Читать книгу Keine Zeit für Arschlöcher! - Horst Lichter - Страница 6
3. Klartext
im
Krankenhaus
ОглавлениеAuf unserer Suche nach einem guten Krankenhaus waren wir in Mönchengladbach fündig geworden. Professoren, Ärzte, Pflegepersonal und Einrichtung – alles stimmte. Die Menschen dort waren aufmerksam, höflich und Mutter fühlte sich gut aufgehoben. Unser Hotel war in Neuss und somit ganz in der Nähe. Auch der Rest der Familie und ihre Freunde aus Rommerskirchen mussten keine Weltreise unternehmen, um Mutter zu besuchen. Sie war nicht erpicht auf jeden Besuch, sondern sagte klar, wen sie sehen wollte und wen nicht. Natürlich durften wir nur die Leute über ihren Aufenthaltsort informieren, die Mutter abgesegnet hatte. Da war sie wirklich eisenhart. »Mit der will ich jetzt nicht mehr reden. Die braucht hier nicht herzukommen, die hat nur geheult bei mir – das kann ich nicht ertragen. Die kann sich wieder melden, wenn ich gesund bin, vorher will ich die nicht mehr sehen.«
Sie hat dann auch ihrer guten Nachbarin, deren Mann der beste Freund meines verstorbenen Vaters gewesen war, verboten, ins Krankenhaus zu kommen. Unfassbar. Die waren ja nicht nur Nachbarn, sondern richtige gute Freunde, die über Jahrzehnte ganz eng mit meinen Eltern Tür an Tür gelebt hatten. Da ist sie an dem Tag, wo ich sie ins Krankenhaus gefahren habe, hingegangen und hat gesagt: »So, ich möchte mich verabschieden. Ich möchte nicht, dass ihr mich im Krankenhaus besuchen kommt. Ich will nicht, dass ihr mich seht, wie ich da sterbenskrank liege. Behaltet mich so in Erinnerung, wie ich mich heute von euch verabschiedet habe, denn ich glaube nicht, dass ich wieder nach Hause komme.« Wenn ich darüber nachdenke, dann werde ich verrückt.
Ich werde nie verstehen, warum sie diese Operation wollte. Wenn sie es doch so geahnt hat, dass sie nicht wiederkommt – warum hat sie sich dann diese vermaledeite Operation angetan? Warum hat sie nicht mit uns so lange auf den Tischen getanzt, wie es ihr möglich gewesen wäre? In Venedig oder weiß der Kuckuck wo. Wahrscheinlich war es ihr einfach nicht gegeben. Sie war nicht der Typ dafür. Meine Mutter war eine sehr eigenwillige Frau mit ganz klaren Vorstellungen. Auch was ihr Erscheinungsbild betraf. Einmal in der Woche ging sie zum Friseur, das hat sie durchgezogen, bis es ihr im Krankenhaus nicht mehr möglich war. Die wäre niemals ohne gemachte Haare rausgegangen, aber hallo! Die war immer picobello, wie aus dem Ei gepellt. Und Gejammer hat sie gehasst: »Jung’, man jammert nicht. Schon gar nicht vor fremden Leuten. Man jammert überhaupt nie. Beiß die Zähne zusammen und sei tapfer! Und pünktlich.« Manchmal hatte ich den Eindruck, dass Mutter sich, wie viele andere ihrer Generation, das Leben ein bisschen zu schwer machte – mit diesen Tugenden aus dem Krieg und der Nachkriegszeit. Da fehlte ihr oft die Gelassenheit, die Leichtigkeit. Ihr ganzes Leben war geprägt von »Das macht man nicht«, »Was sollen bloß die Leute denken« und »Wie es in mir aussieht, das geht keinen was an«.
In der Nacht vor der OP saß ich verzweifelt an Mutters Krankenhausbett. Und da passierte etwas sehr Seltenes und Schönes. Ich merkte – nein, ich konnte es richtig fühlen –, sie wollte unbedingt mit mir reden. Es lag ihr etwas auf der Seele. Und dann habe ich sie ganz vorsichtig gefragt, was ich unbedingt noch alles von ihr wissen wollte. Ich glaube, es war ihr mehr als nur recht. Die Geschichte, die uns wohl beide an diesem Abend am meisten bewegt hat, drehte sich um ihren lieben Mann. Meinen geliebten Papa.
