Читать книгу Mit Feuereifer - Horst Bosetzky, Uwe Schimunek - Страница 9
FÜNF
ОглавлениеHERMANN KAPPE ließ den Sonntag ruhig angehen. Nach dem Frühstück hatte er sich auf die Toilette zurückgezogen, um den Völkischen Beobachter zu lesen, den sein Sohn vom Zeitungsstand an der Ecke geholt hatte. Jetzt war er schon auf der Seite mit Roman, Rätsel, Rundfunkprogramm und Wetterbericht.
Der Roman stammte aus der Feder von Martin Luserke und trug den Titel Obadjah und die ZK 14. Ein Seemann und sein Fischerboot dienten als Erkennungszeichen. Es ging um einen jungen Fischer, und da Kappe schließlich aus einer Familie von Fischern kam, hatte er angefangen zu lesen, obwohl er den Namen Obadjah fürchterlich fand. Ein gebildeter Kollege hatte gemeint, es sei der Name eines Propheten.
Kappe begann zu lesen: In Obadjahs Blut steckten die Erlebnisse zahlloser Geschlechter von Fischerleuten. Selbst während der Wanderjahre mitten im Binnenland hatte sein Gefühl einen Zusammenhang mit dem Gleichmaß von Flut und Ebbe draußen bewahrt. Kappe musste schmunzeln. Bei ihnen zu Hause am Scharmützelsee hatte es Ebbe nur in der Haushaltskasse gegeben und eine Art Flut nur zweibis dreimal im Jahr, wenn der Sturm, kam er von Norden, zwölf Kilometer lang über den See gefegt war.
Er ließ Obadjah Obadjah sein und vertiefte sich in den Wetterbericht für das Reich. In Süddeutschland und Schlesien war es noch stark bewölkt bis bedeckt, für Norddeutschland wurden Wolken und nur vereinzelte Regenschauer vorausgesagt. Allgemein sei es ziemlich kühl.
Nach dem Toilettengang setzte sich Kappe im Wohnzimmer an seinen Schreibschrank und vertiefte sich in eine neue Abhandlung über die Germanen: wie im Jahre 105 vor Christus die Kimbern und Teutonen die Römer bei Arausio an der Rhône vernichtend schlugen, 120 000 Legionäre und Trossknechte töteten und anschließend den Gefangenen die Kehlen durchschnitten oder sie aufhängten und sämtliche Kriegsbeute zerhackten und im Fluss versenkten. Furor Teutonicus hatten die Römer diese Raserei genannt. Kappe hatte die Germanen schon lange vor der Zeit geliebt, als Adolf Hitler durch die Lektüre der Ostara -Hefte zur Ansicht gelangt war, die Germanen seien allen anderen Völkern überlegen. Nun schämte sich Kappe irgendwie für seine Vorliebe, er wusste aber auch, dass sie bei seinen Vorgesetzten gut ankam und als ein gewisses Äquivalent für seine rote Herkunft angesehen wurde. Bei seinem Vornamen musste man ja automatisch an Hermann den Cherusker denken, von Hermann Göring ganz zu schweigen. Wenigstens hieß er nicht Horst, benannt nach Horst Wessel.
Bei Klara Kappe hatte alles seine feste Ordnung, und so stand jeden Sonntag Punkt halb eins das Mittagessen auf dem Tisch, egal, ob einer schon Hunger hatte oder nicht. Außerdem bestand sie darauf, ein Menü zuzubereiten, wobei die Variationsbreite nicht eben groß war. Vor- und Nachspeise waren im Sommer immer gleich: Tomatensuppe vor und Grießpudding mit Kirschkompott nach dem Hauptgericht. Das lag daran, dass sie Tomaten und Kirschen ebenso billig wie frisch aus Wendisch Rietz bekam, wo Kappes Bruder Albert einen großen Garten hatte. Was das Hauptgericht betraf, gab es eine feste Abfolge: Falscher Hase, Gulasch, Schmorbraten, Kassler und Rouladen, so dass alle fünf Wochen das Gleiche auf dem Tisch stand. Heute waren Rouladen an der Reihe, und Kappe freute sich schon auf den Kampf mit dem Bindfaden, denn Klara weigerte sich strikt, metallene Spieße zu benutzen, weil die ihrer Meinung nach den Geschmack des Fleisches verdarben.
