Читать книгу Centratur I - Horst Neisser - Страница 8

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Der Baum, der biegt sich auch im Wind;

selbst wenn ein Ast ihm bricht,

er bleibt doch fest und hält es aus,

und Furcht, die kennt er nicht.

Der Sturm, der wird vorübergehn,

dann steht der Baum noch da,

so prachtvoll, schön und ungebeugt,

so wie er immer war."

Marc sah die Gefährtin verwundert an. Sie hatte ihn in den vergangenen Tagen mehrfach verblüfft. Und mit einem Mal liebte er sie. So muss es im Himmel sein, dachte er sich, und saß ganz still. Später kehrten sie gemeinsam in die große, zentrale Halle dieser Unterwelt zurück. Alle nahmen wieder auf ihren Stühlen Platz, und die Beratung ging weiter. Sofort verdrängte das drohende Unheil die heitere Gelassenheit, die für einige Zeit die kleine Gesellschaft abgelenkt hatte.

Marc nahm als erster den Faden wieder auf: „Gibt es eine Chance, dass die Rutaner sich dem Einfluss der Vespucci wieder entziehen können? Sie würden dann, wenn ich alles richtig verstanden habe, dieses machtbesessene Volk aufhalten, und die Welt wäre gerettet."

„Die Rutaner wären sicher starke Verbündete für die Völker der Erde. Ihre Befreiung wäre eine große Hoffnung."

„Was können wir Erits dabei tun? Warum habt ihr uns dies alles erzählt?" Akandra war verwirrt. „Rutan und Vespucci sind so weit weg und doch so nah. Es klingt wie eine Geschichte aus dem Märchenbuch meiner Kindheit und lässt mich vor Angst dennoch schaudern. Wir reden hier über die Rettung der Welt und schämen uns nicht ob dieser Vermessenheit."

„Sollte man nicht alle Heere der Welt zusammenrufen und nach Rutan ziehen. Gemeinsam könnte vielleicht der Sieg gelingen?“ fragte Marc eifrig.

„Das wäre aussichtslos, mein Junge“, antworteten die Älteren. „Dies nicht nur, weil die Heere des Westens gegen die Vespucci keine Chancen hätten. Sie würden sich auch nie unter einem Führer vereinen, sondern sich auf dem langen Marsch nach Osten gegenseitig bekriegen. Ihr Völker des Westens könnt nur ganz selten in Frieden und Harmonie ein gemeinsames Werk vollbringen. In der Regel scheitert ihr an eurem Neid, eurer Zwietracht und eurem Geltungsstreben.“

„Also können wir nur abwarten, bis uns das Schicksal ereilt, alles Grün vernichtet wird, und wir in einer Kunstwelt leben? Es gibt keine Hoffnung?"

„Einen kleinen Hoffnungsschimmer gibt es schon. Als der König der Rutaner von Pareira in den Bann gezogen und sein freier Wille gefesselt worden war, da unterwarf sich zusammen mit ihm sein ganzes Volk. Doch es gab eine Ausnahme. Die Hohe Priesterin der Rutaner, in der sich alles Wissen über den Geist der Pflanzen, der Tiere, der Steine und sogar des Wassers vereinigt. Sie, die für die Harmonie des Landes Rutan mit der Erde verantwortlich war, sie unterwarf sich nicht. Die Priesterin, sie hieß Qumara, flocht aus Pflanzenranken einen Umhang, mit dem sie ihre Blößen bedeckte und schickte sich an, das Land zu verlassen. Bevor sie aber ging, versprach sie den Rutanern, dass sie wiederkommen werde und hinterließ ihnen eine Verheißung."

Die Alten machten eine lange Pause und sprachen dann gemeinsam:

„Wenn die Zeit erfüllt ist,

werden kommen

Kleine Leute

und werden

dem König

die Kette abnehmen."

Totenstille war in der großen Halle, und dann sagten die Älteren feierlich: „Wegen dieser Worte seid ihr hier bei uns in der Unterwelt."

Die Aussendung

In Marc keimte ein fürchterlicher Verdacht: „Soll das etwa heißen, ihr schickt uns nach Rutan?"

„Ja!"