Mutter erzählte, wie sie meinen Vater damals in der »Gaststätte Winkler« in Rommerskirchen kennengelernt hatte. Eigentlich war die Kneipe für ein junges Mädchen wie sie natürlich tabu, aber ihr älterer Bruder wohnte mit seiner Frau im selben Ort und so traf sich die Familie an Silvester zum Feiern in der Gaststätte. An der Theke hat sie ihren Toni dann das erste Mal gesehen und ganz keck gefragt: »Wer ist das denn? Der gefällt mir aber.« Dann ist sie mir nichts, dir nichts zum Toni marschiert und die beiden haben sich angeregt unterhalten. Das blieb seinem Vater, also meinem späteren Großvater, nicht verborgen. Ein strenger Blick, ein zweiter – und dann gab es eine Ansage: »Komm, lass das junge Mädchen in Ruhe. Die ist zu jung für dich.« In der Tat war meine Mutter zehn Jahre jünger als Papa, aber hinter dieser Deutlichkeit steckte noch etwas anderes. Mein Großvater wollte einfach nicht, dass sich sein Sohn mit Frauen beschäftigte. Der sollte schuften und sonst nix.
Mein Vater Toni war zu Hause der Malocher, der Junge für alles. An seiner Ausbildung war keiner interessiert, er sollte sich gefälligst um den Hof, das Haus und die Großeltern kümmern. Den Lohn abgeben, reparieren, malochen und essen. Wenn Papa sich ein neues Fahrrad gekauft hatte, nahm es ihm sein älterer Bruder einfach weg und schmiss ihm sein kaputtes vor die Füße. Und wenn er sich beschwerte, dann interessierte das niemanden. Seinen Vater schon gar nicht. Und sein Bruder ballte nur vielsagend die Faust. Papa war so ’ne Art Aschenputtel. Der wurde einfach verschlissen. Das war früher in Arbeiterfamilien gar nicht so unüblich, dass man einen hatte, der brutal ausgenutzt wurde und alles machen musste.
So viel war also klar: Niemand war begeistert, wenn der sich um Mädchen kümmerte und vielleicht sogar eine eigene Familie gründen wollte. Schwierige Startbedingungen für eine Liebesbeziehung. Mutter erzählte mir, dass sie sich dann heimlich getroffen hätten, im Haus ihres Bruders – ohne Kontrolle durch ein älteres Familienmitglied ging damals nämlich gar nichts. Irgendwann hat Mutter dann Nägel mit Köpfen gemacht und verkündet: »Ich werde diesen Mann in einem Jahr heiraten.« Und so passierte es dann auch, sie heirateten ein Jahr später. Es war schön, ihr zuzuhören, aber auch sehr traurig. Mit der Hochzeit begann eine harte Zeit für meine Eltern.
Ich glaube, sie wollte mir einfach mal richtig erklären, warum sie nicht immer die gütige Mutter sein konnte, die sie eigentlich hatte sein wollen. Ich habe ab einem gewissen Zeitpunkt nicht mehr alles verstanden, weil es so verdammt traurig war und ich weinen musste. Aber weinen durfte ich ja nicht, Mutter hatte mir verboten zu weinen. Wir hatten gefälligst stark zu sein, so wie sie. Immer war sie stark gewesen, ihr ganzes Leben. Das ist traurig, wenn man realisiert, dass hinter diesem Berg von Stärke ein großes Tal unterdrückter Gefühle versteckt liegt. Ich habe erst da verstanden, warum ich mittlerweile lieber weine. Wer nicht weint, ertrinkt innerlich in einem Meer voller Trauer. Aber wir Kinder sollten nicht weinen.
An diesem Abend war ich bis weit über Mitternacht bei Mutter, bis sie sagte: »Jung’, ich muss schlafen. Morgen früh ist die OP.«
Ich fuhr kurz ins Hotel. Morgens um sieben Uhr sollte sie zur OP abgeholt werden. Um halb sechs Uhr war ich wieder da. Habe versucht, sie ein letztes Mal umzustimmen: »Mutter, hier ist keiner böse, keiner sauer, wenn du jetzt deinen Koffer packst und mit mir nach Hause fährst. Jetzt sofort. Du kannst dich auch in zwei Monaten operieren lassen. In drei, in fünf Monaten, egal wann. Aber wir können jetzt noch fahren. Die sind froh, wenn sie das Bett hier leer vorfinden.« Vergebens. Mutter blieb stur: »Nein, Jung’, das mach ich jetzt. Ich will das jetzt alles raushaben. Das Böse muss raus.«
Als sie auf der Trage Richtung OP-Saal gefahren wurde, war ich fertig mit der Welt. Da brachen alle Dämme und meine ganze Verzweiflung musste raus. Ich habe nur noch bitterlich geweint. Alles in mir hat geschrien: »Geh nicht.« Aber ich konnte nicht schreien, nur weinen.
