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Wie es begann: Aufstand der Wohlbehüteten
ОглавлениеAm 6. September 2008 ging Alexandros Andreas Grigoropoulos auf eine Party, die sein Freund Niko im Athener Stadtteil Exarcheias veranstaltete – und wurde erschossen. Über den Tathergang gab es unterschiedliche Versionen. Die einen behaupteten, er hätte mit Freunden gegen die Regierung und die Perspektivlosigkeit seiner Generation demonstriert und dabei erwischte ihn eine Kugel. Andere meinten, ihn in einer Gruppe von Freunden gesehen zu haben, die von der Polizei kontrolliert wurde. Bei dieser Aktion fiel der tödliche Schuß.
Wer war der Todesschütze? Es handelte sich um einen siebenunddreißigjährigen Beamten, der zunächst behauptete, in Notwehr Warnschüsse abgegeben zu haben. Schließlich kam heraus, daß er wegen seiner Brutalität berüchtigt war. Seine Kollegen hatten ihm den Spitznamen „Rambo“ gegeben. Als er schließlich verhört wurde, sagte er aus, er habe drei Warnschüsse abgefeuert, wovon einer den Jugendlichen als Querschläger getroffen habe. Die Staatsanwaltschaft glaubte dieser Version nicht und warf ihm Totschlag vor. Kurz danach legte der Pflichtverteidiger des Polizisten sein Mandat nieder. Begründung: Einen „solchen Mandanten“ könne er aus Gewissensgründen nicht verteidigen.
Wer war Alexandros? Der 15-jährige kam aus einer wohlhabenden Familie in Athen. Seine Mutter führte ein Juweliergeschäft, der Vater war Filialleiter einer Bank. Die Eltern lebten getrennt. Der Jugendliche wohnte bei seiner Mutter, hatte zu seinem Vater jedoch ein gutes Verhältnis. Seit einem Jahr besuchte er eine Privatschule. In seiner Freizeit fuhr er Skateboard und spielte Fußball. Ein spezielles politisches Engagement konnte nicht festgestellt werden.
Dennoch löste sein Tod in ganz Griechenland Massenproteste aus. Immer häufiger wurde dabei Gewalt eingesetzt. Ladenzeilen wurden zertrümmert, verbrannte Autowracks säumten die Straßen, Häuserfronten wurden verunstaltet. Welche Erklärung gibt es für den Ausbruch dieser Gewalt?
In der linksliberalen italienischen Tageszeitung „La Stampa“ vom 9. Dezember 2008 wurde der griechische Schriftsteller Vassilis Vassilikos dazu befragt. Er betonte, schon lange bevor die Finanzkrise Griechenland erfaßte, war der Staat sozial, ökonomisch und politisch zutiefst zerrissen und galt als einer der korruptesten Staaten in Europa. Der Schriftsteller beschrieb das so: Vor der Finanzkrise „kommt noch der Immobilienskandal, in den das Kloster Vatopedi auf dem Berg Athos verwickelt ist. Und die gefälschten Prozesse, mit Richtern, die ihre Entscheidungen entsprechend den politischen Spielen ändern. Und der versuchte Selbstmord des dreisten Generaldirektors des Kultusministeriums, der die EU-Subventionen verwaltet und die Grundstücke in der Nähe der archäologischen Stätten zu Schleuderpreisen verscherbelt hat. Dann das Rentengesetz und der Beschluss der Regierung, 28 Milliarden Euro an Hilfsgeldern für die Banken bereitzustellen und nicht für die Menschen, die Probleme haben, sich Lebensmittel zu kaufen.“
Eine ebenso bedeutende Rolle spielte auch die rasch zunehmende Prekarisierung von Jugendlichen und jungen Erwachsenen mit Hochschulausbildung. Deren Eltern mußten sich zur Finanzierung des Studiums in der Regel hoch verschulden und dann erleben, daß ihre Söhne und Töchter trotz eines Universitätsabschlusses vergeblich einen angemessenen Job suchten. Ein Beispiel: Wer in Griechenland ein Medizinstudium abschloß, mußte sich bis zur Facharztausbildung auf eine Wartezeit von bis zu sieben Jahren einstellen. Nicht wenige fertige Medizinstudenten schlossen in dieser Zeit ein zweites Hochschulstudium ab – zum Zeitvertreib, denn die Berufschancen verbesserten sie damit nicht. Ganze Jahrgänge medizinischer Fakultäten sind inzwischen in andere EU-Staaten oder nach Übersee ausgewandert. Wer im Land blieb, endete nicht selten in einem Fast-Food-Restaurant statt im Krankenhaus. In Griechenland spricht man von der „700-Euro-Generation“. Ein Massenphänomen. Und selbst wer einen Job ergatterte, mußte oft mit einem Einkommen vorlieb nehmen, das nur knapp über der Armutsgrenze lag.
Schon vor der Krise war die Jugendarbeitslosigkeit unverhältnismäßig hoch. Nach den Angaben des Instituts für Arbeitsmarkt- und Berufsforschung bezogen 2008 durchschnittlich 1,35 Millionen Menschen zwischen 18 und 29 Jahren Arbeitslosengeld II. Dabei schaffte nur jeder Dritte von ihnen den Absprung von der staatlichen Alimentierung – und auch das häufig nur vorübergehend. Fazit: Viele junge Erwachsene waren schon zu Beginn ihrer „Karriere“ auf staatliche Transfers angewiesen. Dies erklärt, warum die Schulen und höheren Bildungsanstalten schon seit Mitte der 90er Jahre immer wieder Schauplatz heftiger Auseinandersetzungen waren. Die jeweiligen Regierungen reagierten darauf mit Diffamierungen und polizeilicher Repression.
