgung funktionierte nur mangelhaft, die Gasversorgung in den Häusern stockte gänzlich.
In den Mittagsstunden wurde der Leutnant Barth, der zur Besatzung der Reichsdruckerei gehörte, überfallen und von der Ritterbrücke ins Wasser geworfen. Es gelang der Polizei, ihn zu retten.
An der Oranienbrücke wurde der Revolverdreher Baltzuweit, der mit einem Offizier in Streit geraten war, von diesem erschossen.
Am Friedrich-Wilhelm-Platz warfen zwei Soldaten Handgranaten. Einem Zivilisten wurde bei der Explosion ein Arm zerrissen.
Am Mittwoch, dem 17. März, kam es zu neuen Auseinandersetzungen zwischen dem Volk und dem Militär, obwohl die Gewissheit zunahm, dass die letzten Stunden der Säbelherrschaft angebrochen waren.
Ein heftiger Kampf entbrannte am Kottbusser Tor. Gegen neun Uhr versammelten sich hier sechshundert bis siebenhundert Menschen, die an der Admiralstraße eine Barrikade errichteten. Eine Patrouille der Sicherheitspolizei, die die Menge auseinandertreiben wollte, wurde zurückgeschlagen. Daraufhin erschien eine Patrouille der Reichswehr. Schnell war sie von der Menge umringt. Man griff sich einige Soldaten und warf sie in den Landwehrkanal. Hierauf wurde eine starke Abteilung der Reichswehr mit einem Minenwerfer entsandt. Aus fünfhundert Metern Entfernung feuerte das Geschütz eine schwere Mine ab, die unweit der Hochbahn auf das Straßenpflaster fiel und dort explodierte. Zwölf Menschen wurden auf der Stelle zerrissen, acht andere schwer verletzt. Alle, die in der Nähe standen, trugen Verletzungen durch Geschosssplitter davon. Unter furchtbaren Schreien stob die Menge auseinander. Zurück blieben ein Krater auf dem Fahrdamm, verbogene Straßenbahnschienen, herabgerissene Oberleitungen und verformte Träger des Hochbahnviadukts.
Hermann Kappe und Theodor Trampe umarmten sich auf dem Mariannenplatz. «Hurra, wir haben gesiegt!» Die nur hundert Stunden währende Herrschaft der Putschregierung war beendet, Dr. Wolfgang Kapp und General Freiherr von Lüttwitz waren von ihren Ämtern zurückgetreten.
«Wann werden die aufrührerischen Truppen abziehen?», fragte Kappe.
«Na, hoffentlich noch heute.»
Heute, das war Donnerstag, der 18. März. Nachdem ihnen am Montag die Kugeln dicht am Kopf vorbeigeflogen waren, wagten sie sich erst heute wieder auf die Straße hinunter.
Möglicherweise zu früh, denn gleich nebenan in der Wrangelkaserne gab es einen gewaltigen Tumult, als einige hundert Kommunisten versuchten, Waffen der dort einquartierten Sicherheitspolizei an sich zu bringen, was aber misslang.
«Los!», schrie einer beim Vorbeilaufen. «Zum Hermannplatz, da wird noch jekämpft!»
Kappe und Trampe ließen sich nicht mitreißen. Später erfuhren sie, dass bei den Auseinandersetzungen dort ein Offizier getötet und zwei Soldaten schwer verletzt worden waren.
Kappe holte das Photo aus der Tasche, das ihm Vera Orschel so liebevoll überlassen hatte. «Ich bin ja immer noch auf der Suche nach diesem Schluchti hier. Wie auch immer er heißt, er soll Soldat bei den Baltikumstruppen sein oder zumindest gewesen sein.»
«Eilen wir doch zu den Gebäuden, in denen sie untergebracht waren», schlug Trampe vor. «Fragen kostet ja nichts. Du solltest nur nicht sagen, dass du den Mann als Doppelmörder suchst.»
«Nein, nein, das ist mein Bruder, der als vermisst gemeldet worden ist.»
Sie machten sich auf den Weg in die Innenstadt. Die Nervosität der Menschen auf den Straßen war geradezu mit Händen greifbar. Zahllose Gerüchte über angeblich bevorstehende Aktionen der Kommunisten schwirrten umher. Die antisemitischen und nationalistischen Wanderredner waren allerdings von den Plätzen verschwunden, was Kappe und Trampe aufatmen ließ. Doch die Döberitzer Putschisten saßen noch immer - wie die beiden schnell feststellen konnten - in den öffentlichen Gebäuden, und ihre Fahnen wehten weiterhin von den Dächern der besetzten Häuser. Wenigstens standen auf dem Potsdamer Platz wieder blaue Schutzleute und keine Kapp-Soldaten mehr.
«Mir waren die Blauen nie sympathisch», sagte Trampe, «heute aber könnte ich ihnen um den Hals fallen.»
An der Potsdamer Brücke standen in langen Kolonnen und zum Abmarsch bereit Kanonen, hoch bepackte Lastwagen und mit Pferden bespannte Proviantwagen. Eine große Menschenmenge hatte sich angesammelt und jubelte lauthals. Spott ergoss sich über die Soldaten. Einige verloren die Nerven und schossen über die Köpfe der Leute hinweg.