«Zu Tisch, bitte!», hörte es Kappe aus der Küche rufen. Seufzend legte er seinen Band über die Germanen aus der Hand. Gern hätte er noch ein Weilchen gelesen.
Seine Familie saß schon am runden Esstisch. Immer, wenn er seine Lieben ansah, war Kappe verwundert: Wie alt Klara inzwischen geworden war, und wie groß, beinahe erwachsen der erstgeborene Sohn und die Tochter waren!
Margarete war gerade dabei, ihre Lehre als Schneiderin zu Ende zu bringen. Hartmut ging noch zur Schule und sollte, getrieben vom Ehrgeiz seiner Mutter, 1939 das Abitur machen. Hoffentlich noch vor Kriegsbeginn, dachte Kappe, denn dass es Krieg geben würde, glaubten sowohl seine Freunde, die Hitlergegner waren, als auch seine Kollegen, die auf Adolf Hitler schworen. «Wartet erst einmal ab, bis die Olympischen Spiele vorbei sind», hieß es überall, so lange tue der Führer so, als habe er Kreide gefressen. Karl-Heinz, der Nachkömmling, war nun auch schon neun Jahre alt und ein kräftiger Kerl.
«Ich wünsche allen einen gesegneten Appetit», sagte Klara, und alle reichten sich die Hände, um damit ihren Zusammenhalt als Familie unter Beweis zu stellen.
«Danke.» Kappe grauste es vor der ewigen Tomatensuppe, aber was blieb ihm übrig, als seine Frau für ihre Arbeit und ihre Kochkunst zu loben.
Hartmut, der viel von seiner Mutter und wenig von seinem Vater hatte, schwärmte wieder einmal vom Boxkampf Joe Louis gegen Max Schmeling, den der Deutsche in der zwölften Runde durch K. o. gewonnen hatte. «Schmelings Rechte war phantastisch! Er hat sich Filme mit Joe Louis angesehen und genau gewusst, wo der Neger seine Schwachstelle hat: dass er seine Linke, nachdem er geschlagen hat, zu tief sinken lässt und die linke Schläfe nicht richtig gedeckt ist.» Dann wiederholte er die Worte des Reichsrundfunkreporters: «Aus dem gefürchteten Braunen Bomber ist ein armer kleiner Negerboy geworden.»
Kappe musterte seinen Sohn vorsichtig von der Seite. Hartmut war nicht nur «sein eigen Fleisch und Blut», wie es immer hieß, der «Stammhalter», den er liebte, sondern auch ein überzeugter HJ-Junge, der den Eid abgelegt hatte: «Ich verspreche, in der Hitler-Jugend allzeit meine Pflicht zu tun in Liebe und Treue zum Führer und unserer Fahne.»
Noch schlimmer stand es mit Margarete, die bei einer Freundin einen Vorabdruck von Elvira Bauers Kinderbuch Trau keinem Fuchs auf grüner Heid und keinem Jud bei seinem Eid! gefunden und sich ausgeborgt hatte und ihrem Bruder Karl-Heinz nun ohne jegliches Störgefühl zwei Zeilen daraus vorlas: « Nun wird es in der Schule schön, / denn alle Juden müssen gehen, / die Großen und die Kleinen. / Da hilft kein Schrein und Weinen / und auch kein Zorn und Wut. / Fort mit der Judenbrut!»
Klara nickte dazu und meinte, bei den Olympischen Spielen würde es ganz schlimm werden. «Da wird es ja nur so wimmeln von Juden und Negern. Über die hundert Meter soll ein Neger allen voran sein, und bei den Fechtern wollen sie die Jüdin Helene Mayer aus Amerika zurückholen, damit sie für Deutschland eine Goldmedaille gewinnt. Aber der Führer wird schon wissen, was er tut.» Kappe fühlte sich furchtbar allein. Seine Frau verehrte Adolf Hitler, und die Kinder schwammen mit im breiten Strom, ohne sich groß Gedanken zu machen. Sagte er etwas Kritisches über die Nationalsozialisten, fielen sie alle über ihn her. Die Kraft, es mit Klara, Margarete und Hartmut aufzunehmen und sie umzupolen, hatte er nicht, er konnte froh sein, dass sie ihn nicht beschimpften, weil er kein Mitglied von SA und NSDAP geworden war.
