Читать книгу Mit Feuereifer - Horst Bosetzky, Uwe Schimunek - Страница 8
VIER
ОглавлениеMAX BRAUN und seine Frau Lore wohnten in der Jansastraße in Neukölln, und zwar im dritten Stock des Seitenflügels. Er arbeitete als Lagerverwalter bei Pfaff am Maybachufer, sie war Verkäuferin in einem Lebensmittelgeschäft in der Pannierstraße. Kinder hatten sie noch keine, was Max sehr schmerzte, denn er hatte sich vorgenommen, dem Führer viele Kinder zu schenken. Ihr Traum war ein Häuschen draußen im Grünen, wenn in den nächsten Jahren besondere Siedlungen für Parteigenossen entstanden. Nicht zuletzt deswegen war er 1932 in die NSDAP eingetreten. Vorher hatte Max eher mit den Kommunisten sympathisiert.
Um neun Uhr standen Max und Lore auf, um zu frühstücken. Es war Sonntag. Die beiden waren ziemlich zerschlagen, denn sie hatten gerade zwei Versuche hinter sich, einen Stammhalter zu zeugen.
«Wat machen wa heute?», fragte Lore, um sich gleich selber die Antwort zu geben. «Wir fahr’n nach Jrünau raus.»
Als Neuköllner kannten sie keine anderen Ausflugsziele als die Woltersdorfer Schleuse, den Werlsee, das Strandbad Müggelsee, Grünau, den Langen See, die Große Krampe, Schmöckwitz, den Zeuthener See und die Zernsdorfer Lanke. Der Wannsee und die Tegeler Wälder und Gewässer waren für sie fremde Welten, in die man nur fuhr, wenn es unbedingt sein musste.
Max ließ seine Hosenträger gegen den Brustkorb schnellen.
«Denkste, Puppe, heute jeht’s mal anne Havel.»
«Wieso ’n ditte?» Lore konnte es nicht fassen.
«Weil ick ma die Marathonstrecke langloofen möchte.» Auch ihn hatte das olympische Fieber gepackt.
Lore lachte höhnisch. «Du und die janzen fuffzich Kilometa!»
«Nee, nur det Stücke anne Havel unten. Und im Übrigen sind et nur 42 Kilometa und ’n paar Zerquetschte. Und Schildhorn könn’ wa baden, mein Chef jeht da ooch imma hin.»
Damit war Lore überredet, und um halb elf machten sie sich auf den Weg. Max hatte über die optimale Verbindung lange nachdenken müssen und dann entschieden, mit der U-Bahn vom Hermannplatz - einmal umsteigen Stadtmitte - bis zum Adolf-Hitler-Platz zu fahren und dort die Straßenbahn Richtung Spandau zu nehmen. «Mit der 58 oder der 75 bis zur Stößenseebrücke.» Nach knapp anderthalb Stunden standen sie auf der Stößenseebrücke. Sie brauchten eine Weile, bis sie realisiert hatten, dass sie noch immer in der Reichshauptstadt waren und die Gegend hier zum Berliner Bezirk Charlottenburg gehörte.
Max Braun, der eigentlich schon die zweihundert Meter zur Milchfrau als Langstreckenlauf empfand, hatte ein merkwürdiges Faible für den Marathonlauf, vielleicht deswegen, weil er die einzige Eins seiner gesamten Schullaufbahn für die Antwort chaírete nikômen bekommen hatte. Das hatte laut Überlieferung der griechische Soldat ausgerufen, der 490 vor Christus nach der Schlacht bei Marathon den über vierzig Kilometer langen Weg nach Athen gelaufen war, um den Triumph über die Perser zu melden: «Seid gegrüßt! Wir sind Sieger!» Nach diesem Ausruf war die Klasse vom Lehrer gefragt worden, und er, Max Braun, hatte die Antwort gewusst, weil er von seinem Großvater, der ein paar Jahre lang als Ingenieur in Griechenland gearbeitet hatte, mit allem Hellenischen traktiert worden war. Natürlich kannte er auch den Marathonsieger der ersten Olympischen Spiele der Neuzeit, den Griechen Spyridon Louis, und alle seine Nachfolger. 1924 in Paris, wo die Sonne an der Seine gebrannt hatte wie in der Sahara, war der vierzigjährige Finne Albin Stenroos als Erster durchs Ziel gelaufen, 1928 auf dem harten Kopfsteinpflaster von Amsterdam hatte der Algerier Boughera El Quafi gesiegt und 1932 auf den breiten, von Palmen gesäumten, aber schattenlosen Straßen von Los Angeles der kleine Argentinier Carlos Zabala.
