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EINS

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HERMANN KAPPE schreitet durch das Haus III der Strafanstalt Tegel. Allein. Weit und breit ist kein Beamter zu sehen. Links und rechts von ihm werden die Zellentüren aufgerissen. Gefangene stürzen auf ihn zu und kesseln ihn ein. Sie sind nicht nur mit Knüppeln, sondern auch mit Folterinstrumenten bewaffnet: Würgeisen, Mundbirnen, Knieschrauben, Judaswiegen, Peitschen und spanischen Stiefeln. Einige halten Transparente in den Händen, und Kappe liest:

DU HAST UNS AUF DEM GEWISSEN! WIR SIND KEINE TÄTER, WIR SIND ALLE DEINE OPFER. DIE RACHE IST UNSER!

Einer der Insassen wirft ihn zu Boden, andere knien sich auf seine Arme und Beine und halten ihn fest. Kappe liegt auf dem Rücken, zappelt und wimmert. Er sieht einen Mann mit einem Käfig auf sich zukommen, in dem eine riesige Ratte kauert. Man setzt ihm das Tier auf den Bauch und stülpt den Käfig darüber. Neben ihm wird ein Feuer angezündet, und in ihrer Todesangst will sich die Ratte einen Weg durch seinen Bauch kratzen und nagen.

Sein Wimmern wird zu einem Schrei, der so laut ist, dass Klara hochfährt und ihn wachrüttelt. «Hermann, es ist alles gut, du liegst zu Hause im Bett! Das war nur wieder dein Alptraum.»

Als Kappe am nächsten Morgen im Büro saß und seinen geliebten Telegraf studierte, wusste er auch, was seinen Angsttraum ausgelöst hatte: das Interview am letzten Dienstag. Heute hatte man es abgedruckt:

Warten auf die letzte Leiche

Kriminalkommissar Hermann Kappe vor der Pensionierung – 44 Jahre auf Verbrecherjagd

Seinen ersten Fall hat er noch zu Kaisers Zeiten gelöst: 1910 ging es um eine verkohlte Leiche in Moabit. Da war er gerade aus Storkow nach Berlin gekommen. Das Licht der Welt hat Hermann Kappe am 11. Februar 1888 in Wendisch Rietz erblickt. Sein Vater wie sein Großvater waren Fischer, und auch er hat heute gelegentlich mit Fischen zu tun, mit «nassen Fischen», wie man im Jargon der Kripo die ungelösten Fälle nennt.

Als Junge spielte er am liebsten Räuber und Gendarm, und so zog es Hermann Kappe nach Ende seiner Schulzeit auch zur Polizei. Bald durfte er in Storkow für Ruhe und Ordnung sorgen. Eines Nachts hob er dort ein Blechschild auf, das Diebe in einem Eisenbahnwaggon abgeschraubt hatten, und steckte es in die Brusttasche seiner Uniform. Dieses Schild sollte ihm wenig später das Leben retten. In einer Villa am Storkower See hatte ein Einbrecher den Major Ferdinand von Vielitz in seine Gewalt gebracht. Als Kappe den Einbrecher überwältigen wollte, schoss der ihm in die Brust – und die Kugel blieb in dem Blechschild stecken. So konnte Kappe den Bösewicht doch noch hinter Schloss und Riegel bringen. Zum Dank ließ der Major seine Beziehungen spielen und verschaffte ihm eine Stelle bei der Berliner Kriminalpolizei. Dort ging Kappe beim großen Ernst Gennat in die Schule – und ist inzwischen fast schon selbst eine Legende.

Ende Juli wird Hermann Kappe in den Ruhestand eintreten, und das lässt ihn schon heute ein wenig unruhig werden. «Ich gespannt auf meinen letzten Fall und hoffe, bei der Ergreifung des Täters nicht den Heldentod zu sterben», sagt der altgediente Kommissar und legt dabei ein verschmitztes Lächeln an den Tag. «Aber was ich schon alles überlebt habe! Den Kaiser, Adolf Hitler und die Naziherrschaft, die Bomben der Alliierten, das Kriegsende, die Blockade …ganz abgesehen einmal von den vielen Kugeln, die Täter auf mich abgefeuert haben. Da kommt schon einiges zusammen.» Über die Frage, wie viele Mörder er in seinen langen Dienstjahren festgenommen habe, muss Kappe einige Sekunden nachdenken. «Nehmen wir bloß einmal fünf bis sechs im Jahr, dann sind das fast 250 – unglaublich!» Ob er nicht Angst habe, dass sich mancher Verbrecher an ihm rächen wolle, wenn er wieder auf freiem Fuße ist? Erneut lächelt Kappe. «Nein. Die meisten bekommen ja lebenslänglich.» Auf die Frage, ob er schon einmal einem Täter aus Mitleid die Flucht ermöglicht habe, weiß Kappe schnell eine Antwort. «Keinem Täter, aber einem Tatverdächtigen. Das war ein Jude, der sich in einer Wilmersdorfer Laubenkolonie versteckt hatte. Und einem Täter wäre ich vor Freude sogar um den Hals gefallen, wenn es ihn denn gegeben hätte: dem Mörder Adolf Hitlers.»

Kappe war schon immer ein verkappter Sozialdemokrat, und dass er jetzt sogar ordentliches SPD-Mitglied ist, kommentiert er mit einer gehörigen Portion Selbstironie. «Da gehöre ich hin. Und was soll Lenin über uns gesagt haben? ‹Revolution in Deutschland? Das wird nie etwas. Wenn diese Deutschen einen Bahnhof stürmen wollen, kaufen die sich eine Bahnsteigkarte!›» Neben der Mörderjagd waren für Hermann Kappe immer seine Frau und seine drei Kinder sehr wichtig. Als wir auf seine Familie zu sprechen kommen, kann er ein leises Stöhnen jedoch nicht ganz unterdrücken. «Mein Ältester ist zwar in meine Fußstapfen getreten, aber zur Kripo in Ost-Berlin gegangen – und Mitglied der SED ist er auch noch!»

Was er sich am meisten wünsche, frage ich Hermann Kappe zum Abschluss unseres Gesprächs. «Das, was im RIAS immer gesungen wird: ‹Der Insulaner hofft unbeirrt, dass seine Insel wieder ’n schönes Festland wird› …Die deutsche Wiedervereinigung.» Bis dahin wird es noch viele Morde geben, aber die aufzuklären wird Aufgabe der jüngeren Kollegen sein, unter denen auch sein Neffe Otto zu finden ist. «Noch aber bin ich im Dienst», betont Hermann Kappe, «und mir gehört der nächste Fall!»

Auge um Auge

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