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DREI

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HERMANN KAPPE war ein Familienmensch, und sein alter Weggefährte Gustav Galgenberg hatte einmal gespottet, dass das auch nicht verwunderlich sei: «Wer et jeden Tag mit Mördern zu tun hat, muss doch automatisch alle lieben, die ihm nüscht weita tun und ihn nur mit kleinen Sticheleien traktieren.» Da war etwas Wahres dran. Kappe hing an seiner Familie, auch wenn es zwischen ihnen schon oft gekracht hatte. Aber nichstdestowenigertrotz, wie das auf Berlinisch hieß, hielten sie noch immer zusammen und trafen sich zumindest dann alle, wenn einer von ihnen Geburtstag hatte. Und bei einer Großfamilie wie der seinen geschah das eigentlich andauernd. Diesmal, am 4. April, wurde sein Neffe Otto 43. Otto war der Sohn seines älteren Bruders Oskar und außerdem ein Kripo-Kollege.

Nur ein vergleichsweise kleiner Kreis war nach Charlottenburg in den Horstweg gekommen, wo Otto Kappe mit seiner Frau Gertrud und dem Sohn Peter schon seit Jahren zu Hause war: Otto Kappes Eltern Frieda und Oskar, seine beiden Schwestern mit ihren Männern und Kindern, Hertha Börnicke, eine Tante um drei Ecken, und schließlich Hermann Kappe mit seiner Klara.

Obwohl man sich schon seit Jahrzehnten kannte, ging es beim Kaffeetrinken doch ein wenig förmlich zu, und Hertha Börnicke, derzeit als Journalistin beim RIAS engagiert, wollte wieder einmal unter Beweis stellen, dass sie die einzige Intellektuelle in der Familie Kappe war, und sah es als ihre Pflicht an, das Niveau hochzuhalten. «Geht einer von euch am Mittwoch zu der Demonstration in Reinickendorf?»

«Nein. Was is’n da?»

«Hasso von Manteuffel kommt.»

Oskar Kappe lachte. «Der aus der Manteuffelstraße in SO 36 oder aus der in Tempelhof?»

«In Lichtenrade gibt es auch noch eine», fügte Hermann Kappe hinzu und gab sein historisches Wissen zum Besten. «Die in Kreuzberg ist nach einem konservativen preußischen Politiker benannt worden, Otto Theodor Freiherr von Manteuffel, und die in Tempelhof und Lichtenrade haben ihren Namen vom Generalfeldmarschall Edwin Freiherr von Manteuffel.»

«Und was ist nun mit Hasso?», wollte Otto Kappe wissen.

«Det is der Hund von mei’m Nachbarn!», rief sein Vater.

«Bitte!» Für Hertha Börnicke war das Thema zu ernst, um herumzualbern. «Hasso von Manteuffel war Kommandeur der Panzergrenadier-Division Großdeutschland und hat 1944 einen Soldaten wegen Feigheit vor dem Feind erschießen lassen. Jetzt sitzt er für die FDP im Bundestag. Die geplante Demonstration richtet sich gegen ihn.»

«Man sollte wirklich hingehen und mitmachen», meinte Hermann Kappe.

«Wenn dahinter man nicht die DDR steckt», fürchtete seine Frau.

Das leitete über zu Hermann und Klara Kappes ältestem Sohn Hartmut. «Warum ist’n der nicht zu Ottos Geburtstag gekommen?», fragte Frieda Kappe.

«Ach Mutter!», rief Otto. «Hartmut ist doch bei der Kripo-Ost, und deshalb ist es ihm unter hohen Strafen verboten, nach West-Berlin zu kommen, sowohl dienstlich als auch privat.»

Oskar Kappe lachte. «Und wenn nun einmal jemand eine Leiche zerlegt und dann einen Teil in West-Berlin und den anderen in Ost-Berlin versteckt? So wie vor ein paar Jahren diese mordende Krankenschwester Elisabeth Kusian, die der ‹Kalte Engel› genannt wurde?»