„Aber woher wollt ihr wissen, dass einer von uns beiden der Auserwählte ist, der dem König die Kette abnehmen kann?"

„Ich weiß es, und die Prüfungen, die ihr bestanden habt, bestätigen dies. Ihr seid dazu ausersehen, den König zu befreien."

„Und wer von uns beiden?" fragte Akandra.

„Das ist vom Schicksal noch nicht bestimmt, oder ich kann es noch nicht erkennen. Deshalb müsst ihr beide gehen."

„Nein, das könnt ihr nicht verlangen!" Marcs Gesicht war weiß wie Kalk. Er zitterte am ganzen Körper.

„Wir verlangen es nicht. Wir stellen euch nur vor die Wahl. Niemand kann euch zwingen. Ihr müsst freiwillig gehen, sonst ist die Mission schon im Anbeginn gescheitert."

„Aber wir müssen doch zurück ins Heimland. Die Orokòr werden alle Erits überfallen, töten oder versklaven. Wir müssen warnen und helfen." Marcs Einwände klangen verzweifelt und hilflos. „Wir können jetzt nicht auf große Fahrt gehen, wir werden hier gebraucht."

„Die Rettung des Heimlands ist nicht eure Aufgabe. Um eure Heimat müssen sich andere kümmern. Helft, indem ihr den Ursprung der Gefahr bekämpft! Ihr müsst gegen die Anstifter vorgehen und nicht gegen ihre Schergen."

„Aber wie können wir, zwei schwache Erits, helfen? Warum sucht ihr nicht eine Gruppe starker, kampferprobter Menschen, vielleicht auch tapfere Zwerge oder gar weise, mutige Achajer? Sie alle sind stärker und besser geeignet als wir. Gerade Erits sind hilflose Geschöpfe und töricht im Kampf und im Umgang mit fremden Mächten. Ich bin sicher, wir würden unser Ziel niemals erreichen, geschweige denn diese Mission ausführen können."

„Oh, dieser Meinung bin ich nicht. Der treffliche Aramar sagte stets, dass die Erits immer für eine Überraschung gut sind. Ihr seid, wenn man ihm glauben darf, ein Volk, das zu unglaublichen Leistungen in der Lage ist. Natürlich nur, wenn es darauf ankommt. Aber jetzt ist die Stunde der Not und der Gefahr. Nein, stellt euer Licht nicht unter den Scheffel und besiegt eure Angst. Ihr werdet an der Aufgabe wachsen."

„Wenn ihr so sicher seid, dass wir die Richtigen sind und gehen sollen, könnt ihr uns dann einen Erfolg garantieren?"

„Das kann ich natürlich nicht. Ich muss euch sogar wahrheitsgemäß darauf hinweisen, dass ihr großen Gefahren entgegengehen werdet. Diese Gefahren werden sogar noch größer sein, als sie damals Til und Mog im Großen Krieg erlebt haben. Euer Tod in diesem Abenteuer ist sogar wahrscheinlicher als euer Sieg."

„Was ist, wenn wir diese Mission erfolgreich beenden?" Akandras Stimme war ruhig.

„Wir werden es aber nicht schaffen“, fiel ihr Marc ins Wort. „Man wird uns schon auf dem Weg nach Rutan umbringen und wahrscheinlich zuvor foltern und noch andere scheußliche Dinge mit uns anstellen. Wir werden den Weg in die fernen Lande nicht finden. Wir sind noch nicht einmal richtig erwachsen. Selbst erwachsene Erits wie mein Vater müssten bei dieser Aufgabe versagen. Ich weiß nicht, ob sogar Aramar sie bewältigen könnte. Akandra, wir sollten nicht so größenwahnsinnig sein und diese wahnwitzige Mission übernehmen!"

Die junge Frau achtete nicht auf sein angstvolles Stammeln und wiederholte ihre Frage: „Was geschieht, wenn es uns gelingt, dem König die Zauberkette abzustreifen?"

