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5. Mutters
Ende

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»Hör endlich auf, der Clown zu sein. Die Zeit für Spaß ist vorbei, Junge. Geh jetzt und komm morgen wieder, wir müssen ernsthaft reden.«

Ernsthaft reden? Was Mutter darunter verstand, eröffnete sie mir am nächsten Tag. Sie zeigte mir ihre Patientenverfügung. Sie wollte, dass die lebenserhaltenen Maschinen abgeschaltet werden. Sie wollte nicht länger gequält werden. Wörtlich sagte sie zu mir: »Ich weiß, dass ich sterben werde. Ich möchte verbrannt werden. Ich will ein kleines Grab mit einem kleinen Stein drauf.« Und damit war Ende der Audienz.

Also habe ich ein paar Tage nach Mutters dritter Operation die Ärzte gefragt: »Wie lange hat Mutter noch?« Gute Idee, weil: Frag einen Arzt und du bekommst eine Meinung. Frag fünf Ärzte und du bekommst fünf Meinungen. Von drei Tagen, vier Wochen bis »Ihre Mutter hat ein starkes Herz, die packt das« war dann auch alles dabei. Dass Mutter ein starkes Herz hatte, war mir auch neu, Mutter hatte ja permanent von ihrem schwachen Herzen erzählt, wegen dem sie sich jahrelange täglich verschiedene Herzmedikamente reingepfiffen hatte. Völlig umsonst vermutlich, was für ein unglaublicher Schwachsinn. Die Ärzte wollten sie gerne auf der Intensivstation behalten, da wäre die Versorgung einfacher gewesen. Drei Patienten auf eine Krankenschwester statt zwanzig Patienten auf eine Pflegekraft. Aber Mutter zeigte auch in dieser Sache ihren unfassbaren Dickschädel. Ihr Kalkül war für sich gesehen logisch, aber trotzdem kindisch und absurd: Mutter wollte sterben, aber dachte sich, dass man sie auf der Intensivstation nicht sterben lässt. Sie meinte, wenn sie auf ein normales Zimmer käme – also ohne die ganzen Apparate und Tropfe –, dann würde sie ohne weiteres großes Leid schnell erlöst werden. Das war natürlich ein tragischer Irrtum.

Als wir sie endlich mit viel Glück in ein normales Einzelzimmer verlegen konnten – da registrierte Mutter entsetzt, dass die ganze Batterie mit Geräten und Spritzen-Armada auch dort installiert wurde. Und ab dem Moment sprach sie nie wieder ein Wort mit mir. Knallhart zog sie das durch: Sie redete weder mit mir noch mit Nada. Sie schrie, jammerte oder weinte auch nicht. Nein. Nix, gar nix. Mit ihrer Schwester und den Krankenpflegern redete sie. Aber nicht mit uns. Warum? Ich habe keine Ahnung. Jeden verdammten Tag frage ich mich, warum. Manchmal dachte ich, sie will mich bestrafen, manchmal dachte ich, sie will nur nicht jammern und bemitleidet werden. Verrückt war das, einfach unbegreiflich. Was hatte ich ihr angetan, dass sie nicht mehr mit mir reden wollte? Das Schlimme ist, dass ich es nie mehr erfahren werde, sie hat das Geheimnis mit ins Grab genommen. Zurück bleibt meine quälende Erinnerung: Wie sie da einfach nur stumm in ihrem Krankenzimmer liegt und in die Ecke starrt. Mit Panik in den Augen.

Während Nada und ich uns die ganze Zeit den Mund fusselig redeten. Sonst wird man irre. Oder wir waren es schon längst, schließlich sind wir morgens gekommen und den ganzen Tag bis auf kurze Unterbrechungen geblieben. Mutters Schweigen war schon schwer genug auszuhalten, aber nicht auszudenken, wenn wir auch nichts gesagt hätten. Stille kann so schmerzhaft sein wie Lärm. Wir führten also Selbstgespräche, erzählten Belanglosigkeiten aus der Nachbarschaft oder lasen aus irgendwelchen Regenbogen-Schmierblättern vor. Für alles andere war mein Nervenkostüm sowieso zu dünn. Mutter war zwar körperlich da, aber trotzdem nicht anwesend, das war teilweise extrem bizarr. Die meiste Zeit starrte sie einfach in die Ecke. Augen sind die Fenster zur Seele, und in diesen Augen konnte ich jeden Tag ihre Verzweiflung sehen, ihre Schmerzen und ihre Panik. Das machte mich fertig. Ihr in die Augen zu gucken, war für mich zum Teil unerträglich. Natürlich bekam sie was gegen Schmerzen, wahrscheinlich hätte man mit der täglichen Dosis einen Elefanten einschläfern können. Sie bekam sogar mehr, als man ihr eigentlich hätte geben dürfen. Aber in ihren Augen sah ich die Schmerzen. Immer starrte sie in die Ecke. Dieser Blick in die Ecke, dieses Nichtreden haben mich zerfressen. Ich war voller Sorge und Kummer. Aber gleichzeitig machte mich die ganze Chose auch fürchterlich hilflos und aggressiv. Ich habe mir jeden vom Pflegepersonal geschnappt und angeranzt: »Kümmert euch um Mutter, wenn ich nicht hier bin. Wehe, ich kriege mit, dass ihr euch nicht kümmert. Ich mach euch fertig, ich warne euch!«