Die Selbstbedienungsmentalität der griechischen Oberschicht geriet zunehmend in die Kritik. Zu den wenigen öffentlich gewordenen Skandalen gehörte der Fall „Siemens Hellas“: Mit bis zu 100 Millionen Euro sollen seit den 90er Jahren die griechischen Regierungsparteien – sowohl die PASOK als auch die Nea Dimokratia – geschmiert worden sein. Doch nicht wenige Parteimitglieder waren und sind nicht nur korrupt, sondern auch unfähig. Wie sehr, das zeigten die Waldbrände.
2007 vernichteten Waldbrände innerhalb einer Woche 184.000 Hektar Land – eine Fläche doppelt so groß wie Berlin. Mindestens 64 Menschen kamen in den Flammen ums Leben. Bei den Gegenmaßnahmen versagten die örtlichen Behörden, aber auch die Regierung in Athen. Sie glaubten, es sich ganz einfach machen zu können, indem sie behaupteten, starke Winde seien die Ursache. Doch die Griechen und auch die meisten Medien ließen sich nicht verulken. Sie machten die Regierungen der vergangenen zehn Jahre verantwortlich. „Der Staat des (Umwelt-) Verbrechens“, titelte die linksliberale Athener Zeitung „Eleftherotypia“. Der Vorwurf lautete: Athen habe in den vergangenen Jahren 97 Milliarden Euro für Rüstung ausgegeben, für den Kauf von Löschflugzeugen standen jedoch nur 300 Millionen Euro zur Verfügung. Schlimmer noch: 3000 Planstellen für Feuerwehrleute blieben unbesetzt und die Kommunikation zwischen Forstbehörde und Feuerwehr war wegen veralteter Technik fortlaufend gestört.
Auch wenn es mangels intensiver Ermittlungen keine Schuldigen gab – hartnäckig hielt sich die These, Bodenspekulanten hätten die Brände gelegt, um Bauland zu gewinnen. Und was geschah, nachdem die Waldbrände gelöscht waren? Die Experten forderten von der Regierung, sie sollte ein Bebauungsverbot für Flächen erlassen, die durch Waldbrände frei geworden waren. Doch nichts geschah.
Kein Politiker fühlte sich schuldig oder gestand Fehler ein. Im Gegenteil: „Wir waren auf die Feuergefahr gut vorbereitet“, lobte sich der damalige Innenminister Prokopis Pavlopoulosin in einem Zeitungsinterview. Dabei waren er und der Minister für öffentliche Ordnung Vyron Polydoras die Hauptverantwortlichen für das gescheiterte Krisenmanagement. Konsequenzen kamen für sie nicht infrage. Und weil sie begriffen, daß allein die Windstory bei der Bevölkerung nicht ankam, palaverten sie von einer Bedrohung durch Terroristen. Und – wen wundert’s : Wenig später wurde diese Version auch von dem damaligen Regierungschef Konstantinos Karamanlis sowie vom Oberhaupt der griechisch-orthodoxen Kirche, Erzbischof Christodoulos, verbreitet.
Um das Vertrauen beim Wahlvolk wiederzugewinnen, versprach Karamanlis, er werde mit Geldern der EU und mit zahllosen Krediten die zerstörten Dörfer und die Infrastruktur des Landes wieder aufbauen. Doch auch das wurde von der Bevölkerung nicht ernst genommen. Man erinnerte sich, daß 2007 in Attika rund 5000 ha Wald abbrannten – gerade mal 218 ha wurden aufgeforstet. Diese Arbeit wurde nicht von den staatlichen Forstbehörden realisiert, sondern von Bürgerinitiativen und Kommunen.
Die Zeitung „Kathimerini“ sah in den Bränden ein Indiz für den Bankrott des griechischen Entwicklungsmodells. Für jede Regierung, die seit 1974 am Ruder war, galt der Umweltschutz als Hindernis und wurde ignoriert. Als ein Beispiel, das in allen griechischen Medien auftauchte, kann der Fluss Asopos genannt werden, der wenige Kilometer nördlich der Hauptstadt Athen fließt. Noch heute verseuchen die hier angesiedelten Industrien den Fluss mit Schwermetallen, die so stark vergiftet sind, dass das Grundwasser in der ganzen Region nicht getrunken werden kann.
Die Brände haben aber auch die Krankheiten des politischen Systems offenbart. Seit 1974 wechseln sich zwei grosse Parteien, die „grüne“ Panhellenische Sozialistische Bewegung (Pasok) und die „blaue“ Nea Dimokratia (ND), an der Macht ab. Beide stützen sich auf ein Klientelsystem. Das bedeutet: Bei jedem Regierungswechsel werden im Staatsapparat von den Schlüsselposten bis zu den unteren Funktionen die Funktionäre ausgewechselt.
Fazit: Griechenland am Vorabend der Finanz- und Verschuldungskrise war also bereits zahlreichen Krisensymptomen angefressen.