„Nun, wenn der König der Rutaner aus Pareiras Bann befreit ist, wird er sein Volk zum Kampf gegen die Vespucci führen. Der Zorn über die Demütigung ihres Königs, die sie so lange hatten hinnehmen müssen, wird den Kampfesmut der Rutaner ins Unermessliche steigern. Selbst wenn es den Rutanern nicht gelingt, die Vespucci zu besiegen, so werden sie doch dieses Volk der toten Dinge so beschäftigen, dass es für die Eroberung der Welt keine Zeit und auch keine Kräfte mehr hat.

Aber, und das macht diese Mission besonders gefährlich, die Vespucci kennen auch die Verheißung. Es gibt in jedem Volk einen Verräter, und irgendjemand hat ihnen davon erzählt. Deshalb bewachen sie alle Straßen und Grenzen und töten vorsorglich jeden Angehörigen eines kleinen Volkes. Viele Zwerge mussten schon sterben. Überall lauern ihre Agenten. Auch der Überfall auf das Heimland, den sie durch den Zauberkönig in Szene gesetzt haben, hat letztlich nur den Zweck, mögliche Retter des Rutanerkönig zu eliminieren. Bis jetzt waren die Vespucci mit ihren Vorsichtsmaßnahmen recht erfolgreich. Ihre Wachsamkeit nahm deshalb in der letzten Zeit ab. Hier liegt eure Chance."

„Die Vespucci sind also zu allem Überfluss auch noch gewarnt. Überall sind Agenten, die nur darauf lauern, Angehörige eines kleinen Volkes umzubringen. Je mehr Einzelheiten ihr berichtet, desto unmöglicher erscheint mir die Erfüllung dieses wahnwitzigen Auftrags."

Marcs Stimme zitterte vor Verzweiflung.

„Sei doch endlich still!" fauchte ihn Akandra an. Dann fuhr sie an die Älteren gerichtet fort: „Also nehmen wir an, die Vespucci werden besiegt. Was dann?"

„Wenn die Vespucci besiegt sind, könnte dies die Wende bedeuten. Ein neuer Anfang wäre möglich. Die Sterblichen hätten die Chance sich ihrer Wurzeln zu erinnern. Die Rechtschaffenen könnten dann verhindern, dass böse Mächte erneut willige Partner auf der Welt finden. Wir, die Älteren, könnten aufklären, die neuen Generationen anders erziehen, das Böse in der Welt gleich im Keim ersticken! Dann bestünde eine Chance, alle, die guten Willens sind, für immer aus der Sklaverei, aus der Angst und dem Schrecken zu befreien."

„Für immer?" Marc lachte bitter auf. „Ist dies nicht eine schöne Illusion? Glaubt man nicht nach jedem Sieg, dass alles besser wird? Hält man nicht jeden Kampf für den letzten und doch kommen immer wieder neue?"

„Marc, deine Zweifel sind berechtigt. Natürlich wird es nicht einfach sein. Aber sollte man nicht zumindest den Versuch wagen und sich nicht mit den Übeln der Welt abfinden? Ist nicht schon die Hoffnung selbst ein erster Schritt in die richtige Richtung?"

Der junge Mann ließ sich nicht so rasch überzeugen und wandte schroff ein: „Das sind doch törichte Illusionen. Das Böse, was immer man auch darunter verstehen mag, ist ein Teil in jedem von uns. Ihr redet, als gäbe es einen Feind, der das Böse wie eine Art Krankheit in die Welt bringt, die Sterblichen damit gleichsam infiziert. Das ist doch Unsinn. Niemand glaubt von sich selbst, dass er böse ist, niemand will böse handeln. Wenn er es dennoch tut, und wir alle wissen, dass ununterbrochen Unrecht begangen wird, so glaubt jeder, dass er im Recht ist. Ich, so denkt man sich, handle nur so, weil es mein gutes Recht ist, oder weil die anderen mich dazu zwingen und so weiter und so fort.

Selbst wenn man die Vespucci besiegen könnte, wären doch Mord und Totschlag, Neid und Hader nicht aus der Welt. Den einzigen Weg in die richtige Richtung sehe ich darin, uns selbst zu verändern. Wir sollten nicht glauben, wenn wir irgendwelche Kriege führen, dann würde sich schon alles zum Besseren wenden.

