Читать книгу Mit Feuereifer - Horst Bosetzky, Uwe Schimunek - Страница 7
DREI
ОглавлениеDER STARTER hob seine Pistole und wartete, bis die Läufer an die weiße Linie getreten waren, die sich in sanfter Krümmung von der Innenzur Außenbahn zog. «Auf die Plätze …» Wo ihre Spikes in die hart gewordene Kruste der Aschenbahn drangen, stiegen kleine Staubwölkchen auf. «Fertig …»
Martin Kammholz hatte Mühe sich zurückzuhalten, das Zucken seiner Muskeln ließ sich kaum noch unterdrücken. Der Startschuss war eine Erlösung und nur vergleichbar mit dem Höhepunkt beim Beischlaf. Nein, der Vergleich war falsch, denn nun folgte keine Phase der Erholung, sondern eine der höchsten Anstrengung. Eine Neugeburt war es nicht, aber eine Metamorphose: Hatte er sich eben noch wie ein müder, alter Mann gefühlt, so war er jetzt ein junger Gott, der dahinflog wie eine Gazelle und dabei war, die Schwerkraft aufzuheben.
Laufen war Leben, nur wenn er lief, dann lebte er wirklich. Der Mensch war ein Lauftier, Laufen war etwas Archaisches. Wer schneller lief, hatte größere Chancen zu überleben, er konnte seinen Feinden wie seinen Beutetieren besser folgen, um sie zu erlegen, ihnen aber auch eher entkommen, wenn sie stärker waren als er.
Martin Kammholz wäre auch gelaufen, wenn es keinen Wettkampf gegeben hätte, wie seine Urahnen ja auch über die Savannen gelaufen waren, ohne dass es um Meisterehren und goldene Medaillen gegangen wäre. Aber ein Sieg überhöhte alles noch, und es gab keinen stärkeren Rausch als das Wissen, der Beste zu sein: die Nummer eins in der Region, im Land, in Europa und schließlich in der ganzen Welt. Dafür trainierte er seit zehn Jahren, und wäre ein Samiel gekommen, dann hätte er ihm, ohne zu zögern, seine Seele verkauft, wenn er dafür Olympiasieger geworden wäre. Er sah die Schlagzeilen vor sich: Martin Kammholz, der Telegraphenbauhandwerker aus Berlin, erringt die Goldmedaille im 1500-Meter-Lauf.
Doch das war nur zu schaffen, wenn er bis dahin keinem Wettkampf aus dem Wege ging, denn nur im Ringen mit den anderen gewann man die nötige Härte, um gegen die Großen der Zunft eine Chance zu haben, mit dem Training allein war es nicht getan. Und so war er nach Köln gefahren, wo bei einem Sportfest einige Männer am Start waren, denen man zutrauen konnte, die 1500 Meter unter vier Minuten zu laufen. Diese Zeit hatte lange als Schallmauer gegolten, und selbst der große Otto Peltzer war nie mit einer Zeit unter vier Minuten Deutscher Meister geworden. Martin Kammholz hatte eine Bestzeit von 3 Minuten 56,9 Sekunden, und im Deutschen Reich waren nur wenige schneller als er. Der Rekord, gehalten von Otto Peltzer, stand im Augenblick bei 3 Minuten 51,0 Sekunden, er stammte schon aus dem Jahre 1926. Den zu knacken war ein weiterer Traum.
Auf den ersten vierhundert Metern ließ es Kammholz ruhig angehen, denn er liebte es, den Pulk der Läufer vor sich zu haben. Alle waren rank und schlank und hatten den leptosomen Körperbau, den er so liebte. Lief er schräg nach außen versetzt, konnte er am besten verfolgen, wie sich die durchtrainierten Oberschenkel hoben und senkten und sich die Hosen über ihnen derart spannten, dass der Stoff zu zerreißen drohte.