Fast war er froh, als das Telefon klingelte, kaum dass er die Hälfte seiner Rouladen aufgegessen hatte.
Es war der Alexanderplatz. Man würde ihn gleich abholen, in der Nähe der Stößenseebrücke habe man einen Toten gefunden.
«Eingeschlagener Schädel, ganz sicher Fremdverschulden.»
Hermann Kappe glaubte nicht so recht daran, dass Gott für jeden Menschen bei dessen Geburt schon ein Drehbuch geschrieben hatte, in dem für das ganze Leben all seine Rollen und Auftritte festgelegt waren, auch wenn seine Großmutter in Wendisch Rietz immer gesagt hatte: «Man kann sich drehen und wenden, wie man will, der Allerwerteste bleibt immer hinter.» Lieber war ihm der Spruch: «Der Zufall macht vor keinem halt.»
Es begann damit, dass im Mordauto, das ihn von zu Hause abholte, nicht sein alter Weggefährte Gustav Galgenberg saß, den ein Hexenschuss außer Gefecht gesetzt hatte, sondern Werner Deterding, ein Neuzugang aus Bremen, der überall als «komisch» galt. Das lag daran, dass er an einer leichteren Form des Tourette-Syndroms erkrankt war, das heißt den Tick hatte, unaufhörlich mit den Fingern trommeln zu müssen. Seine Hände explodierten förmlich, und er tat so, als sei sein Schreibtisch ein Klavier oder eine Trommel. Auf diese Weise hatte er sich weitgehend unter Kontrolle und nutzte seine Erkrankung auch, um Musik zu machen. Vor der Machtergreifung hatte er als Schlagzeuger in Jazzkapellen gespielt, nun war er Trommler bei der SA. Dennoch hätten ihn die Nationalsozialisten eingesperrt und möglicherweise sterilisiert, wenn sein Vater nicht leitender Ingenieur bei der Weser-Flugzeugbau GmbH, kurz Weserflug, gewesen wäre, also ein bedeutsamer Mann für den Aufbau der Luftwaffe, und Hermann Göring zu seinen Freunden zählte. 1934 hatte die Weserflug die Rohrbach Metallflugzeugbau GmbH in Berlin übernommen, und Dr. Ing. Robert Deterding war gezwungen gewesen, sich hier eine Zweitwohnung einzurichten. Um nicht ganz allein zu sein, hatte er seinen Sohn mitgenommen und seine Kontakte genutzt, um ihn bei der Berliner Polizei unterzubringen.
«Wenn wir schon unseren VTOL hätten, wären wir nach ein paar Minuten am Ziel», erklärte Deterding Kappe, kaum dass der ins Mordauto gestiegen war und im Fond Platz genommen hatte.
«VTOL?», fragte Kappe und versuchte gleich selbst eine Deutung. «Vereinigte Teilnehmerschaft Olympische Spiele?»
«Nein. Vertical Take Off and Landing.» Deterding klopfte die einzelnen Silben auf die Rückseite des Fahrersitzes. «Das ist ein Drehflügler oder eine Art Hubschrauber, ganz wie Sie wollen. Adolf Rohrbach entwickelt ihn mit Heinrich Focke zusammen.»
«Mit uns zieht die neue Zeit», sang Kappe - und erschrak zugleich, denn das hatte die SPD immer bei ihren Tagungen gesungen.
Deterding lachte und trommelte ein Solo. «Keine Angst, das stammt von Hermann Claudius, und der ist jetzt ein glühender Anhänger Adolf Hitlers. Sein Eutiner Dichterkreis schreibt ständig Ergebenheitsadressen nach Berlin.»
