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[11] Vorwort Leben in schwieriger Zeit

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Die Corona-Krise verändert uns und die Gesellschaft – für immer? Wir dürsten nach Freiheit, Geborgenheit und Glück und wollen nicht länger in schwieriger Zeit leben. In dieser Sehnsucht nach dem guten Leben fühlen wir uns bisher von Wissenschaft und Forschung vielfach alleingelassen und enttäuscht. Monatelang, ja täglich und stündlich werden wir mit den Aussagen von Politikern und Experten konfrontiert. Doch mit der Flut der medial vermittelten Informationen entsteht der Eindruck, dass die nahe Zukunft – die Welt und das Leben nach der Krise – immer weniger prognostizierbar ist.

So gesehen haben Wissenschaft und Forschung gerade in Krisenzeiten eine besondere soziale Verantwortung. Sie müssen Antworten und Erklärungen für offene Fragen geben: Können wir den neuen Herausforderungen noch mit alten Gewohnheiten begegnen? Wird sich unser Leben wirklich grundlegend verändern? Und wie sieht die Gesellschaft danach aus? Fahren wir dann alle mehr auf Sicht oder Zuruf, weil niemand weiß, was kommt, was geht und was bleibt? Die folgende Zukunftsstudie beschreibt die Gefühls- und Lebenslage der Deutschen, wenn sich die Krisenlage Zug um Zug beruhigt und das Leben zurückkehrt – in Schulen, Kirchen und Läden, Restaurants und Shoppingcentern, in Parks, Passagen und auf öffentlichen Plätzen, wenn also der Alltag des öffentlichen Lebens wieder Einzug hält.

Während der erzwungenen „Bleib-zu-Hause“-Zeit hatten wir das Wohngefühl als Wohlgefühl erlebt und uns damit auch arrangiert. Jetzt muss der öffentliche Raum als „zweites Zuhause“ wiederentdeckt und neu erobert werden. Schließlich hatte der erzwungene Rückzug ins Private auch seine sozialen Schattenseiten („social distancing“), bei dem die Wohnung zur Isolierzelle nach draußen wurde.

„Am Horizont ist Licht in Sicht“ lautet das überraschende Ergebnis der folgenden Studie. Die Bevölkerung meldet trotz allgemeiner [12] Krisenstimmung ganz persönlich große Zuversicht an. Wer aber ist „die Bevölkerung“? In meinen Auswertungen stütze ich mich nicht auf Meinungen von Minderheiten, die vielleicht schon immer positiv gestimmt waren oder sind. Nein. Alle ausgewerteten Antworten auf die Frage „Was macht die Krise mit den Menschen und der Gesellschaft?“ sind repräsentativ ermittelte Mehrheitsmeinungen der deutschen Bevölkerung. Der Zustimmungsgrad der Befragten liegt beispielsweise bei 59 Prozent („Mehr teilen als besitzen“), 90 Prozent („Ohne Gesundheit ist fast alles nichts wert“) und 91 Prozent („Sehnsucht nach Sicherheit“).

Diese positiven Befunde haben allerdings auch ihre Schattenseiten. Denn je besser es der Mehrheit geht, desto aggressiver wird die Stimmung bei Minderheiten, die sich vom allgemeinen „Alles-wird-gut“-Gefühl der Bevölkerungsmehrheit ausgeschlossen und ausgegrenzt fühlen. Dann kippt nicht die Stimmung im Land, sondern die gefühlte Kluft zwischen Krisengewinnern und Verlierern wird größer und konfliktreicher, was auch die öffentlichen Demonstrationen während der Corona-Krise erklärt. Kritische Zeithistoriker weisen zudem nach, dass es grundsätzliche Vorbehalte, ja Ressentiments gegen die Mehrheitsgesellschaft gibt. Dahinter stehen Minderheiten, die sich mitunter „als moralisch höherwertig inszenieren und deshalb die Mehrheit explizit anfeinden“ (Vukadinovic 2020, S. 2). Sie fühlen sich als Minderheit von Rang und wollen entsprechend anerkannt werden. Ist das Demokratie pur, wenn die meisten Bürger und nicht Politiker oder Experten sagen, wie das Leben vor, während und nach der Krise weitergeht? Die Bürger sind doch der Souverän und die gewählten Politiker nur ihre Vertreter.