Nach etwa achthundert Metern verschärfte er das Tempo und genoss es, das Feld von hinten aufzurollen. In der Mitte angekommen, bremste er aber wieder ab, um andere passieren zu lassen. Bald war er eingeschlossen, roch den Schweiß der anderen, berührte ihre Arme, streifte ihre Körper, hörte ihren Atem, spürte ihre Kraft, die ihn in pulsierenden Wellen erreichte. Er fühlte sich wie ein Büffel inmitten einer Herde, die mit Urgewalt über weites Grasland fegte.
Eine besondere Lust war es, an der Spitze zu laufen und den anderen davonzufliegen. Sein Körper wurde immer leichter, das Gefühl der Überlegenheit hob jede Schwerkraft auf, er war so viel besser als die anderen, dass er mit ihnen spielen konnte.
Er bog als Erster auf die Zielgrade ein und erkannte das gespannte Band an ihrem Ende. Er lief in gleißendes Licht hinein, sah sich gleichzeitig auf der Tribüne stehen und sich zujubeln und hätte schreien mögen vor Glück. Es war ein göttliches Gefühl, ein Augenblick, in dem er eins war mit dem Kosmos, ein Augenblick, der so schön war, dass er ewig dauern konnte.
«Sieger über 1500 Meter: Martin Kammholz, CSC Berlin!», schrie der Stadionsprecher.
Die Reichspost hatte Kammholz den Montag freigegeben, so musste er nicht in der Nacht nach Berlin zurückfahren. Unterkunft hatte er in einer kleinen Pension in der Gereonstraße gefunden, deren Eigentümer Josef Wüllenrath, ein Freund der Leichtathletik, über die 1500 Meter immerhin eine Bestzeit von 4 Minuten 15,4 Sekunden zu Buche stehen hatte. Da Kammholz erst den Zug um elf nehmen wollte, konnte er in aller Ruhe frühstücken.
Auf dem Frühstückstisch lag der Völkische Beobachter. Aufmacher war die feierliche Eröffnung des Deutschen Juristentages in Leipzig. Das verdarb Kammholz fast den Appetit, denn er hatte eine starke Abneigung gegen alle Juristen, und als er las, welche NS-Größen in den vorderen Reihen Platz genommen hatten, wurde dieses Gefühl noch um einiges stärker. Da waren die Reichsminister Heß und Dr. Frank, der Staatssekretär Freisler und Mutschmann, der Gauleiter von Sachsen.
Die linke Hälfte der Titelseite des Völkischen Beobachters wurde von einer Traueranzeige beherrscht. Julius Schreck war gestorben. Einer der Ersten, Besten und Treuesten ging von uns, hieß es. Schreck war über die «Brigade Erhardt» und den «Stoßtrupp Hitler» zu SA und SS gekommen und hatte zuletzt zum Führer-Begleitkommando gehört.
Kammholz las im Nachruf:
Nur ein kleines Erlebnis, das die eiserne Pflichtauffassung unseres toten Kämpfers zeigt: Es war im Jahre 1926 auf Versammlungsfahrt durch Mecklenburg. Schreck saß am Steuer, neben ihm der Führer. In zwei Stunden sollte Adolf Hitler sprechen. Noch waren 160 Kilometer zurückzulegen. Da erkrankte plötzlich Schreck an Vergiftungserscheinungen. Vor Schmerzen war er einer Ohnmacht nahe. Doch er ließ nicht vom Steuer, fuhr durch die Nacht, bis er am Ziel zusammenbrach. Das war Julius Schreck.
«O Schreck, nu is er weg!» Josef Wüllenrath war lautlos in den Raum gekommen und hinter Kammholz getreten.
Kammholz war zusammengefahren. «Hab ich einen Schreck bekommen!»
«Und der Schreck wird ein Staatsbegräbnis bekommen.»
«Hirnhautentzündung», sagte Kammholz.
«Dann muss er wohl ein Hirn gehabt haben, sonst hätte sich das nicht entzünden können. Erstaunlich.»
«Pst», machte Kammholz. «Können wir nicht über etwas anderes reden …»
«Wie geht es Ihrer Frau?», fragte der Kölner.
Kammholz lächelte. «Danke, Helga arbeitet jetzt als Direktrice im Modehaus Tauentzien, und es geht ihr gut.»