Natürlich müssen wir uns jetzt vor den Orokòr schützen. Aber was soll dieser sinnlose Marsch zu einem fernen Volk, den ihr von uns verlangt? Von mir aus haben die Vespucci die Orokòr und sogar den schrecklichen Zauberkönig aufgehetzt. Meinetwegen sind ihre Agenten überall. Dennoch muss der Kampf ums Überleben hier geführt werden.

Ich bin zwar noch jung, aber ich habe mich, so lange ich denken kann, immer für die Vergangenheit interessiert. Wenn ich also das, was ich von der Geschichte kenne, richtig deute, dann haben alle Leute immer nach irgendeinem Feind in der Welt gesucht. Ihr ganzes Bestreben und damit ihr Glaube und ihre Hoffnung waren stets darauf ausgerichtet, diesen Feind zu vernichten. Wäre er erst ausgemerzt, so meinte man zu allen Zeiten, dann würde alles gut werden. Mit der Begründung, das so genannte Böse bekämpfen zu wollen, hat man aber zu allen Zeiten furchtbares Unheil angerichtet und Unrecht begangen. Wenn zwei sich bekämpfen, so denkt doch jeder, er verteidige sich nur gegen das Böse im anderen.

Im Namen des Guten wird ständig böse gehandelt. Wir müssen endlich aufhören, nach dem Bösen in den Anderen zu suchen und beginnen, uns selbst zu verändern. Wir selbst sind das Böse. Einer ist des Anderen Wolf, und dieses Übel kann nur jeder selbst bei sich beenden. Ich kann nur für mich selbst beschließen, endlich kein Wolf mehr zu sein.

Ich dachte bisher, dass nur wir Sterblichen zu töricht seien, die wirklichen Zusammenhänge zu erkennen. Doch nun höre ich diese unsinnige Argumentation von euch Unsterblichen."

Dies war eine lange Rede gewesen. Marc war, während er gesprochen hatte, aufgestanden und hin und her gelaufen. Er hatte rote Flecken im Gesicht. Nun setzte er sich wieder, trommelte aber noch immer nervös mit seinen Fingern auf die Armlehne des Sessels. Die Älteren hatten ruhig zugehört. Ihren Gesichtern war weder Zustimmung noch Ablehnung abzulesen.

Eine der Frauen entgegnete: „Du hast nicht unrecht. Sicher war die Suche nach dem, wie du es nennst, ‘so genannten Bösen’ häufig die Ursache für Tyrannei, Gewalt und Hass. Natürlich haben sich die Sterblichen oft gegenseitig mit dem Argument gequält, das Böse im andern zu bekämpfen. Aber warum ist das so, woher stammt diese wahnwitzige Rechtfertigung für Untaten und Unterdrückung? Weil eben das Böse in der Welt ist und sich in eure Herzen geschlichen hat. Das Böse benutzt die Furcht vor dem Bösen, um die Welt zu beherrschen. Dem gilt es Widerstand zu leisten, da hast du ganz Recht. Das Böse in jedem einzelnen muss bekämpft werden. Aber allein könnt ihr damit nicht fertig werden, dazu seid ihr zu schwach. Du kannst dich noch so leidenschaftlich dagegen wehren, das Böse in euch wird gesteuert und genährt von bösen Mächten, und die kommen von außerhalb."

„Also wäre der einzige Weg, die Welt zu befrieden, alle Wesen umzubringen? Dann hätte das Böse keinen Nährboden mehr. Ein schöner Friede wäre das. Die Orokòr sind demnach die Heilsbringer“, warf der Erit erbittert ein.

„Dies wäre in der Tat ein törichter Weg, obgleich schon viele mit diesem Gedanken gespielt haben."

„Also steckt uns alle in Quarantäne!"

„Vielleicht ist diese Welt eure Quarantäne?"

Marc wandte sich wieder der geforderten Aufgabe zu: „Was haben mir die Vespucci getan? Ich bin sicher, dass die Vespucci selbst glauben, mit den besten Absichten zu handeln. Schließlich wollen sie der Welt doch nur eine Ordnung bringen, die sie selbst für die beste halten. Sie haben also keinerlei Unrechtsbewusstsein. Dennoch schickt ihr mich in den Kampf gegen sie. Krieg soll eurer Meinung nach geführt werden, um die Welt zu retten? Mit Kriegen werden aber keine Übel bekämpft, die Kriege sind selbst das Übel. Sogar die Taube ist ein grausames Tier, das eine unterlegene Artgenossin ohne Unterlass und ohne Erbarmen quält. Die Taube ist grausamer als der Wolf."