Die vorliegenden O.I.Z-Forschungsergebnisse stellen eine empirische, keine spekulative Bestandsaufnahme dar. Die Gedanken zum Wohlergehen und zur Lebenszufriedenheit der Menschen basieren ausschließlich auf gesicherten Daten aktueller Repräsentativumfragen von 3.000 Personen ab 14 Jahren in Deutschland, die in drei Befragungswellen durchgeführt wurden – vor der Krise (Januar 2020), in der Corona-Krise (März 2020) und nach den ersten Lockerungen (Juli 2020):

• Die erste Welle begann mit Repräsentativerhebungen vor der Krise. „Wir leben in schwierigen Zeiten: Umwelt-, Wirtschafts- und [13] Gesellschaftskrisen hinterlassen Spuren auf dem Weg in die Zukunft ...“ Mit diesen Worten startete ich am 20. Januar 2020 eine erste bundesweite Repräsentativumfrage und stimmte die Bevölkerung auf gesellschaftliche Veränderungen in naher Zukunft ein – bevor das Corona-Virus Deutschland erreichte und der erste Corona-Fall in Deutschland am 27. Januar gemeldet wurde.

• Die zweite Befragungswelle fand zwei Monate später vom 09. bis 19. März mit Beginn der Top-Corona-Zeit statt, als die WHO am 12. März die Verbreitung des Corona-Virus zur Pandemie erklärte, Ausgangsbeschränkungen in Deutschland drohten und politische Gebote und Verbote eskalierten: Veranstaltungen und Versammlungen wurden untersagt, Schulen und Kitas, Kinos, Läden und Restaurants geschlossen. Bundeskanzlerin Angela Merkel stimmte die Bevölkerung am 18. März auf die „größte Herausforderung seit dem Zweiten Weltkrieg“ ein und rief zu „Verzicht und Opfern“ auf. In dieser Krisenstimmung, als das öffentliche Leben in Deutschland stillgelegt wurde, fand die zweite Befragungswelle statt.

• Die dritte Befragungswelle wurde vom 13. bis 19. Juli 2020 in Deutschland durchgeführt, als es spürbare Lockerungen für die Bevölkerung gab, die Reisewarnungen des Auswärtigen Amtes für die EU-Länder aufgehoben waren und die Deutschen wieder massenhaft ins Ausland reisen konnten. In dieser Aufbruchsstimmung wurde die Bevölkerung erneut nach ihren Lebenseinstellungen und Zukunftsperspektiven repräsentativ gefragt. Kontaktsperren, Versammlungs- und Reiseverbote waren aufgehoben und Gaststätten, Geschäfte und Einkaufscenter wieder geöffnet.

In allen drei Zeitphasen von Januar bis Juli 2020 herrschte überraschenderweise in der Bevölkerung eine relativ große Gelassenheit, wie die Umfragen des Opaschowski-Instituts für Zukunftsforschung (O.I.Z) zeigen. Dieses positive Stimmungsbild zwischen Zuversicht und Zufriedenheit wurde zeitgleich auch durch die Repräsentativumfrage der R+V Versicherung über die „Ängste der Deutschen“ (R+V 2020) bestätigt: So wenig wie seit 30 Jahren nicht mehr bangten die Deutschen um ihren Job (24%) – zur Zeit der Finanzkrise war der Anteil doppelt so hoch [14] (48%). Auch der ARD-DeutschlandTrend bestätigte diesen Eindruck: Deutlich positiver als die allgemeine wirtschaftliche Lage in Deutschland betrachteten die Bundesbürger ihre persönlichen wirtschaftlichen Lebensumstände: 80 Prozent der Befragten beurteilten ihre wirtschaftliche Situation als „gut“ bzw. „sehr gut“ (ARD-DeutschlandTrend vom 4. Juni 2020).