Kappe wusste nicht, wie er darauf reagieren sollte. Konnte sich Deterding aufgrund der Stellung seines Vaters solche despektierlichen Bemerkungen erlauben - oder war er ein Agent provocateur, den die Gestapo in die Kripo eingeschleust hatte, um unsichere Kantonisten zu ermitteln? Zunächst jedenfalls war Vorsicht angebracht, hieß es doch jetzt bei den alten SPD-Genossen: «Vertraue keinem, den du nicht mindestens ein Jahr lang kennst!» Also zog sich Kappe auf sicheres Terrain zurück: den Fußball. «Was meinen Sie, wer steht diesmal im Finale um den Deutschen Meistertitel?»
Deterding überlegte. An diesem Sonntag fanden die beiden Halbfinalspiele statt. In der Adolf-Hitler-Kampfbahn standen sich der 1. FC Nürnberg und Schalke 04 gegenüber, und Am Ostragehege in Dresden traf Fortuna Düsseldorf auf Vorwärts Rasensport Gleiwitz. «Ich tippe mal auf Nürnberg gegen Düsseldorf.»
«Ich auch. Haben Sie denn Karten für das Endspiel?» Das sollte am 21. Juni im Berliner Poststadion stattfinden. «Da wär ich ja gerne dabei - wenn wir nicht wieder ’n Ermordeten haben sollten.»
«Gut, ich werde mich in vierzehn Tagen zurückhalten.» Deterding überlegte. «Karten, ja … Ich werde mal meinen Vater ansprechen, das müsste klappen.»
Wie immer kam Kappe die Heerstraße endlos lang vor, und langweilig war sie allemal. Wenn ihnen nicht ab und an auf dem nördlichen Seitenstreifen Straßenbahnzüge entgegengekommen wären, hätte es überhaupt nichts zu sehen gegeben. Das änderte sich erst, als sie die Reichssportfeldstraße erreicht hatten und weit hinten das steinerne Oval des Olympiastadions liegen sahen.
«Noch zwei Monate, dann wird dort der Teufel los sein», prophezeite Kappe.
«Vorsicht!», zischte Deterding.
«Wieso denn das?»
«Wissen Sie nicht, dass der Führer die Olympischen Spiele eröffnen wird?»
Erneut wusste Kappe nicht, wie er darauf reagieren sollte. War der Bremer Industriellensohn nun wirklich ein NS-Gegner, oder hatte er die Absicht, ihn, Kappe, in eine Falle zu locken? Es konnte aber auch sein, dass Deterding noch einen anderen Tick hatte, den nämlich, immer und um jeden Preis witzig sein zu wollen. Vielleicht hätte er lieber Komiker beim Kabarett statt Kriminalkommissar werden sollen. Kappe schwieg also und fragte Deterding dann, ob ihn die Olympischen Spiele auch schon in ihren Bann gezogen hätten.
«Na, und ob!», rief Deterding und trommelte zur Abwechslung einmal gegen die Scheibe des Mordautos. «Besonders interessiert mich die leichte Athletik, ich war schließlich selber mal Läufer, über 800 und 1500 Meter. Vor zwei Jahren habe ich sogar Martin Kammholz geschlagen, und das ist schon wer.»
«Und warum sind Sie nicht dabei?» Kappe zeigte in Richtung Olympiastadion.
«Weil mein Herz nicht mitgemacht hat», antwortete Deterding. «Herzmuskelentzündung nach einer verschleppten Influenza. Davon habe ich mich nie richtig erholt. Aber für den Polizeigebrauch reicht es noch.»
«Wären Sie denn lieber über 800 oder über 1500 Meter gestartet?», wollte Kappe wissen.
«Schwer zu sagen. Über die kürzere Strecke haben wir Lanzi, den Italiener, und den Amerikaner Woodruff an der Spitze, über die längere Distanz die Neuseeländer und Beccali, den Sieger von vor vier Jahren.»
«Und die Deutschen?», wollte Kappe wissen.
«Über 800 Meter haben wir Rudolf Harbig, meiner Ansicht nach unser größtes Talent aller Zeiten, und über 1500 Meter Martin Kammholz. Der könnte es in diesem Jahr schon schaffen.» Ihr Fahrer war neu in Berlin, durch irgendwelche Verbindungen aus dem schwäbischen Dettenhausen in die Reichshauptstadt gekommen. Er hielt nun oben auf der Stößenseebrücke und sah auf die Havelchaussee hinunter, die 25 Meter tiefer lag. «Das ischt ja ’n Ding, da wolle mer hin, aber wie?» Er konnte es nicht fassen. Auf dem Stadtplan hatte das ganz einfach ausgesehen, da kreuzten sich Heerstraße und Havelchaussee scheinbar auf demselben Niveau.