Kappe und Trampe warfen sich auf den Boden und verfluchten sich, dass sie nicht zu Hause geblieben waren. Am nördlichen Ufer des Landwehrkanals liefen sie zur Königin-Augusta-Straße, wo die Garnison des Reichsmarineamtes aufmarschierte. Offiziere, den Sturmhelm auf dem Kopf, die Pistolen im Gürtel, gingen an den Reihen der marschfertigen Truppen entlang.
«Wir ziehen jetzt nach Lichterfelde!», rief einer. «Wenn ihr unterwegs angepöbelt werdet, dann rücksichtslos schießen!»
Kappe und Trampe machten, dass sie weiterkamen. Irgendwie gelang es ihnen auch, der Menschenmenge, von der sie mitgerissen wurden wie Hölzchen in einem wild schäumenden Gebirgsbach, zu entkommen. Sie strebten ständig zum Rand hin. Schließlich waren sie frei und liefen durch den Tiergarten Richtung Brandenburger Tor und Unter den Linden.
Dort fanden sie gegen vier Uhr nachmittags verschiedene Militärabteilungen versammelt. Ein Kommandeur hielt gerade eine Ansprache, die mit einer Wendung endete, welche Trampe die Zornesröte ins Gesicht trieb: «Da die von der Mehrheit des Volkes gewählte Regierung unserer Dienste nicht mehr bedarf, wollen wir wieder in unsere Quartiere zurückkehren.»
Kappe wollte die günstige Gelegenheit nutzen und begann, Trampe immer neben sich, den wartenden Soldaten das mitgebrachte Photo zu zeigen.
«Das hier ist mein Bruder. Den suche ich ganz verzweifelt. Er war im Detachement von Randow, hat auch das Kreuz bekommen. Sie haben ihn alle Schluchti genannt.»
Die Soldaten reagierten nicht unfreundlich, niemand aber hatte den Mann gesehen oder irgendwann einmal den Spitznamen Schluchti gehört.
Nach einer Viertelstunde geriet Kappe an einen Bayern, der lauthals loslachte, als er hörte, dass nach einem Schluchti gesucht wurde.
«Davon gibt’s Hunderttausende!»
«Wieso?», fragte Kappe.
«Weil bei uns alle Österreicher so heißen.»
Kappe verstand noch immer nichts. «Alle Österreicher?»
«Ja, ein Schluchti ist ein Schluchtenscheißer.»
«Ah, danke.» Kappe steckte das Photo schnell wieder weg, um nicht auch als Schluchtenscheißer verspottet zu werden.
Was bedeutete das? Höchstwahrscheinlich, dass der Mann, den er suchte, Österreicher war und sich Erna Reczyn vielleicht über ihn lustig gemacht hatte, wie offenbar über alle Männer, die hinter ihr her und ihr hörig waren. Also mussten sie nicht nach einem Schlucht, Schluchter oder Schluchtermann suchen, sondern nach einem Österreicher, der dem Detachement von Randow angehört hatte.
Der Ausmarsch der Truppen erfolgte gegen sechs Uhr abends in geschlossenen Kolonnen und mit wehenden schwarz-weiß-roten Fahnen und Hakenkreuzen an den Helmen.
«Diese verdammten Schweine!», schrie Trampe.
Er war nicht der einzige, der sich nicht derart verhöhnen lassen wollte.
«Mörderbande, haut bloß ab aus Berlin!»
«Feige Hunde! Auf wehrlose Menschen schießen, das könnt ihr, aber mehr auch nicht!»
Es war unschwer zu erkennen, dass sich da noch einmal etwas zusammenbraute, und Kappe fürchtete, erneut in einen Kugelhagel zu geraten. Also stieß er Trampe beiseite.
«Los, ins Adlon rein!»
«Ich habe geschworen, nie ins Adlon zu gehen!» Ein aufrechter Sozialdemokrat hasste die Leute, die im Adlon übernachteten, als Parasiten und Ausbeuter. Dennoch gab Trampe nach. «Ehe ich mich zu guter Letzt noch erschießen lasse!»
Kappe zog ihn mit durch die Drehtür. Kaum hatten sie in der Lounge Platz genommen, ging es draußen auch schon los. Die Menge hatte die Durchlässe des Brandenburger Tores völlig versperrt, kein Soldat kam durch. Die Mannschaften gaben zuerst Schreckschüsse ab, doch als die Menge gegen sie Front machte und sie zurückdrängen wollte, schwärmte eine Kompanie aus und gab scharfes Feuer. Zwölf Tote und über zwanzig Verletzte blieben auf dem Platze. Als nicht mehr geschossen wurde, trug man sie ins Adlon.
«Da hätten wir auch dabei sein können», sagte Trampe.
«Was nicht ist, kann ja noch werden.» Kappe liebte es in letzter Zeit, sarkastisch zu werden. «Die Nachwehen des Putsches werden wohl noch eine Weile anhalten.»