Wie ist es zu erklären, dass die Deutschen ruhig und beruhigt waren und sind, also relativ angstfrei in die Zukunft blicken? Aus der internationalen Glücksforschung (vgl. Layard 2005) ist bekannt: Wenn alle Bürger von den Folgen einer Krise betroffen sind, gibt es keine Prestigewettkämpfe, weil alle mit sich selbst beschäftigt und weitgehend zufrieden sind. Subjektiv stellt sich mitten in der Krise ein Zustand des Sich-wohl-Fühlens ein, obwohl es den Menschen objektiv schlechter geht, sie sich aber im Vergleich zu anderen glücklich fühlen. Wenn also am Ende eines dunklen Tunnels Licht am Horizont zu sehen ist oder hoffnungsvolle Zeichen (z. B. „Kurzarbeitergeld“, “Staatlicher Rettungsschirm“, „Steuersenkung“) zu erkennen sind, steigt die positive Stimmung auf breiter Ebene.

Dies erklärt den Optimismus der Deutschen – trotz oder gerade wegen der Pandemie. Je gleichmäßiger die Risiken im Land und in der Welt verteilt sind, desto glücklicher sind die Bürger. Ein Geheimnis wachsender Zufriedenheit in Krisenzeiten ist auch die relativ gerechte Einlösung eines sozialpolitischen Gemeinwohl-Versprechens: Allen soll es nicht schlechter gehen!

Es ist absehbar: Corona hat uns und die Gesellschaft verändert. Der schier unvorstellbare Shutdown hat nachhaltige Spuren hinterlassen. Es setzt ein Nachdenken über den „wahren Wohlstand“ ein: Offensiv, positiv und proaktiv nehmen die Menschen die Herausforderungen der Zeit an. Hilfsbereitschaft ersetzt Hilflosigkeit. Und Zukunftshoffnungen siegen über Angst und Sorgen. „German Angst“ ist Geschichte, „No future“ auch.

„Wirklich, ich lebe in finsteren Zeiten.“ Bertolt Brecht hatte in seinem 1934 geschriebenen Gedicht „An die Nachgeborenen“ das Lebensgefühl der Menschen in Krisenzeiten treffend beschrieben. Zugleich aber ahnte er voraus: Die Menschen werden gestärkt aus der Krise hervorgehen. [15] Die nächste Generation der „Nachgeborenen“ wird eine andere sein: Sie wird mehr für andere da sein und sich gegenseitig mehr helfen: „Wenn es so weit sein wird, dass der Mensch dem Menschen ein Helfer ist …“

Kommt nach der Pandemie die Empathie? Die Corona-Krise setzte in Deutschland tatsächlich positive Energien und Widerstandskräfte frei. Die Bürger bewiesen Mut und Stärke für Gemeinsamkeiten in Familie, Nachbarschaft und Freundeskreis. Ihre Erfahrung des Aufeinander-angewiesen-Seins machte sie sozial sensibler und politisch selbstbewusster – von Familienkontakten über Freundschaftspflege und Nachbarschaftshilfen bis zu Bürgerinitiativen und sozialen Engagements. Die Krise erwies sich auch als Chance für eine neue Generationensolidarität.

Das neue Leben auf dem Weg in die Post-Corona-Zeit wird keine Reise ins Ungewisse sein. Die Deutschen erobern langsam ihr Leben und ihre Zukunft zurück: Sie bauen sich „ihr“ Haus der Zukunft neu. Alles, was sie für ein gutes Leben brauchen, findet sich in diesem Zukunftshaus wieder: Gesundheit, Geld und soziale Geborgenheit. Die stabilen Bausteine für die Nach-Corona-Ära sind die „3V“: Vertrauen. Verantwortung. Verlässlichkeit. Um persönliche Krisenerfahrungen reicher sehen die Bundesbürger mit Zuversicht in ihre Zukunft. Sie leben in einer semiglücklichen Gesellschaft und stellen dabei die Fragen nach ihrem persönlichen Wohlergehen neu:

• Wie viel Geld und Güter braucht der Mensch zum Glücklichsein?

• Was macht ein Mensch ohne Familie?

• Wird Gesundheit unsere neue Zukunftsreligion?

Horst Opaschowski

Die semiglückliche Gesellschaft

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