Zu dieser Frage wollten alle etwas beisteuern. Hermann Kappe hatte in solchen Momenten einige Mühe, die Mitglieder seiner Sippe auseinanderzuhalten, und deshalb schon mal vorgeschlagen, sie wie beim Fußball mit Rückennummern zu versehen. Beim Abendessen kam er wieder gehörig durcheinander. «Klaus, gibst du mir bitte mal die Butter rüber?»

«Onkel Hermann, ich bin doch Lothar!»

Peinlich, insbesondere für einen Kriminalbeamten! Sofort spottete sein Bruder Oskar, er solle bloß nicht mal den Täter mit dem Opfer verwechseln. «Und das so kurz vor deiner Pensionierung!»

«Das war ein Tritt ins Fettnäpfchen!», rief Klara, denn sie wusste nur allzu genau, wie ungern ihr Mann an dieses Thema erinnert wurde. Kappe hatte schwer daran zu knabbern, dass man ihn am 31. Juli dieses Jahres in den Ruhestand schicken würde. Gnadenlos und trotz aller seiner Verdienste.

Seine Cousine Hertha Börnicke, mit ihren 61 Jahren auch nicht viel jünger als er, wollte ihr Einfühlungsvermögen beweisen und meinte, es sei bestimmt schwer auszuhalten, wenn man plötzlich zum alten Eisen gehöre. Auf dieses Stichwort hin begann man nun, Witze über alternde Männer zu erzählen.

Otto Kappe hatte den ersten auf Lager. «Kommt ein Achtzigjähriger zum Arzt und sagt: ‹Herr Doktor, ich habe Schmerzen im linken Knie.› Sagt der Arzt: ‹Das ist normal, das liegt am Alter.› Da staunt der Achtzigjährige: ‹Das kann nicht sein, mein rechtes Knie ist genauso alt, und in dem habe ich überhaupt keine Schmerzen!›»

Seine Frau setzte noch einen drauf. «Kommt ein Neunzigjähriger zum Arzt und klagt über das gesamte Wohlbefinden. Sagt der Arzt zu ihm: ‹Ich verschreibe Ihnen ein paar Moorpackungen.› Der alte Mann ist skeptisch und fragt: ‹Herr Doktor, hilft das denn?› Antwortet der Arzt: ‹Hm, das nicht …Aber sie gewöhnen sich schon mal an die feuchte Erde.›»

Die Stimmung stieg von Minute zu Minute. Das lag auch an dem italienischen Rotwein, den Oskar Kappe jetzt in seinem Laden in der Yorckstraße zusätzlich zu Zeitungen und Zigaretten verkaufte. Und als er dann zum Plattenspieler seines Sohnes ging und seine Lieblingslieder auflegte, sangen alle im Chor mit René Carol:

Rote Rosen, rote Lippen, roter Wein

laden uns ein, laden uns ein.

Doch wenn die Sterne steh’n,

ist Italien doppelt schön.

Wenn die Nacht herniederfällt,

vergisst man die Welt.

So richtig sentimental aber wurden sie, als Oskar Kappe die Platte mit Willy Schneider auflegte. «Für alle, die heute Geburtstag haben, und erst recht für die, die schon auf die siebzig zugehen: Man müsste noch mal zwanzig sein.» Beim Refrain hatte Hermann Kappe Tränen in den Augen.

Man müsste noch mal zwanzig sein

und so verliebt wie damals,

und irgendwo am Wiesenrhain

vergessen die Zeit.

Und wenn das Herz dann ebenso

entscheiden könnt’ wie damals,

ich glaube, dann entschied es sich

noch mal, noch mal für Dich!

Da nahm Hermann Kappe dann seine Klara in den Arm und drückte sie an sich.

In diesem Moment klingelte das Telefon. Otto Kappe machte eine abwehrende Handbewegung. «Ich geh nicht ran, heute am Geburtstag habe ich keinen Bereitschaftsdienst.»

«Ich aber!», rief Hermann Kappe und eilte zu dem kleinen Tischchen im Flur, auf dem das schwarze Telefon stand. Und richtig, der Anruf war für ihn.

«Mordanschlag in Steglitz, Muthesiusstraße. Vor der Nummer 14 sind mehrere Schüsse auf einen Mann mittleren Alters abgegeben worden. Der oder die Täter sind flüchtig.»

«Ich komme!»