«Wie wir dort hinkommen? Ganz einfach», sagte Deterding, «wir nehmen Tempo auf, durchbrechen das Brückengeländer, segeln auf den Stößensee hinab und fahren als Flugboot ans Ufer.» Kappe war am Abend noch mit seinem alten Freund Theodor Trampe verabredet und wollte das Dienstliche so schnell wie möglich hinter sich bringen. «Sie müssen wenden und noch einmal zum Scholzplatz zurück, dann entweder rechts in die Straße Am Postfenn oder links über die Angerburger Allee runter zur Havelchaussee.»
Der Fahrer bedankte sich, merkte noch an, dass Tote ja mit dem Warten keine Schwierigkeiten hätten, und machte sich auf den Weg.
Deterding hatte im Präsidium eine Skizze mit dem genauen Fundort erhalten. «Havelchaussee, schräg gegenüber von Pichelswerder, da wo am Rupenhorn die Bootsstände beginnen.»
Kollegen von der Schutzpolizei hatten die östliche Fahrbahn der Havelchaussee auf einer Länge von hundert Metern abgesperrt, so dass sie, als sie vom Postfenn kamen, keine Mühe hatten, ans Ziel zu gelangen. Ihre Kriminaltechniker waren schon wesentlich eher eingetroffen als sie, und Dr. Krause vom Erkennungsdienst fasste kurz seine bisherigen Erkenntnisse für Kappe und Deterding zusammen.
«Der Tote ist männlich, um die dreißig Jahre alt und gestorben, weil man ihm den Schädel zertrümmert hat. Der Blutverlust muss erheblich gewesen sein, da sich aber hier im Waldboden - auf den ersten Blick jedenfalls - keine Blut- und Kampfspuren finden, kann darauf geschlossen werden, dass der Mann anderswo umgebracht und erst danach hier abgelegt worden ist. Es spricht alles dafür, dass man ihn in der Nacht mit einem Kraftfahrzeug hierher verfrachtet und ins Gebüsch geworfen hat. Das Gelände steigt hier steil an, und kein Wanderer, der von oben durch den Wald kommt, wird den Abhang runterrutschen. Und dass hier ein Kraftfahrzeug hält, kommt auch sehr selten vor. Der Täter konnte also damit rechnen, dass sein Opfer nicht so schnell gefunden wird. Es war reiner Zufall, dass die Dame da hinten bei einem Spaziergang ausgerechnet an dieser Stelle dringend im Gebüsch verschwinden musste. Sie und ihr Mann sind gleich ins Forstamt gelaufen, um uns zu alarmieren.»
Kappe bedankte sich und hätte am liebsten Deterdings Hände festgehalten, denn der junge Kollege trommelte auf der Kühlerhaube den Radetzkymarsch, was Kappe gehörig auf die Nerven ging. «Mit einem Kraftwagen, sagen Sie … Es gibt nicht viele, die einen besitzen, und die gehören im Allgemeinen den höheren Ständen an. Oder es handelt sich um ein Dienstfahrzeug …»
«Nun halten Sie mal die Luft an!», rief Dr. Krause.
«Ein Dienstfahrzeug der Reichspost, der Reichsbahn, der Bewag oder der Gasag», sagte Deterding. «Oder an was haben Sie gedacht?»
Kappe hatte kein Interesse daran, dieses Thema weiter zu vertiefen, und drückte vorsichtig die Zweige zur Seite, um sich den Toten selber anzusehen. Etwa zehn Meter vom Straßenrand entfernt lag er. Es war klar, dass man ihn hergeschleift hatte, denn im Humus und der Schicht alter Blätter ließ sich eine breite Furche erkennen. Der Mann trug eine dunkelblaue Trainingshose und ein weißes Unterhemd, jegliches Schuhwerk fehlte.
«Ist ja interessant», sagte Deterding, der Kappe in kurzem Abstand gefolgt war.