Jetzt mischte sich Akandra wütend ein. Sie hatte bisher stumm zugehört und war nun mit ihrer Geduld am Ende: „Marc versucht vielleicht die böse Macht uns durch dich zu beeinflussen? Ist der Feind vielleicht schon in deiner Gestalt unter uns oder du bist ganz einfach ein Hasenfuß, der nach Ausflüchten sucht, um sich vor der Gefahr drücken zu können."

Dann wandte sie sich an die Älteren: „Habe ich euch recht verstanden? Wenn die Vespucci besiegt sind, werden auch die Orokòr vernichtet werden?"

Einer der Älteren antwortete ihr mit Bedacht: „Eines kann man mit Sicherheit sagen, ein endgültiger Sieg über die Orokòr ist nur möglich, wenn sie von den Vespucci nicht mehr unterstützt und dirigiert werden. Ist die Macht der Vespucci gebrochen, so ist auch der Untergang der Orokòr wahrscheinlich."

„Dann werde ich gehen!" Die junge Frau sagte dies so bestimmt, dass alle sie verblüfft ansahen.

Auch Marc sagte nichts mehr. Endlich meinte eine der Älteren: "Ich glaube, wir sollten später weiterreden. Ihr braucht jetzt viel Schlaf. Auch will ich euch Zeit zum Überlegen geben. Mit einer voreiligen Entscheidung ist weder mir noch euch gedient."

Akandra wandte selbstbewusst ein: „Ich brauche keine weitere Zeit zum Überlegen."

Doch ihre Gastgeber gingen nicht weiter darauf ein. Man erklärte den beiden Besuchern, dass sie den Abend alleine verbringen würden. Man wolle ihnen Ruhe gönnen und Zeit zum Nachdenken lassen. In einem kleinen Raum, der ganz mit dunklem Holz getäfelt war, verabschiedeten sich die Älteren. Ein massiver Tisch mit einer polierten Platte stand in der Mitte und um ihn vier Stühle. Das Abendessen wartete bereits. Es gab kräftiges Brot, Butter, Käse und Salz. Auch eine Kanne Bier stand auf dem Tisch und zwei Krüge. Schweigend und in Gedanken versunken kauten die beiden Erits das Brot und tranken das Bier. Hin und wieder versuchte Marc ein Gespräch, aber Akandra war einsilbig. Sie behandelte Marc mit Verachtung.

Nach dem Essen waren sie noch nicht müde genug zum Schlafen. Sie waren zu aufgewühlt von dem Disput und all den Neuigkeiten, die sie erfahren hatten. Deshalb verließen sie das Zimmer und schlenderten durch die langen Gänge dieser Unterwelt. Irgendwann hielt der junge Mann die gereizte Spannung nicht mehr aus. Er fragte seine Begleiterin: "Was hast du denn?"

Sie zischte ihn an: „Feigling! Wenn du keinen Mut hast, dann gehe ich eben allein. Aber dann stehe zu deiner Feigheit und suche nicht ständig nach faulen Ausreden."

„Ich habe tatsächlich Angst. Und wenn du dich nicht fürchtest, so hast du die Gefahr, in die wir gehen sollen, nicht erkannt. Mut ist manchmal nur eine Form von Dummheit, und ich dachte bisher nicht, dass du zu dieser Art Helden gehörst. Du enttäuschst mich nicht weniger als ich dich."

„Ach“, antwortete sie, „diese Taktik kenne ich inzwischen bei dir. Angriff, so meinst du, ist die beste Verteidigung. Aber mit deinem ewigen Gerede kannst du mir nicht imponieren."