Das war leichter gesagt als getan, denn Kappe besaß keinen eigenen Wagen, und sein Bruder wie sein Neffe hatten schon zu viel getrunken, als dass sie sich noch hinters Steuer setzen konnten. Also musste Kappe sich eine Taxe rufen.

«Dein letzter Fall!», rief ihm sein Bruder Oskar hinterher. «Den musst du noch mal so richtig genießen!»

Diese Bemerkung traf Kappe wie ein Pfeil in den Rücken. Der letzte Fall – danach würde ein tiefes Loch folgen. Ein Leben ohne Sinn und Ziel. Blieb nur noch das Warten auf den Tod.

Das Taxi kam. Als Privatmann hätte er sich einen solchen Luxus nicht leisten können, und Kappe konnte nur hoffen, dass ihm sein Dienstherr den Fahrpreis erstattete. Er stieg hinten ein und nannte das Fahrziel.

Der Taxifahrer lachte. «Wenn Se da noch wat essen woll’n, wer’n Se Pech ham. Det heißt zwar Steaklitz, aba et jibt da keene Steaks.»

Kappe brauchte eine Weile, um das zu begreifen. Dann sagte er: «Nein, nein, ich komme gerade von einer Geburtstagsfeier und habe schon gegessen.»

«Und jetz’ jeht et nach Hause?»

Kappe fühlte sich wie in einem Verhör und antwortete deshalb vage: «Wo ist man schon zu Hause?» War er an jedem Tatort zu Hause? Er hatte Marlene Dietrichs Stimme im Ohr:

Ich bin von Kopf bis Fuß

auf Liebe eingestellt,

denn das ist meine Welt.

Und sonst gar nichts.

Das ist, was soll ich machen,

meine Natur …

Seine Natur war seit Jahtzehnten auf Mordermittlungen eingestellt, sonst gab es da nicht viel. Sicher, er hatte Klara, die Kinder, die Familie, aber sein Beruf war für ihn immer die Erfüllung gewesen. Und nun?

Seit 1910 lebte Kappe in Berlin und war stolz darauf, nahezu jede größere Straße zu kennen. So hatte er auch jetzt die optimale Route im Kopf. Wollte der Taxifahrer Umwege fahren, konnte er ihn sofort zurechtweisen. Es war zwar nicht sein Geld, aber trotzdem. Kappe hatte schon einige schlechte Erfahrungen mit Taxifahrern gemacht. Nicht nur, dass sie oft ein paar Kilometer mehr herausschlagen wollten, viele von ihnen redeten auch ohne Unterbrechung.

Sein Fahrer heute war keine Ausnahme und zählte ihm alle bekannten Persönlichkeiten auf, die er in letzter Zeit gefahren hatte, vom Boxer Bubi Schulz über den Schlagersänger Bully Buhlan bis hin zum Volksbildungssenator Joachim Tiburtius.

«Da haben Sie ja wirklich einen schönen Beruf», sagte Kappe etwas gelangweilt.

«Und wat machen Sie?»

Kappe wich aus. «Ich sorge dafür, dass Menschen bekannt werden und in die Presse kommen.»

«Ah, Sie sind vom Fülm und entdecken Schauspieler?»

«Nee, ich bin von der Kripo und suche keine Filmsternchen, sondern Mörder. Und es gibt durchaus welche, die richtige Berühmtheiten geworden sind. Der Haarmann aus Hannover zum Beispiel oder der Berliner S-Bahn-Mörder.»

Der Taxifahrer lachte. «In mei’m Beruf wer’n wir ja imma nur amordet, wir sind keene Mörda.»

Endlich waren sie in der Muthesiusstraße angekommen. Vor einem der Mietshäuser aus der Gründerzeit standen zwei Funkwagen. Das musste die Nummer 14 sein. Kappe bezahlte und ließ sich eine Quittung geben.

«Na dann, the hunt is on

Kappe staunte über so viel Fremdsprachenkenntnisse, aber der Mann fuhr sicher auch die englischsprachigen Stars der Filmfestspiele durch die Stadt. Kaum war Kappe ausgestiegen, kam ein junger Mann auf ihn zu: sein neuer Assistent Günter Kynast. In einem Film mit dem Titel Ein Amerikaner in Berlin hätte er die Hauptrolle spielen können. Kynast war ein Typ von Kollege, wie Kappe ihn bisher noch nicht erlebt hatte. Auf seinem Steckbrief hätte Folgendes gestanden:

Geboren: 2. Oktober 1927 in Berlin.