Kappe blieb stehen und drehte sich um. «So ist es. Daraus können wir schließen, dass es ihn nicht auf offener Straße oder bei einem feierlichen Anlass erwischt hat, sondern bei sich zu Hause, wo er wahrscheinlich Pantoffeln getragen hat. Die sind dann verlorengegangen, als man ihn hierher transportiert hat.»
«Und das bestimmt nicht mit der Straßenbahn», fügte Deterding hinzu. «Womit wir wieder beim Kraftwagen wären …»
Kappe konnte das Gesicht des Ermordeten noch nicht erkennen, weil der auf dem Bauch lag. Trotz seiner vielen Dienstjahre und der vielen Leichen, die er schon berührt hatte, erfüllte ihn immer noch eine Art heiliger Schauer, wenn er einen Toten vor sich hatte. Erstarrt stand er da.
Deterding war es schließlich, der den Mann an der Schulter packte und auf den Rücken drehte.
Da schrie Kappe auf. «Gott, das ist ja der Wanzka!» Deterding war ein Stück zurückgeprallt. «Sie kennen den?»
«Ja, das war eine schillernde Figur. Zuletzt haben wir uns in Schwerin gesehen, beim Seefeldt-Prozess. Karl-Heinz Wanzka war ein kleiner Gauner mit einer ganzen Latte von Vorstrafen als Einbrecher, Hehler, Erpresser und Zuhälter. Überall hatte er seine Finger im Spiel und wusste immer alles. Für uns hat er auch gearbeitet, Liebermann von Sonnenberg hat ihn als Spitzel eingesetzt, um mit unseren Berufsverbrechern fertig zu werden.»
«Das klingt nicht so, als ob er nur Freunde gehabt hat», merkte Deterding an. «Aber vielleicht waren seine Freunde gefährlicher für ihn als seine Feinde …»
«Danke für die Warnung», sagte Kappe.
«Was nun?», fragte Deterding.
Kappe überlegte einen Augenblick. «Wir fahren jetzt zu Wanzkas Wohnung, die Adresse dürfte ja unschwer zu ermitteln sein, und prüfen, ob es irgendwelche Spuren gibt.» Er sprach mit Dr. Krause, und der veranlasste das Notwendige.
Als Kappe und Deterding anderthalb Stunden später vor dem Mietshaus Naunynstraße 6 ankamen, hatten die Kollegen von der Kriminaltechnik schon ganze Arbeit geleistet.
«Der Mann ist nicht in seiner Wohnung erschlagen worden, sondern vor seinem Kellerverschlag. Die Blutspuren sind nicht völlig beseitigt worden», wurde Kappe berichtet.
«Wie sind Sie denn auf den Keller gekommen?», fragte Deterding.
«Weil oben bei ihm am Brett der Kellerschlüssel gefehlt hat.»
«Sehr schön», sagte Kappe, war aber mit seinen Gedanken schon bei seinem Freund Theodor Trampe, mit dem er abends verabredet war. «Morgen ist auch noch ein Tag. Da fangen wir dann an, uns in seinem Umfeld umzuhören.»
So warfen sie nur einen flüchtigen Blick in Keller und Wohnung und machten sich dann wieder davon, um noch etwas von ihrem Sonntag zu haben.
Hermann Kappe sah sich immer wieder um, ob ihm jemand folgte. Es waren herrliche Zeiten, in denen man als Kriminalkommissar auf Nummer sicher gehen musste, wenn man Theodor Trampe treffen wollte, einen alten Freund, der als ehrbarer Mensch durchs Leben gegangen war, nun aber im Verdacht stand, einer Widerstandsgruppe anzugehören. Wurde Kappe in seiner Nähe gesehen, konnte das gegen ihn verwendet werden, aber es war immer noch besser, wenn man sie in aller Öffentlichkeit beobachtete als in irgendeinem konspirativen Winkel. Also hatten sie sich an diesem Sonntagabend zu einem Spaziergang Unter den Linden verabredet.