Eine Pause trat ein. Dann fuhr sie ruhiger fort: „Mit Gerede kann man die besten Pläne zerstören. Gedanken sind stets blass, und nur Taten sind das Leben. Mit Gedanken wurde die Welt nicht erschaffen und kein Acker gepflügt. Zögerliche Gedanken machen unsere besten Vorhaben und Unternehmungen von vornherein krank und schwach. Du hast doch gesehen, was die Orokòr angerichtet haben. Willst du denn keine Rache? Soll dies alles ungesühnt bleiben? Sollen diese Bestien denn weiter ungeschoren morden dürfen? Wenn es nötig ist, die Vespucci zu besiegen, um die Orokòr zu treffen, dann werden wir unsere Pflicht tun und uns zu diesem Volk auf den Weg machen. Die Vespucci sind einen Pakt mit dem Bösen eingegangen. Wir müssen die Welt von ihnen befreien!"

„Aber selbst, wenn wir wider alle Vernunft Erfolg haben sollten und die Macht der Vespucci gebrochen wird, werden doch neue Völker kommen und versuchen, die Welt zu unterjochen. Dieser Kampf gegen das so genannte Böse ist aussichtslos. Immer wenn du gesiegt hast, kannst du ihn neu beginnen."

„Willst du damit sagen, dass man das Übel nicht bekämpfen soll, nur, weil damit zu rechnen ist, dass neues Übel folgt? Du willst dein Haus nicht putzen, nur, weil es bald wieder schmutzig sein wird? Ich will, dass meine Kinder, wenn ich je welche haben werde, in Frieden leben können. Ich will, dass sie durch die Welt reisen können, ohne Flüchtlinge zu sein. Und ich will natürlich auch Frieden und Glück für das Heimland!"

„Lass es gut sein“, sagte er resigniert. „Ich werde mit dir auf diese unsinnige Reise gehen, auch wenn ich von dem Sinn dieses Unternehmens nicht überzeugt bin. Ich weiß auch nicht, ob man uns hier unten nicht zu Werkzeugen für Interessen macht, die wir nicht überblicken können. Ich traue diesen Älteren nicht, obwohl sie mir nicht unsympathisch sind. Welche Ziele sie wirklich verfolgen, kann ich nicht erkennen. Ich würde leichteren Herzens gehen, wenn ich das herausgefunden hätte."

„Du bist ein misstrauischer Spinner“, antwortete sie, aber ihre Stimme war nicht mehr so abweisend und hart wie zuvor.

Am nächsten Morgen wurden sie abgeholt und in die große Halle geführt. Sie standen vor dem Kreis der alten Leute. Die Kerzen flackerten, und ihr Ruß stieg in die hohe Kuppel.

„Nun, wozu habt ihr euch entschlossen?" fragten die Älteren mit großem Ernst.

„Was sein muss, wird getan!" antwortete Akandra ohne zu zögern.

Verwundert bemerkte Marc, dass von den alten Leuten keine Reaktion kam. Sie zeigten weder Verwunderung noch Erleichterung. Deshalb fragte er: „Wusstet ihr, dass wir gehen würden?"

„Ja!"

„Und wenn wir nicht gegangen wären?"

„Dann wäret ihr eben nicht gegangen. Aber ihr geht doch! Was soll also die Frage?"

Alle erhoben sich feierlich und nahmen die Besucher in ihre Mitte. In einem Nebenraum stand ein schwerer Eichentisch. Ihn bedeckte eine rote Brokatdecke. Die Gaben, die darauf lagen, wurden von den alten Leuten nun feierlich überreicht.

Zuerst erhielten die Erits ein Paket mit Landkarten. Ihr Weg war auf den Pergamenten mit einem roten Strich eingezeichnet. Es waren kostbare Schriften. Jede einzelne von einem Künstler mit großer Sorgfalt und Genauigkeit gemalt und mit bunten Bildern geschmückt. Die Älteren warnten eindringlich davor, irgendjemandem jemals diese Karten zu zeigen. Ihre einzige Chance bestand in der Überraschung. Wenn ihr Weg ihren Feinden bekannt würde, könnten sie ihnen Hinterhalte stellen und fremde Völker gegen sie aufhetzen. Selbst der kurze Blick eines Fremden auf eine der Karten könnte ihre Mission zum Scheitern verurteilen.