Schrecklich, wie tief man fallen kann. Das sind so Sätze, die mich nicht mit Stolz erfüllen. Ich war einfach am Limit und drüber. Ist aber keine Entschuldigung, Kinders. Nicht, dass wir uns falsch verstehen.

Die ersten Tage hatte noch Mutters Schwester bei ihr im Zimmer geschlafen. Für mich war das auf keinen Fall in Frage gekommen. Nach dem ganzen Mist, den ich selber mit meinen Schlaganfällen im Krankenhaus erlebt hatte, ist mein Bedarf an Übernachtungen in Klinikbetten gedeckt. Ich hatte mir geschworen, dass ich nie wieder freiwillig dort schlafen würde. Aber einer musste ja immer bei ihr bleiben, nur für den Notfall. Irgendwann bin ich mal drei Tage nicht ins Krankenhaus gegangen, weil ich einfach nicht mehr konnte. Erholt hatte ich mich nicht, mein schlechtes Gewissen war derartig groß, dass es wahrscheinlich besser gewesen wäre, einfach weiterzumachen wie vorher. Am Bett sitzen, abwechselnd mal Nada, mal ich. Damit einer von uns schlafen konnte, mal eine rauchen oder kleine Besorgungen erledigen. Aber einer von uns hielt immer Mutters Hand, streichelte sie. Und immer wieder: vorlesen, reden, vorlesen. Ab und zu kam Besuch, dann sind wir kurz runter, um ein bisschen spazieren zu gehen. Irgendwann konnte auch Mutters Schwester nicht mehr und wollte nicht mehr im Krankenzimmer schlafen. Nun war es wohl an mir, meinen Eid zu brechen: Sosehr sich alles in mir sträubte – ich konnte Mutter nicht im Todeskampf alleine lassen. Niemals. Ich ging zur Stationsschwester und orderte noch ein Gästebett. Und dann haben Nada und ich bei Mutter im Zimmer geschlafen. Obwohl sich alles in mir dagegen wehrte. Verfluchte Krankenhäuser!

Die nächsten Tage kamen mir vor wie eine Ewigkeit. Es könnten drei Tage, es könnten aber auch zwei Wochen gewesen sein, ich erinnere mich nicht mehr genau. Ich will mich auch nicht mehr genau erinnern.

Eines Tages sagten die Ärzte, dass Mutter bald erlöst wird. Das Ende wäre nah. Sie mussten schon ein paarmal Wasser aus der Lunge holen und ihre tägliche Morphium-Dosis wurde stetig erhöht. Und trotzdem sah ich noch die Schmerzen in ihren Augen. Die Krankenschwestern meinten, das wäre Unsinn. »Ihre Mutter hat keine Schmerzen, das sind Reflexe.«

Beim Wort »Reflexe« kam mir eine Idee: Mutter hatte doch Gicht! Vorsichtig tippte ich an ihren bandagierten Unterschenkel. Die arme Frau zuckte zusammen vor Pein, trotz Morphium. Wütend schnappte ich mir die Schere, behutsam schnitt ich die ganzen Bandagen auf und starrte entsetzt auf Mutters entzündete Beine. Von wegen keine Schmerzen.

Dann kam die letzte Nacht. Der liebe Gott zeigte endlich Erbarmen. Die Ärzte, die Schwestern – alle waren sich einig: Es kann nur noch Stunden dauern. »Machen Sie sich bereit.« Wir waren bereiter als bereit – wir hatten sogar, weil alle meinten, ein Hospiz wäre besser als sterben im Krankenhaus, uns nach einem freien Hospizplatz in der Nähe erkundigt.