Die nächsten Stunden waren wie Tage. Ich fuhr zum Hotel, konnte aber nicht schlafen. Wieder raus, spazierengehen. Eine nach der anderen geraucht. Immer wieder mit Nada telefoniert. Es muss schrecklich für sie gewesen sein, weil ich entweder geheult oder ihr meine Verzweiflung geklagt habe. Als sich das Krankenhaus nachmittags endlich meldete, war ich ein Wrack. Die Information war eher dünn und wenig aussagekräftig. Irgendwie logisch, aber in dem Moment war es frustrierend: »Herr Lichter, Ihre Mutter ist jetzt auf der Intensivstation. Sie können jetzt vorbeikommen.«
Ich raste zum Krankenhaus. Als ich endlich vor Mutters Bett stand, war ich völlig schockiert. Dieses Bild vergesse ich nie. Grausam. Ihr eingefallenes Gesicht, die Schläuche, keine Zähne im Mund, die Zunge hing raus. Schrecklich. Wo war Mutter, meine geliebte Mutter? Alles, aber auch wirklich alles in mir sträubte sich, diese Person im Bett als meine Mutter zu betrachten. Nachdem ich zwei, drei Stunden bei ihr gesessen hatte, kamen die Ärzte: »So richtig wach wird sie heute nicht. Gehen Sie doch nach Hause, Sie müssen sich auch mal ausruhen. Sie können eh nichts für sie tun. Kommen Sie morgen früh wieder, dann sehen wir weiter.« Als ich am nächsten Morgen ganz früh zurückkam, sah Mutter schon etwas besser aus. Sie hatte die Brille auf und ihre Zähne wieder drin, da hatte sie wohl drauf bestanden.
Sie konnte nur schlecht sprechen: »So, Jung’, jetzt hab ich 40 Prozent schon geschafft und den Rest schaff ich auch noch.« Das hat sie echt gesagt. Und da hatte ich auch für einen Moment Hoffnung. Wirkliche Hoffnung, ich wollte das ganz fest glauben. Ich war glücklich, ich hab ganz einfach gedacht: »Da ist meine Mutter wieder, der alte Drache spuckt wieder Feuer. Die schafft das, wer sonst, wenn nicht Mutter? Die schmeißt den Krebs zur Türe raus.« Ich war euphorisiert und habe sofort der Familie gesagt, wie es aussieht. Und dass Mutter das schon irgendwie packen wird. Wahnsinn. Beseelt vom Rausch der Hoffnung. Ich hätte besser vorher mit den Ärzten gesprochen, dann wäre ich wahrscheinlich etwas nüchterner gewesen. »Herr Lichter, wie es aussieht, hat Ihre Mutter die Operation gut überstanden. Aber: Die Niere, die Milz, die halbe Bauchspeicheldrüse und ein Stück Darm waren auch schon betroffen.« Deutlicher ging es nicht: Die Ärzte hatten unfassbar viel rausschneiden müssen, weil so viel vom Krebs befallen war.
Es war längst schon viel schlimmer als geglaubt. Mein Höhenflug wurde jäh gebremst, und als ich abends wieder bei Mutter am Bett saß, war mein Eindruck, dass es ihr schon wieder deutlich schlechter ging. Der Pessimismus packte mich sofort unbarmherzig an der Gurgel. Aber diesmal waren die Ärzte etwas optimistischer als ich und meinten, nach so einer schweren OP sei es klar, dass der Körper sich erst einmal stabilisieren müsste. Trotzdem hatte ich ein schlechtes Gefühl, als ich ins Hotel zurückfuhr. Eine düstere Ahnung machte sich in mir breit. Sehr traurig war ich und niedergeschlagen.
Ich fand kaum Schlaf. Gegen vier Uhr morgens klingelte mein Telefon: »Wir haben Ihre Mutter gerade in den OP gefahren. Wir müssen eine Notoperation machen, sonst verblutet Ihre Mutter innerlich.«
Nach dieser Not-OP fing Mutter sich ein bisschen und ihr Zustand war zwar, den Umständen entsprechend, nicht gut, aber relativ stabil. Nada war mittlerweile wieder bei mir, um mich zu unterstützen. Unser Ziel war, Mutter davon zu überzeugen, das Krankenhaus zu verlassen, sobald sie fit genug war. Dann wollten wir mit ihr die restliche Zeit genießen, sie verwöhnen und pflegen. Ein hehrer Plan. Dafür ließen wir nichts unversucht. Zwei Tage lang redeten wir auf Mutter ein: »Mutter, wenn du das jetzt schaffst, dann holen wir dich hier raus. Wir fahren nach Venedig, wohin du willst.« Kataloge von Venedig, von den Kreuzfahrten, alles hatte ich mitgebacht, um sie wieder aufzubauen. Ich wollte ihr Mut machen, ihr ein schöneres Ende zeigen als Dahinsiechen im Krankenhaus. Natürlich wollte ich gute Stimmung machen. Ich wollte Mutter auf keinen Fall zeigen, wie ich mich wirklich fühlte: dass es mich innerlich fast zerriss, dass ich fertig war. Desillusioniert. Todtraurig.