Kappe war eine Viertelstunde zu früh am Pariser Platz und machte noch einen kleinen Spaziergang um den nördlichen Häuserblock, also um das Karree mit der Französischen Botschaft. An der Wilhelmstraße und auf der anderen Straßenseite vor der Botschaft der UdSSR waren die Bauarbeiten an der neuen Nord-Süd-Verbindung der S-Bahn nahezu abgeschlossen. Am 27. Juli, also vier Tage vor Eröffnung der Olympischen Spiele, sollte der Tunnel zwischen den Stationen Stettiner Bahnhof und Unter den Linden feierlich eingeweiht werden. Kappe wusste nicht so recht, ob er sich darüber freuen sollte. Einerseits war es schön, dass es eine neue S-Bahn-Linie gab, bald sollte es ja auch bis zum Potsdamer Platz und zum Anhalter Bahnhof weitergehen, andererseits aber war es ein Bauwerk der Nationalsozialisten. Er wandte sich ab und bog in die Wilhelmstraße ein.
An der Ecke zur Dorotheenstraße kam ihm eine Gruppe Radler entgegen. Offensichtlich Arbeiter aus Kreuzberg, die mit ihren Frauen zum Baden am Tegeler See gewesen waren und nun nach Hause wollten. Ein Trupp Braunhemden näherte sich vom Reichstag her, einer trug eine Hakenkreuzfahne. Als keiner der Radfahrer mit «Heil Hitler!» grüßte und den Arm zum «Deutschen Gruß» heben wollte, rissen sie den letzten Arbeiter vom Rad und schlugen ihm mit den Worten «Kannst du Hund nicht grüßen!» mehrmals ins Gesicht.
Kappe konnte das alles nur ertragen, wenn er sich einredete, es sei ein Film und er könne das Kino jederzeit verlassen, um ins normale Leben zurückzukehren. Das normale Leben … Das gab es ringsum in Dänemark, Holland, Belgien, Frankreich und der Schweiz, aber nicht mehr in Deutschland. Dann musst du eben auswandern! Er wusste genau, dass er zu einem solchen Schritt nicht fähig war. Es fehlten ihm der Mut und die Kraft dazu, und außerdem wäre Klara niemals mitgekommen, dazu war sie zu sehr ins «völkische Leben» eingebunden. Alles war hoffnungslos. Sein einziger Trost war, dass es vielen Hunderttausenden noch schlechter ging als ihm, wie etwa dem Mann, den er gleich treffen würde.
Trampe, nun auch schon 58 Jahre alt, arbeitete seit ein paar Monaten als Elektroinstallateur in einer kleinen Klitsche in den Höfen an der Hasenheide. Diesen Beruf hatte er erlernt, bevor er sich als Journalist und Funktionär betätigt hatte. Mit dem Verbot der SPD war seine Karriere schlagartig zu Ende gewesen, und er hatte insofern Glück gehabt, als er mit einem zu Brei geschlagenen Gesicht davongekommen war, nachdem ihn die SA im September 1933 abgeholt und in ihren Folterkeller in der Hedemannstraße geschleppt hatte. Dreizehn Stunden hatte er bis zum Hals in einem Wasserbecken gestanden, dann hatten die SA-Schergen eingesehen, dass er wirklich keine Ahnung von den Aktivitäten Carl Severings hatte, des ehemaligen SPD-Politikers und Reichsinnenministers.
Pünktlich um 19.30 Uhr stieg Trampe an der Ecke Hermann-Göring-Straße/Hindenburgplatz aus der Straßenbahn. Sie begrüßten sich wie zwei Fremde - sicher war sicher - und vermieden es, allzu dicht nebeneinanderher zu gehen. Es gab einiges zu erzählen.
Mit einem bitteren Lächeln berichtete Trampe vom Schicksal einiger Weggefährten. «Manche kommen schon wieder frei. Rudolf Ziegenhagen, der Buchhändler von der Allgemeinen Arbeiter Union, sitzt seit Januar 1934 im KZ Lichtenberg und soll Anfang Oktober entlassen werden, und Wilhelm Krüger schon in vierzehn Tagen. Der ist vor zwei Jahren wegen ‹Vorbereitung zum Hochverrat› verurteilt worden und sitzt seitdem in Tegel, zusammen mit Franz Klühs, das war ein ehemaliger Kollege von mir, Redakteur beim Vorwärts.»
