Читать книгу Auge um Auge - Horst Bosetzky, Uwe Schimunek - Страница 7

ZWEI

Оглавление

DIE FREIE UNIVERSITÄT BERLIN, kurz FU, war ein Kind des Kalten Krieges. Die alte Berliner Friedrich-Wilhelms-Universität lag im Ostsektor und sollte nach dem Willen der sowjetischen Machthaber zur kommunistischen Kaderschmiede werden. Wer sich dem aktiv widersetzte, als Lehrender wie als Lernender, wurde verhaftet, in die Sowjetunion verschleppt oder sogar hingerichtet. Dennoch gab es heftige Proteste, und Ende April 1948 regte der amerikanische Militärgouverneur Lucius D. Clay die Gründung einer freien Universität in den Westsektoren an. So wurde schließlich am 4. Dezember 1948 – zur Zeit der Berlin-Blockade – die FU Berlin gegründet. Im vornehmen Ortsteil Dahlem, im amerikanischen Sektor also, hielt man in den Gebäuden der Kaiser-Wilhelm-Gesellschaft die ersten Lehrveranstaltungen ab. In deren unmittelbarer Umgebung wurde dann zur Unterbringung der einzelnen Institute eine Villa nach der anderen angemietet, so dass bald ein geradezu idyllisches Universitätsviertel entstand. Als Leitmotiv hatte sich die FU die Werte Veritas – Iustitia – Libertas, also Wahrheit, Gerechtigkeit und Freiheit, auf die Fahnen geschrieben. Gründungsrektor der Universität war der Historiker Friedrich Meinecke.

In dem nach ihm benannten Institut in der Altensteinstraße 40 arbeitete der Oberasssistent Dr. Karl-Heinz Waschinsky. Am liebsten tat er das an Sonn- und Feiertagen, weil ihn dann niemand störte. Unter der Woche verging kaum eine Viertelstunde, in der nicht ein Student, ein Kollege oder eine Sekretärin mit einem Anliegen an die Tür klopfte. Wenn Waschinsky an seiner Habilitationsschrift über die «Euthanasie» im Nationalsozialismus saß, wollte er seine Ruhe haben. Es machte ihn regelrecht krank, wenn er ständig aus seiner Arbeit gerissen wurde, und er hatte einmal gesagt, es ginge ihm wie einem Taucher: Wenn man den aus hundert Metern Tiefe ruckartig nach oben zöge, dann krepiere der auch.

Auf dem Abreißkalender an der Wand leuchte eine rote 4, darüber stand in schwarzer Schrift Sonntag und darunter April. Die Zeit musste er von seiner klobigen Armbanduhr ablesen. «Nach acht schon», murmelte er. «Nach acht schon.» Seine Ärzte hatten ihm erklärt, dass er unter einem komplexen vokalen Tic litt, unter der sogenannten Palilalie, was bedeutete, dass er automatisch die letzten von ihm gesprochenen Worte oder Sätze wiederholte. Man kannte das aus dem Film Feuerzangenbowle, in der ein Oberschulrat unter dieser Auffälligkeit litt. Bei Waschinsky hatte keiner das Leiden abstellen können. Es gab Schlimmeres.

Durch das Werk von Ernst Haeckel hatte er sich schon hindurchgearbeitet und sich am Schluss notiert:

Verweist auf die Tötung behinderter Kinder im antiken Sparta und bei den Indianern Nordamerikas. Nach Quellen suchen!

Nun war er dabei, sich mit Alexander Tille auseinanderzusetzen. Der hatte von 1866 bis 1912 gelebt und sich als Germanist, Philosoph und Funktionär mehrerer Wirtschaftsverbände hervorgetan. 1895 hatte er Von Darwin bis Nietzsche veröffentlicht, eine Abhandlung zur Entwicklungsethik. Waschinsky las mit höchster Konzentration und machte sich immer wieder Notizen wie die:

Plädiert für eine Fortpflanzungsbegrenzung bei «Schwachen». Man solle sie zudem auf die unterste soziale Stufe sinken lassen, da dort die Lebenserwartung gering sei. Nennt das Sozial-Euthanasie.

Waschinsky fuhr zusammen, denn an der Eingangstür wurde geschlossen. Einbrecher!, schoss es ihm durch den Kopf. Sein Fenster ging nach hinten raus, und deshalb konnte man von der Straße aus nicht sehen, dass bei ihm noch Licht brannte. In den Villen, die von der FU angemietet worden waren, gab es nicht viel zu holen, aber auch Schreibmaschinen, mochten sie noch so alt sein, hatten in diesen Zeiten ihren Wert. Waschinsky überlegte, ob er zum Telefon greifen oder sich hinter seinem Schrank verstecken sollte. Nein, klüger war es sich einzuschließen. Er zitterte, als er den Schlüssel herumgedreht hatte. Einmal, zweimal. Da schrie jemand etwas zu ihm in die erste Etage hinauf: «Ist da oben jemand?»

Das war sein Chef, der Institutsleiter Prof. Dr. Paul Schlipalius. Waschinsky schloss wieder auf und rief nach unten, dass er es sei.

Schlipalius antwortete: «Hallo und guten Abend! Waschinsky, Sie schaffen es noch, als erster Mensch 25 Stunden am Tag zu arbeiten.»

«… als erster Mensch 25 Stunden am Tag zu arbeiten», wiederholte Waschinsky. Immer öfter trat in der letzten Zeit neben seine Palilalie auch noch die Echolalie, das zwanghafte Wiederholen von Worten eines Gesprächspartners. «Ich habe eben stets Theodor Fontane im Kopf: Nur in der Arbeit wohnt der Frieden, Und in der Mühe wohnt die Ruhe.» Auch das wiederholte er.