Wohnhaft: Neukölln, Silbersteinstraße 70 (unweit Hermannstraße).

Bildung/Beruf: Mit 17 Jahren nach Niedersachsen evakuiert, dort als Schüler zum Volkssturm gekommen, englische Kriegsgefangenschaft. Rückkehr nach Berlin und dort Ausbildung zum Schutzpolizisten. Hervorragende dienstliche Leistungen, nach Abschluss der notwendigen Weiterbildungsmaßnahmen 1953 Kriminalassistent.

Familie/Privatleben: Vater Briefträger, Mutter Verkäuferin bei Koffer-Panneck in der Karl-Marx-Straße in Neukölln. Nicht verheiratet, ständig neue «Bräute», Stammbesucher in der «Eierschale» am Breitenbachplatz.

Äußeres: Gutaussehend, Typ James Dean, amerikanisiert.

Charakter: Das Leben genießend, keine großen Zukunftspläne, schlagfertig bis schnoddrig, berlinert aber nur in Maßen.

Vorlieben: Tanzen, liebt Rock ’n’ Roll, alle Sportarten, vor allem Motorsport und Fußball (passiv Tasmania 1900, aktiv VfB Britz). Abneigung gegen bürgerliche Hochkultur, hasst insbesondere Opern.

Den «ersten Angriff», wie es in der Fachsprache hieß, hatten Kynast und die Kollegen von der Spurensicherung schon hinter sich, und Kappes Assistent hatte eine ganze Menge zu berichten. «Gegen 21 Uhr 45 sind vor dem Hause Muthesiusstraße 14 mehrere Schüsse auf einen gewissen Doktor Karl-Heinz Waschinsky abgegeben worden. Die ersten beiden haben ihn verfehlt. Dann zielte der Täter auf die unteren Körperpartien, und Waschinsky wurde durch Kugeln in den Oberschenkel und den Bauch lebensgefährlich verletzt. Man hat ihn nach Halensee ins Salernitana-Krankenhaus gebracht.»

«Hm …Danke.» Kappe suchte seine Gedanken zu ordnen. «Woher wissen Sie, dass der Mann auf den schönen Namen Wyschinski hört? Das ist doch hoffentlich nicht dieser berüchtigte Andrei Wyschinski?» Der hatte als Generalstaatsanwalt bei Stalins Säuberungsaktionen entscheidend mitgewirkt und war bis zum vergangenen Jahr sowjetischer Außenminister gewesen.

Kynast lachte. «Das gäbe ja was. Nee, unser Mann heißt Waschinsky, mit a vorne und y hinten. Er ist wissenschaftlicher Oberassistent an der FU, Friedrich-Meinecke-Institut. Das steht in seinen Papieren. Die Brieftasche war ihm aus dem Jackett gefallen.»

«Ah ja.» Kappe hatte noch immer die Stimme seines Bruders im Ohr: Dein letzter Fall! Den musst du noch mal so richtig genießen! Nach dem, was er eben gehört hatte, schien die Sache Waschinsky recht ungewöhnlich zu sein. Es musste schon einen sehr gewichtigen Grund geben, einen Mann aus dem akademischen Mittelbau der Freien Universität auf offener Straße zu erschießen. Und Kappe wäre kein Kind der Frontstadt West-Berlin gewesen, wenn er nicht sofort an ein politisches Motiv gedacht hätte. Hoffentlich kamen nicht die Amerikaner und rissen die Ermittlungen an sich! Immerhin gehörte der Bezirk Steglitz zu ihrem Sektor. Wollte Kappe den Anschlag auf diesen Waschinsky selbst aufklären, musste er den Eindruck vermitteln, dass es sich mit hoher Wahrscheinlichkeit um eine Beziehungstat handelte. Aber welche enttäuschte oder verlassene Frau in West-Berlin konnte schon auf eine Schusswaffe zurückgreifen?

«Sie sind so schweigsam.» Kynast sah ihn fragend an.