Kappe wollte es so genau nicht wissen, er vermutete aber, dass der Freund irgendwie mit der sogenannten Gruppe Nordbahn in Verbindung stand. Von deren Existenz wusste er, seit er in der Kantine Gestapo-Leute belauscht hatte. Man vermutete, dass Hermann Schlimme, ein früherer Sekretär des Allgemeinen Deutschen Gewerkschaftsbundes (ADGB), und einige Reichsbannerleute aus SO 36 und Baumschulenweg auch nach der Verhaftungswelle von 1933/34 ihre illegale Arbeit fortsetzten und Verbindung zum SPD Vorstand in Prag unterhielten. Man wollte jemanden in diese Gruppe einschleusen, und der sollte die Nordbahner dann ans Messer liefern.
Um sich nicht weiter auf vermintes Gelände zu begeben, erzählte Kappe von seiner Familie. Die beiden großen Kinder hätten keinerlei Schwierigkeiten in der Lehre und der Schule, glaubten aber immer mehr an den Quatsch, den sie in HJ und BDM zu hören bekämen. «Und Klara bestärkt sie noch in allem, während ich es nicht wage, den Mund aufzumachen. Das ist mein ganzer Widerstand, mehr würde uns alle gefährden.» Er kam sich jämmerlich vor.
Trampe versuchte, ihn zu trösten, indem er berichtete, dass bei Ullstein drei Mann fristlos entlassen worden waren, weil sie bei einem Betriebsappell nichts in die Sammelbüchsen getan hatten.
«Am Schwarzen Brett hat dann ein Anschlag gehangen, auf dem die Belegschaft darüber informiert worden ist, dass die drei sich gegen die Betriebs- und die Volksgemeinschaft vergangen hätten und die Kollegen sich deshalb weigerten, noch länger mit ihnen zusammenzuarbeiten.»
«Mir geht leider alles Heldenhafte ab», bekannte Kappe.
«Quatsch!», rief Trampe. «Schon dass du nicht in der NSDAP
bist und deine Fahne nach dem Wind hängst, ist eine Menge.»
«Danke, aber …» Kappe war von einer umfassenden Lethargie erfüllt und fühlte sich auch am helllichten Tage wie ein Schlafwandler.
Als sie an der Ecke Friedrichstraße angekommen waren, erkundigte sich Trampe, was es bei ihm beruflich Neues gebe.
Kappe zögerte mit einer Antwort. «Nicht viel. Leider … oder Gott sei Dank. Heute Nachmittag hatten wir eine Leiche an der Stößenseebrücke. Männlich, 33 Jahre alt, vor dem eigenen Keller erschlagen und in den Grunewald verbracht. Noch keine heiße Spur, nichts.»
«Und wie heißt der Mann, wenn man fragen darf?»
«Dienstgeheimnis», antworte Kappe. «Aber morgen früh steht es ja sowieso in allen Zeitungen: Wanzka, Karl-Heinz Wanzka, Kellner und noch vieles mehr.»
«Wanzka!», rief Trampe. «Der aus der Naunynstraße?»
«Ja. Kennst du den?»
Trampe nickte. «Klar, den kennt doch jeder im Kiez. Für die einen ist er ’ne fiese Ratte, Spitzname die Wanze, für die anderen ein liebenswerter Schlawiner und Frauenheld. Überall schnüffelt er herum und weiß immer alles …», er stockte, «… wusste immer alles … Man muss ja nun in der Vergangenheitsform über ihn reden, und über Tote soll man nichts Schlechtes sagen, aber …»
Kappe war neugierig geworden. «Aber?»
«Für mich war er immer das, was die Braunen so gerne von uns behaupten, für mich war er ein gewissenloser Lump, um den es nicht weiter schade ist.» Trampe wurde lauter. «Ich möchte nicht wissen, wie viele von uns er verpfiffen hat, so dass sie jetzt im Gefängnis oder im KZ sitzen. Ich weiß genau, dass er Zuträger von diesem Zäcklau ist … beziehungsweise war.»
Kappe zuckte zusammen. «Zäcklau?»
«Ja, und ich würde mich nicht wundern, wenn der ihn aus dem Verkehr gezogen hat, weil Wanzka zu viele Interna kannte und für Zäcklau langsam gefährlich wurde.»