Aber es war sinnlos. Sie wollte nicht mal mehr richtig mit uns reden. Sie hatte ihren eigenen Plan. Noch rückte sie nicht damit heraus, aber wir kamen auch so dahinter, nur wenige Tage später.
Wir waren morgens ins Krankenhaus gefahren und in dem Moment, als wir auf der Station eintrafen, kam uns Mutter im Bett entgegengerollt, mit einer Eskorte von Krankenschwestern und Ärzten. Eine erneute Not-OP sei sofort erforderlich, sagten die, und: »Herr Lichter, gut, dass Sie kommen. Ihre Mutter muss schon einwilligen, sonst wird sie sterben.« Da wurde mir schlagartig klar, was Mutters Plan war. Sie wollte sterben. Sie hatte mit dem Leben abgeschlossen, es sollte einfach schnell mit ihr zu Ende gehen. Ich fühlte mich so schrecklich unbarmherzig, als ich zu ihr sagte: »Mutter, jetzt musst du einwilligen. Ich, wir … wir können dich doch jetzt nicht hier innerlich verbluten lassen. Das geht nicht. Jetzt musst du da rein! Du kannst nicht hier liegen und sagen, ›dann verblute ich eben in den nächsten paar Stunden!‹.«
Und dann haben sie die Ärzte noch mal operiert – die dritte OP. Danach kam sie wieder auf die Intensivstation und alles war schlimmer als am Anfang, nach der ersten Operation. Und von da an wurde es auch nie mehr besser. Weil Mutter sich aufgegeben hatte. Meine Mutter wollte endlich sterben.
Sie redete immer weniger und irgendwann sagte sie gar nichts mehr. Wir konnten reden, was wir wollten, über schöne Dinge, über Trauer, über Gott und die Welt. Mutter reagierte nicht mehr. Ich habe die Ärzte und Schwestern gefragt, ob sie wüssten, warum sie nicht mehr redete. Da guckten die mich erstaunt an: »Nein, nein, Herr Lichter. Ihre Mutter redet.« Ich war fassungslos, konnte es kaum glauben. Aber es war wohl so: Sobald ein Weißkittel reinkam und sie ansprach, hat Mutter reagiert. Und zwar sehr unwirsch, böse, bitter. Sie beschimpfte Ärzte und Pfleger, sie sollten sie doch alle in Ruhe lassen, sie wolle sterben. Sie sagte wortwörtlich zu denen: »Ich will endlich sterben.« Aber mit uns hat sie kein einziges Wort gesprochen.
Nach zehn oder zwölf Tagen auf der Intensivstation – die sich wie einer anfühlten, weil jeder Tag gleich ablief, es war wie im Film »Und täglich grüßt das Murmeltier« – fühlte ich mich wie eine stupide Maschine. Die fuhr morgens hin, ging mittags für zwei Stunden, fuhr nachmittags wieder hin und blieb dann bis spätabends bei Mutter. Jeder Tag war gleich furchtbar, man konnte einfach nichts ändern.
Um diese grausame Stille zwischen uns erträglich zu machen, die nur gebrochen wurde vom nervtötenden Piepen und Surren der Maschinen, fuhr ich nach Rommerskirchen zu einem alten Elektroladen, den ich noch aus meiner Kindheit kannte. Ich kaufte einen CD-Spieler, besorgte mir ein paar Hörbücher wie »Der Hundertjährige, der aus dem Fenster stieg und verschwand«, weil ich das Buch wunderschön fand. Natürlich wollte ich vor allem auch Mutter ablenken, sie unterhalten, in eine andere Welt entführen. Ich dachte, das wäre eine gute Idee. Also kaufte ich das alles und baute es gutgelaunt in ihrem Zimmer auf. Ich sagte – ich sprach ja immer mit ihr, obwohl sie nicht antwortete: »Mutter, jetzt schau dir das an! Damit du hier nicht nur über dich nachdenkst und Trübsal bläst, hab’ ich dir was Wunderschönes mitgebracht. Jetzt lachen wir uns mal ein bisschen die Sorgen weg.«
Und dann passierte es. Mutter richtete sich mühsam in ihrem Bett auf und sprach mich an. Urplötzlich und ohne Vorwarnung. Das alleine erwischte mich schon völlig auf dem falschen Fuß. Aber was sie dann sagte, das hat mir den Boden unter den Füßen weggezogen. Diese Worte werde ich mein Leben lang nicht vergessen: »Junge, meinst du nicht, dass es langsam mal Zeit wird, dass du aufhörst mit dem Blödsinn, den du immer machst? Hör endlich auf, der Clown zu sein. Die Zeit für Spaß ist vorbei, Junge. Geh jetzt und komm morgen wieder, wir müssen ernsthaft reden.«
Sprachlos stand ich auf, verließ das Zimmer und fuhr zurück ins Hotel, völlig perplex.