Die Berliner Marathonstrecke war mit Sicherheit einzigartig, denn sie führte weithin durch den Grunewald. Vom Olympiastadion ging es über die S-Bahn hinweg zum Stößensee und dann auf der Havelchaussee bis hinunter zum Schlachtensee, wo auf der Avus weiterzulaufen war. Wendepunkt war an der legendären Nordkurve, dann hatten die Läufer auf demselben Weg ins Stadion zurückzukehren.
«Da müssen die Kampfrichter aba uffpassen, sonst kürzt da eena uff da Avus wat ab», sagte Lore. «Einfach mal uff de andre Fahrbahn jehüpft, und schon biste weit vor die anderen, wenn die erst inne Nordkurve müssen.»
Max beruhigte sie. «Da wird schon eena Obacht jeben.» Gleichzeitig fiel ihm aber ein, dass bei den Olympischen Spielen 1904 in St. Louis der Amerikaner Frederick Lorz als Erster ins Stadion eingelaufen war und das Zielband zerrissen hatte. Nachdem ihn seine Landsleute jubelnd als Marathonsieger gefeiert hatten, war herausgekommen, dass er die Hälfte der Strecke in einem Auto zurückgelegt hatte.
«Alle Achtung!», rief Lore, als er ihr diese Anekdote erzählt hatte. «Da kannst du ja ooch Olympiasieja werden.» Dann rechnete sie und stellte fest, dass die Hälfte von 42 auch noch eine Menge war.
«Nee, du brichst mir ja schon nach ’m halben Kilometa zusammen.»
«Und du schon nach hundert Metern. Aba bei dir jibt et ooch noch ’n Fettfleck uff de Straße.»
Damit stiegen sie die lange Treppe zur Havelchaussee hinunter, und Max Braun beschlich ein hehres Gefühl, als sie unten auf dem Asphalt standen. «Hier wer’n se nun langkommen.»
«Willste etwa hier stehen und zusehen?», fragte Lore.
«Klar, ick nehm ma extra ’n Urlaubstag dafür.»
«Det kann doch nich dein Ernst sein!»
Max nickte. «Doch, det isset! Eene Macke muss der Mensch ja haben.»
«Dann musste aba ooch die janze Strecke abloofen», sagte Lore.
«Nee, nur bis nach Schildhorn und dann quer durch ’n Wald bis zur S-Bahn.»
«Komm ma, Bewegung tut dir jut.»
Max stöhnte auf. «Ick hab schon jenuch Bewegung jehabt heute morjen.» Damit meinte er seine Bemühungen, einen Sohn zu zeugen. Er gähnte demonstrativ.
«Keene Müdigkeit vorschützen. Nimm dir ’n Beispiel an dem Kammholz, wenn der beim Marathon hier langhetzen tut.»
Max Braun verdrehte die Augen. «Martin Kammholz läuft über 1500 Meter.»
«Is mir doch wurscht, aba ’n schöner Mann isset.» Sie hatte sein Photo neulich im Völkischen Beobachter gesehen, wo man ihn als eine der größten deutschen Olympiahoffnungen in der Leichtathletik gepriesen hatte. «Nu los!» Sie gab ihrem Mann einen kleinen Schubs.
Knapp fünf Kilometer lagen vor ihnen, doch sie waren keine dreihundert Meter gelaufen, da drückte Lore die Blase. «Ick muss ma mal inne Büsche schlagen.»
«Mach dit, aba pass uff, dette keem Unhold inne Hände fällst.»
Weil ihr die Sache doch genierlich war, entfernte sich Lore ziemlich weit vom Weg, und ihr Mann hatte sie bald aus den Augen verloren. Während er wartete, bückte er sich, um den Ameisen zuzusehen, die dabei waren, einen toten schwarzen Käfer auszuweiden. Ein Schrei ließ ihn hochfahren.
«Maxe, Hilfe, ’n Mann!»
Er stürzte in die Richtung, in die seine Frau gegangen war.
Da kam ihm Lore schon entgegengeflogen. «Da liegt ’n Tota, allet volla Blut!»