Inzwischen war Schlipalius oben angekommen. Er atmete schwer. «Sie wissen, mein Lungendurchschuss bei der Kesselschlacht von Demjansk 1942. Die Soziologen nennen das teilnehmende Beobachtung.»

«Setzen Sie sich doch!» Waschinsky rückte ihm seinen eigenen Drehstuhl zurecht und begnügte sich selbst mit dem harten Besucherstuhl. «Setzen Sie sich doch!»

«Ich danke Ihnen.» Schlipalius nahm Platz und atmete erst einmal tief durch. Er wirkte wie ein englischer Konservativer, und es war sogar schon vorgekommen, dass man ihn mit dem britischen Außenminister Anthony Eden verwechselt hatte. Kein Schauspieler hätte diese Figur großartiger spielen können, und niemand zweifelte daran, dass der Historiker auf den Berliner Bühnen eine gute Figur gemacht hätte. Schlipalius hatte an verschiedenen Universitäten studiert und schließlich 1931 bei Wilhelm Mommsen in Marburg mit einer Arbeit über Max Weber und der Nationalsoziale Verein promoviert.

«Darf ich fragen, was Sie zu so später Stunde in das Institut treibt, Herr Professor?»

Schlipalius wartete, bis der begabteste Assistent, der jemals in der Altensteinstraße aufgetaucht war, seine Frage wiederholt hatte. Er wusste in etwa, was Waschinsky in der NS-Zeit Schreckliches durchgemacht hatte. Seine vokalen Tics waren wohl eine Folge davon. Schlipalis bedauerte, dass sie zu Hohn und Spott reizten. Einmal hatte er jedoch konstatiert, dass diese Tics für eine Tätigkeit an der Universität außerordentlich nützlich seien, weil man den Studenten sowieso alles zweimal erzählen müsse. Mindestens.

«Warum ich hier bin?» Schipalius lachte. «Wegen meiner Berufskrankheit: Zerstreutheit. Ich fliege morgen in aller Herrgottsfrühe zu diesem Kongress nach München und habe gestern vergessen, meine Unterlagen mitzunehmen.» Da er es nicht sonderlich eilig hatte, zu seiner Gattin heimzukehren und mit ihr gemeinsam den RIAS zu hören, plauderte er noch ein wenig mit Waschinsky. «Sie waren doch auch dabei, am 9. Februar, als unsere Studenten vor dem Kant-Kino gegen Sterne über Colombo protestiert haben? Mit Niespulver, Stinkbomben und 250 weißen Mäusen, die sie im Kinosaal ausgesetzt haben.»

«Ja, gegen diesen Film von Veit Harlan musste man ja vorgehen.» Waschinsky verzog das Gesicht. Er konnte sich noch an Harlans Film Jud Süß aus dem Jahre 1940 erinnern. Das war wohl der schlimmste antisemitische Hetzfilm gewesen, den Goebbels hatte drehen lassen.

«Harlan hat mit Jud Süß die Propaganda der Nationalsozialisten maßgeblich unterstützt», spann Schlipalius den Faden weiter. «Aber was machen die Leute heute? Sie reden nicht über diesen schrecklichen Film, sondern lieber über Veit Harlans Frau, Kristina Söderbaum, auch ‹Reichswasserleiche› genannt. Und darum, lieber Waschinsky, ist Ihre Monographie über die ‹Euthanasie› auch so eminent wichtig. Sie wird die Leute aufrütteln. Schluss mit diesem Neo-Biedermeier! Wir müssen offen darüber reden, was zwischen 1933 und 1945 Entsetzliches geschehen ist, so qualvoll das auch sein mag.» Damit erhob sich Schlipalius. «Ich muss nach Hause, sonst alarmiert meine Frau noch die Polizei. Sagen Sie, ich fahre doch in Ihre Richtung, soll ich Sie nicht mitnehmen?»

«Sehr aufmerksam, Herr Professor, aber ich gehe lieber zu Fuß. Lieber zu Fuß.»

«Lieber zu Fuß, ja.» Schlipalius erschrak. «Entschuldigen Sie, das war nicht böse gemeint.» Schlipalius, der so unglaublich herzlich sein konnte, tat sein Fauxpas so leid, dass er Waschinsky kurz umarmte. «So, jetzt machen Sie aber auch Feierabend! Das ist eine dienstliche Anweisung.»

Waschinsky begleitete Schlipalius bis zu seinem Mercedes-Benz und wartete, bis der Professor eingestiegen war, um formvollendet die Tür hinter ihm zuzuschlagen. Er winkte noch einmal, dann lief er los. Anhand seines Stadtplans hatte er ausgerechnet, dass der Weg zwischen Wohnhaus und Arbeitsplatz genau 2,3 Kilometer betrug. Das schaffte er mühelos in einer knappen halben Stunde. Waschinsky hatte eine kleine Wohnung in der Muthesiusstraße Nr. 14 gemietet.

Da zu dieser späten Abendstunde die Haustür mit Sicherheit abgeschlossen war, kramte Waschinsky in seiner Aktentasche nach dem Schlüssel, als er von der Rothenburg-in die Muthesiusstraße einbog. Während er noch suchte, rollte von der Schloßstraße her ein Pkw auf ihn zu. Das Auto stoppte vor ihm, als er die Straße überqueren wollte. Der Fahrer kurbelte die Scheibe herunter. Waschinsky sah auf, weil er dachte, der Mann wollte ihn etwas fragen. Doch er war maskiert und hielt einen Revolver in der Hand.

Mehrere Schüsse fielen. Waschinsky brach zusammen, und der Wagen raste davon.

Auge um Auge

Подняться наверх