«Nun, nach so vielen Dienstjahren, wie ich sie auf dem Buckel habe, sucht man erst einmal sein Gedächtnis nach ähnlichen Fällen ab, um Ansatzpunkte für die Tätersuche zu finden. Haben Sie schon Zeugen auftreiben können?»

«Ja, den Mann da im Funkwagen.» Kynast zeigte auf die andere Straßenseite hinüber. «Das ist der Tischlergeselle Herbert Friemel. Leider hat er einen über den Durst getrunken, was seine Wahrnehmung etwas getrübt haben dürfte.»

Kappe war verblüfft angesichts der geschliffenen Sprache seines neuen Kollegen. Erstaunlich für einen Neuköllner! Wenn Kynast so weitermachte, landete er bestimmt noch mal im höheren Dienst. «Gut, gehen wir zu unserem Tischler hinüber, dann werden wir ja sehen, ob sich aus Friemels Beobachtungen etwas friemeln lässt.»

«Wie?» Kynast hatte dieses Verb noch nie gehört.

«Friemeln bedeutet basteln.»

Herbert Friemel schien schon wieder halbwegs nüchtern, als sie ihn befragten. «Also, ick komme von da Haltestelle inna Schloßstraße und will nach Hause. Ick wohne da hinten inne Lepsiusstraße und muss imma durch die Muthesius durch. Da kommt ’n Pkw vonna Schloßstraße her, janz langsam. Und dann wird ooch schon jeschossen. Ick hab ma lang uff’n Boden jeworfen, schließlich war ick mal bei da Infantrie. Als ick den Kopp wieda hebe, rast der Pkw los Richtung Lepsiusstraße.»

«Können Sie uns sagen, was der Wagen für eine Nummer hatte, oder wenigstens, um welche Marke es sich gehandelt hat?» Kappe holte schon hoffnungsvoll seinen Notizblock hervor, wurde aber bitter enttäuscht.

«Nee, kann ick nich, so dunkel, wie det uff da Straße hier is, bei die Funzeln alle. Und wat für ’ne Marke det war – keene Ahnung.»

Sie ließen sich die Adresse des Tischlergesellen geben und machten sich dann auf die Suche nach weiteren Zeugen. Es fanden sich jedoch keine mehr.

«Bleibt uns wohl nichts weiter, als abzuwarten», zog Kappe ein erstes Resümee. «Über die Waffe, aus der die Schüsse abgegeben worden sind, werden wir frühestens morgen etwas erfahren. Die Frage ist, ob wir noch bei den Nachbarn klingeln oder gleich ins Krankenhaus fahren. Möglicherweise ist Waschinsky schon ansprechbar. In seine Wohnung kommen wir so ohne weiteres ohnehin nicht rein.»

Kynast überlegte einen Augenblick. «Ich würde vorschlagen, es erst einmal bei seinen Nachbarn zu probieren.»

Kappe nickte. «Die liegen wahrscheinlich sowieso alle in den Fenstern und warten schon auf uns.»

In der nächsten Stunde erhielten sie ein einigermaßen detailliertes Persönlichkeitsbild des Niedergeschossenen. Am besten hatte es Waschinskys direkte Nachbarin zu formulieren gewusst, Frau Dr. Isolde Lauchstädt, Oberstudienrätin für Deutsch und Latein: «Ein sehr verschlossener Mensch, der immer darauf geachtet hat, dass er im Treppenhaus niemandem begegnet ist. Wenn es sich einmal nicht vermeiden ließ, ist er an einem vorbeigehuscht wie ein Schatten. Nun, seine Figur erinnert ja ohnehin nicht gerade an einen Jötun.»

«Einen was bitte?»

«Ein Jötun ist in der germanischen Mythologie ein Riese.»

«Ah ja, danke.»

«Wenn Herr Waschinsky zu Kongressen unterwegs war, hat er mich gelegentlich gebeten, auf seine Wohnung Obacht zu geben. Einmal, als es über ihm einen Wasserschaden gegeben hat, habe ich sie auch betreten. Dabei ist mir etwas Merkwürdiges aufgefallen: In den Bücherregalen habe ich zahlreiche historische Fachzeitschriften gesehen, und gleichzeitig hat er Karl May gelesen, also Trivialliteratur, wie sie eines Akademikers nicht würdig ist. Auf der Anrichte standen Photos seiner Frau und seiner beiden Kinder, alle im Krieg ums Leben gekommen. De profundis clamavi ad te, Domine!»