"Bedenkt stets, auch die Vespucci kennen die Prophezeiung, und sie nehmen sie ernst. Überall in der Welt sind ihre Schergen“, wiederholten die Älteren noch einmal ihre Warnung. "Sie überwachen alle Wege, und sie kontrollieren die meisten Völker der Erde. Ihr seid, wo immer ihr euch auch aufhalten mögt, in Gefahr."

Auf diese Ermahnungen folgte die Übergabe der Waffen. Es waren Zauberwaffen, die in den Schmiedewerkstätten tief unten in den Bergen hergestellt und auf den Altären hoher Türme mit einem mächtigen Zauber versehen worden waren. Marc erhielt einen Hammer, der nach dem Wurf stets in die Hand des Werfers zurückkehrt. Er hatte die Wucht eines schweren Schmiedehammers und war doch federleicht. Seltsame Zeichen hatten die Schmiede in seinen schwarzen Kopf eingraviert. An seinem Stiel baumelte eine silberne Kette, mit der er am Gürtel festgemacht werden konnte.

Auch ein Schwert bekam der Erit. Es durchschlug Stahl und Eisen ebenso wie Marmor und Stein, dennoch hatte es kaum Gewicht. Es war eine Waffe für Könige. Das mit Diamanten geschmückte Heft funkelte und glitzerte. Auch die goldene Scheide war mit Edelsteinen verziert.

„Es heißt ‘Blut des Gerechten’“, erklärten die Älteren. „Es hat nur ruhmreichen Helden gedient und wurde bislang nie besiegt.“

„Dann will ich es nicht haben“, erklärte Marc. „Ich würde nur Schande über diese Klinge bringen. Bürdet mir diese Last nicht auf!“

„Es ist keine Last, sondern eine Hilfe. Du wirst an seinem Ruhme wachsen! Aber zunächst solltest du Griff und Scheide mit Lederbändern umwickeln, damit man nicht sofort sieht, was für einen Schatz du mit dir führst.“

Akandra überreichten die Älteren einen Bogen, dessen Pfeile auf eine bestimmte Distanz sicher trafen und ein Messer, dessen Schneide nichts widerstehen und das glühend heiß werden konnte. Auch diese Klinge war mit sonderbaren Zauberzeichen bedeckt. Das Messer hieß ‘Blutzoll’.

„Diese vier Gegenstände gehörten einst den Unsterblichen. Es gab eine Zeit, da wusste man überall auf der Erde von ihrer Existenz und rühmte die Kunstfertigkeit ihrer Schöpfer. So mancher hätte sein Leben dafür gegeben, sie einmal in der Hand zu halten. Sie spielen in Sagen eine große Rolle. Doch schon lange glaubt man sie verloren und hat sie vergessen. Ihr könnt euch denken, dass diese Gaben sehr wertvoll sind und auf keinen Fall in die Hand der Feinde fallen dürfen. Aber mit Hilfe dieser Waffen habt ihr eine Chance, euer Ziel zu erreichen."

„Ich brauche keine Waffen“, sagte Marc trotzig. "Wenn ich niemandem etwas zu Leide tue, wird man auch mir nichts anhaben."

„Hast du deine Erlebnisse in Waldmar schon vergessen? Denkst du nicht mehr daran, wie uns die Orokòr gejagt und welche Angst wir ausgestanden haben?" Akandra war schon wieder wütend auf Marc. „Willst du endlich mit diesen Spinnereien aufhören?"

„Du wirst die Waffen benötigen“, sagte einer der Älteren schlichtend. „Und du wirst mit diesen Waffen töten, um nicht getötet zu werden."

„Ja“, bekräftigte die Grafentochter noch einmal, „was sein muss, wird getan!"

Zuletzt wurden die Erits noch mit Kleidern, die sie vor Hitze und Kälte schützen sollten, ausgerüstet. Die Muscheln verstauten die jungen Leute in weichen Umhängetaschen. Schwert und Hammer befestigte Marc an seinem Gürtel, während Akandra sich Bogen und Köcher um die Schultern hing. Das Messer verbarg sie unter ihrem Kleid am Oberschenkel. Dann waren sie bereit zum Aufbruch.