«Wann wird es denn Kinder geben?»
«Nach den Olympischen Spielen …»
Josef Wüllenrath nickte. «Das kann ich gut verstehen. Deutschland hat ja über 1500 Meter noch nie eine Medaille gewonnen, und wenn Sie da der Erste sind …» Er ging zu seiner Anrichte und holte eine Art Kladde hervor, in der die deutschen Olympiateilnehmer über diese Strecke eingetragen waren. «1896 in Athen war Carl Galle immerhin Vierter … in 4 : 39,0. Da hätte ich ja noch gewonnen!
1900 in Paris ist Werkmüller Neunter geworden, 1904 in St. Louis war Johannes Runge Fünfter und 1928 in Amsterdam Hans Wichmann Vierter … mit einer tollen Zeit: 3 : 56,8.»
Kammholz schmierte sich dick Butter auf sein Brötchen.
«Der Weltrekord von William Bonthron liegt bei 3 : 48,8, und wahrscheinlich muss man in Berlin noch etwas schneller laufen, wenn man die Goldmedaille holen will.»
«Silber oder Bronze wären ja auch ganz schön, Hauptsache ist doch, dass auf unserer Strecke endlich auch mal ein Deutscher das Siegerpodest erklimmt!», rief der Kölner mit einigem Pathos.
«Ihnen fehlen noch ganze fünf Sekunden, lieber Kammholz, dann …»
Weiter kam er nicht, denn ohne dass jemand geklingelt oder an seine Eingangstür geklopft hätte, standen plötzlich drei Männer im Flur. Sie mussten sich mit Hilfe eines Dietrichs oder eines Nachschlüssels Zutritt verschafft haben.
Ihr Anführer legte den Finger auf den Mund. «Pst! Geheime Staatspolizei.»
Die drei Gestapo-Leute stürmten zum Zimmer 8, wo sie zwei Männer im Bett vorfanden, die sie kräftig zusammenschlugen, bevor sie sie abführten.
Josef Wüllenrath saß kreidebleich auf seinem Stuhl und musste sich mit beiden Händen an der Tischkante festhalten, um nicht zur Seite wegzukippen. «Dieser Kanthack wieder», murmelte er.
Im Mai 1935 war im Geheimen Staatspolizeiamt Berlin, Gestapa genannt, ein eigenes Homosexuellenreferat geschaffen worden (zunächst II 1 H 3), und in dessen Auftrag zog nun der Berliner Kriminalkommissar Gerhard Kanthack, der von der Kripo zur Gestapo versetzt worden war, durch Deutschland und entfesselte vor Ort Kampagnen gegen Homosexuelle. Auf seine Opfer kam er des Öfteren durch anonyme Anzeigen, so auch auf die beiden Männer in der Pension von Josef Wüllenrath. Am 1. September 1935 war die Verschärfung des Paragraphen 175 RStGB in Kraft getreten, und drastische Strafen drohten nun allen, denen jede Art gleichgeschlechtlicher Unzucht nachgewiesen werden konnte, worunter nicht nur beischlafähnliche Handlungen, sondern auch wechselseitige Onanie verstanden wurde.
«Was wird nun mit den beiden?», fragte Kammholz.
Der Kölner wusste einiges darüber. «Bei uns in Preußen können Homosexuelle nach dem Gewohnheitsverbrechergesetz Paragraph 20 a erfasst und nach einmaliger Verurteilung in ‹Vorbeugehaft› genommen werden. Wer daraus wieder freigelassen wird, kann polizeilich überwacht werden. Hinzu kommt noch: Man darf sich nicht mehr an bestimmten Örtlichkeiten aufhalten, nachts nicht mehr ausgehen, kein Auto oder Motorrad besitzen und muss einen Hausschlüssel bei der Polizei hinterlegen. Und wenn’s ganz schlimm kommt …» Josef Wüllenrath senkte die Stimme. «Einen meiner Berliner Freunde haben sie schon ins Konzentrationslager gesteckt.»