«Zu welcher Domina hat er gerufen?», fragte Kynast, der sich im Katalog des Versandhauses Beate Uhse bestens auskannte.

Frau Dr. Lauchstädt strafte ihn mit einem strengen Blick. «Ich übersetze, da Sie sicherlich kein Latinum haben: Aus Abgrundtiefen rufe ich zur dir, Herr! Was ich damit meine, liegt doch auf der Hand: Manches Sonderbare an Herrn Waschinsky, wie seine sprachliche Auffälligkeit, erklärt sich wohl aus dem Schicksalsschlag, seine Familie verloren zu haben.»

«Schön und gut», wandte Kappe ein, «aber Herr Waschinsky ist nicht der Täter, sondern das Opfer. Logik, erstes Semester.» Dies hatte er nicht ohne eine gewisse Bosheit hinzugefügt, denn die Selbstherrlichkeit der Oberstudienrätin begann ihn langsam zu ärgern. Kynast schien es ähnlich zu gehen, sonst hätte er nicht nach der Domina gefragt. Dass die Damen und Herren der höheren Schichten ihn und seine Kollegen, die «nur» Beamte des gehobenen und nicht des höheren Dienstes waren, von oben herab behandelten, hatte Kappe in seinem langen Berufsleben oft genug erfahren müssen. Menschen ohne Studienabschluss oder wenigstens Abitur waren eben minderwertig. A priori, wie Frau Dr. Lauchstädt noch hinzugefügt hätte.

Dennoch bedankten sie sich bei ihr wie bei allen anderen Nachbarn. Als sie wieder auf der Straße standen, mussten sie sich aber eingestehen, dass ihnen die Gespräche nicht den geringsten Hinweis auf den oder die Täter gebracht hatten. Keiner wusste von möglichen Feinden Waschinskys, keinem war jemand aufgefallen, der ihn beobachtet oder gar verfolgt hätte.

Kappe überlegte laut: «Und dass Waschinsky ein Zufallsopfer gewesen ist, halte ich für ziemlich ausgeschlossen. Das war mit Sicherheit eine gezielte Attacke.»

Kynast sah die Sache ebenso. «Bleibt uns nichts anderes, als mit Waschinsky zu sprechen und uns weiter in seinem Umfeld umzuhören.»

«Und wenn er inzwischen schon gestorben ist?» Kappe sah auf seine neue Armbanduhr. «Oh! Es ist Mitternacht, Doktor Schweitzer

«Wie?» Kynast konnte ihm nicht ganz folgen.

«Der Film, in dem Pierre Fresnay Albert Schweitzer als Missionar in Lambarene spielt», erklärte ihm Kappe.

Kynast lachte. «Aber Waschinsky liegt doch nicht in Lambarene im Krankenhaus, sondern in Halensee.»

«Trotzdem, es ist ein ganz schönes Stück von hier bis ins Salernitana-Krankenhaus.» Kappe schloss die Augen, um den Berliner Stadtplan vor sich zu haben. «Ich schätze mal, an die fünf Kilometer. Zu Fuß sind wir da eine ganze Zeit unterwegs.» Bahnen und Busse der BVG fuhren um diese Zeit nicht mehr, vielleicht noch die S-Bahn, aber das brachte ihnen auch nicht viel.

«Dann gönnen wir uns eben eine Taxe», sagte Kynast.

«Und wenn wir die im Nachhinein nicht bewilligt bekommen?»

«Wir sagen ganz einfach, dass wir mit dem Ableben Waschinskys rechnen mussten und es daher unumgänglich war, ihn zu befragen.»

Kappe leuchtete das ein, und so fuhren sie in einer Taxe nach Halensee. Doch im Krankenhaus konnte man ihnen nichts weiter sagen, als dass Waschinsky noch nicht ansprechbar sei.

«Wird er durchkommen?»

«Wir hoffen es.»

Auge um Auge

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