„Es fehlt noch etwas“, sagten die Älteren und führten die beiden über lange Wendeltreppen in noch tiefere Regionen der Unterwelt. Dort lagen in hohen Gewölben Schätze. Das Gold vieler Völker aus vielen Jahrtausenden war hier gestapelt und aufgehäuft. Aber nicht nur Gold und Silber wurden dort aufbewahrt, man sah auch Muscheln, Edelsteine und Münzen, die irgendwann einmal für ihre Besitzer sehr wertvoll gewesen waren. Mit diesen Schätzen hätte man alle Länder der Erde kaufen können. Fassungslos standen die Erits vor dem unermesslichen Reichtum.

„Nehmt euch was ihr braucht“, sagten die Älteren. „Aber bedenkt, wenn ihr zu viel davon mit euch herumschleppt, wird das Geld eine Last, die euch am Fortkommen hindert. Nehmt ihr aber zu wenig, so kann es sein, dass es euch gerade in dem Augenblick fehlt, in dem ihr es am nötigsten braucht. Wenn ihr zu große Münzen und zu wertvolle Stücke einpackt, dann fehlt euch etwas für kleine Belohnungen. Man kann nicht jeden Dienst, der einem erwiesen wird, mit einem Goldstück bezahlen, ohne dass sich dieses Ereignis wie ein Lauffeuer im ganzen Land herumspricht. Nehmt ihr aber zu viele geringe Geldstücke, dann tragt ihr eine schwere Last, und doch wird euer Reichtum bald aufgebraucht sein. Sich mit Schätzen richtig einzudecken, ist schwer. Überlegt und wählt gut!"

Die Erits füllten nach kurzer Beratung ihre Taschen nur mit funkelnden Goldstücken und einigen großen Silbermünzen, denn Akandra vertrat die Meinung, dass man das Geld unterwegs zurücklassen könnte, wenn es zu schwer würde, und Wechselgeld würde sich von selbst ansammeln. Aber, was man habe, das habe man. Später gebe es keine Möglichkeit mehr, die Vorräte zu ergänzen. Schädlicher wäre es, zu wenig mitzunehmen als zu viel. Sie kehrte sogar noch einmal zurück mit zwei Satteltaschen und füllte auch sie mit Gold.

„Ich hoffe, dass eure Überlegungen richtig sind, und das Geld für euch nicht zu einer gefährlichen Last wird“, bemerkten die Älteren warnend.

Endlich war alles gerichtet und zum Aufbruch bereit. Das Herz wurde den jungen Leuten schwer, und sie stellten die Frage, wie sie wieder nach oben kämen. Der Gedanke an die lange Treppe schreckte sie.

„Nur ein Weg führt in unsere Welt hinein, aber viele hinaus. Die Treppe bleibt euch erspart."

Die Älteren reihten sich noch einmal zu einer Prozession auf. Voraus gingen die Frauen, dann kamen Marc und Akandra, am Ende folgten die Männer. Es wurde kein Wort gesprochen, bis sie endlich zu einem langen Gang kamen. Er war dunkel und schien tief in das Unergründliche zu führen. Zwei Ponys von der Art, die Erits gerne reiten, standen dort. Sie waren gesattelt und scharrten ungeduldig mit den Hufen.

Die Abenteurer knieten nieder, und die Älteren gaben ihnen ihren Segen. Dann kam der Abschied mit Küssen und vielen guten Wünschen. Alle hatten Tränen in den Augen. Vater und Mutter blieben zurück, während die Kinder in die Welt zogen. Die jungen Leute kletterten auf die Rücken der Ponys und trabten los. Im Gang leuchtete ein schwaches Licht, das sie begleitete, bis sie das Tageslicht wiedersahen. Marc und Akandra ritten sieben Tage. Der Gang war breit und gerade und stieg stetig an. Hin und wieder rasteten sie, schliefen und aßen von den Vorräten, die sie in den Satteltaschen fanden. Auch Heu für die Pferde war vorhanden. In Abständen rann Wasser die steinernen Tunnelwände herab, von dem sie tranken. Am achten Tag sahen sie weit vor sich einen Lichtschimmer und gaben den Pferden die Sporen. Im Galopp jagten sie auf das Ende des Ganges zu. Dann standen sie im blendenden Licht der Sonne.

Centratur I

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