Ich hatte überall rumtelefoniert. Ironie des Schicksals: Nix ging. Aber ausgerechnet an dem Tag, wo es hieß, »jetzt wird sie sterben«, kam mittags ein Anruf. Wir sollten alles in die Wege leiten, es gäbe diesen wunderschönen Hospizplatz ganz in der Nähe von Mutters Schwester. Was natürlich auch für die Verwandten gut gewesen wäre. Ich habe dann mit den Ärzten gesprochen. Die meinten nur: »Ganz ehrlich, Herr Lichter, tun Sie das Ihrer Mutter jetzt nicht mehr an. Das Grausamste, was Ihrer Mutter passieren könnte, ist, dass sie in dem Auto auf dem Weg zum Hospiz stirbt. Lassen Sie es jetzt in Würde zu Ende gehen.« In Würde zu Ende gehen. Würde? Mir kam die Galle hoch. Die war uns doch schon vor anderthalb Monaten abhandengekommen. Würde – was für ein Hohn nach all diesen würdelosen Wochen voller Qualen und Torturen.

Meine Exfrau Margit und ihr Mann Kalle hatten den Tag mit uns an Mutters Bett verbracht, wie schon so oft. Zwei wunderbare Menschen, die uns viel halfen und an jeder Ecke versuchten, das Leid für alle erträglicher zu machen. Dafür werde ich ihnen bis in alle Ewigkeit dankbar sein. Aber als die Nacht kam, passierte etwas Sonderbares mit mir. Ein unangenehmes Gefühl machte sich in mir breit. Die beiden störten mich plötzlich ungeheuer, ich konnte ihre Nähe mit einem Schlag nicht mehr ertragen. Ich sagte ihnen, dass sie bitte fahren sollten. Um ehrlich zu sein, ich habe die fast rausgeschmissen, so eindringlich habe ich die bedrängt, doch in Gottes Namen zu fahren. Die sollten weg, was mir aber gleichzeitig sehr unangenehm war. Als die zwei endlich fort waren, tat es mir leid. Ich kam mir schäbig und egoistisch vor. Aber ich konnte und wollte Mutters Tod nur mit Nada teilen. Und dann, gerade als Margit und Kalle vielleicht zehn Minuten weg waren und wir alleine am Bett saßen, schlief Mutter endlich für immer ein. Sie holte noch einmal Luft, lächelte zweimal und dann sahen wir, wie das Leben aus ihr wich. Wer das einmal erlebt hat, der weiß, wovon ich rede. Wenn das Leben erlischt, sieht man nicht mehr eine geliebte Person, sondern einen toten Körper.

Ich habe nicht sofort die Schwester gerufen, ich blieb einfach, mit meinen Gedanken und Erinnerungen, am Bett sitzen. Versuchte, Mutters Erlösung andächtig zu erleben. Ich weinte, betete und fluchte. Nada reagierte sehr heftig. Schrie auf und zitterte am ganzen Körper. Sie fühlte sich eiskalt und redete hysterisch auf mich ein, dass Mutters Geist gerade durch sie hindurchgehen würde! Ich beruhigte sie, legte sie aufs Bett und deckte sie zu. Später erklärte mir Nada das so: Ihr war urplötzlich unheimlich kalt geworden … und es hatte sich so angefühlt, als würde diese Kälte von einer Körperseite zur anderen wandern. Als ob Eis durch ihren Körper gegangen wäre. Und sie war ganz sicher, dass das praktisch Mutters befreite Seele war, die den leblosen Körper verlassen hatte. Ich glaube ihr das, habe aber bisher nie jemandem davon erzählt. Ich hatte Schiss, dass mich alle für bekloppt halten. Wie will man das auch erklären? Jeder ist auf seine Art bekloppt, wenn du mich fragst.

Als Nada wieder auf dem Damm war, schickte ich sie ins Hotel. Ich wollte einfach allein sein. Saß noch mal zwei Stunden am Totenbett.

Was für ein Wahnsinn. Ich werde das alles nicht vergessen, solange ich lebe. Traurig bin ich bis heute. Wundere mich immer noch über die Tatsache, dass ich an meinem ersten Urlaubstag 2014 von Mutters Befund erfuhr. Gestorben ist sie dann an meinem letzten Urlaubstag. Typisch Mutter! Ich vermisse sie so sehr.

Keine Zeit für Arschlöcher!

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