Читать книгу Die semiglückliche Gesellschaft - Horst Opaschowski - Страница 7
[17] I. Am Horizont ist Licht in Sicht! Die Menschen machen das Beste aus ihrem Leben 1. Ohne Gesundheit geht gar nichts. Wohlstand fängt mit dem Wohlergehen an
ОглавлениеEs gab einmal vor über 3.000 Jahren ein kleinasiatisches Reich namens Lydien. Und dieses Land wurde damals von einer großen Hungersnot heimgesucht. Eine Zeitlang ertrug das Volk die Härten, ohne zu klagen. Als sich aber keine Besserung der Lage abzeichnete, dachten die Lydier in ihrer Not über einen Aus-Weg nach. Sie entwickelten einen – würden wir heute sagen – geradezu mentalen Plan: Er bestand nämlich darin, wie Herodot in seinen „Persischen Kriegen“ (1. Buch/Kap. 54) berichtete, sich jeweils einen Tag so vollständig Spielen zu widmen, dass dabei kein Hunger aufkommen konnte, um dann am anderen Tage jeweils zu essen und sich der Spiele zu enthalten. Auf diese Weise verbrachten sie 18 Jahre (Csickszentmihalyi 1991, S. 11). Und in dieser Zeit erfanden sie den Würfel, den Ball und viele Spiele, die wir heute kennen ...
Dieser Bericht von Herodot mag historisch wahr oder erfunden sein, er weist zumindest auf eine interessante Parallele zur Corona-Krise 2020 hin: In Not- und Krisenzeiten können Menschen mental und sozial so kreativ und erfinderisch sein, dass sie darüber ihre Ängste, Sorgen und Probleme vorübergehend vergessen und aus der Not eine Tugend machen. Dabei fühlen sie sich „ganz gut“, weil es anderen auch nicht besser geht. Sie definieren sich subjektiv als wohl und gesund, obwohl sie objektiv keinen Grund dazu haben. Jenseits der Schreckensnachrichten in aller Welt konzentrieren sie sich auf ihr persönliches Wohlergehen. Sie machen sich fast beschwerdefrei und coachen sich mental. Alles zielt auf Wohlbefinden. Das Ergebnis während der Corona-Krise: Die Menschen konnten sich auch über die kleinen Dinge des Alltagslebens freuen – trotz oder gerade wegen der Shutdown-Situationen: Brettspiele, Basteln und [18] Nähen, Gartenarbeit, Reparaturen und do it yourself, Joggen, Fitness und Fahrradfahren. Selbermachen und gemeinsam etwas tun stand hoch im Kurs. Der Kampf gegen den Zeitbrei war angesagt. Abwechslung tat gut, Aktivität auch.
Nach der weitgefassten Definition der Weltgesundheitsorganisation (WHO) ist Gesundheit ein Zustand vollkommenen körperlichen, geistigen und sozialen Wohlbefindens und nicht allein das Fehlen von Krankheit und Gebrechen. Doch was ist letztlich gesund und was ist krank? Diese Fragen werden in Zukunft vor dem Hintergrund eines langen Lebens immer schwerer zu beantworten sein. Deshalb bekommt das Gesundheitssystem eine fundamentale Bedeutung. Diese ergibt sich zentral aus der Beantwortung der Frage, was wohl tut und wichtig für das persönliche Wohlergehen ist. Erst danach stellt sich die Frage nach der Finanzierbarkeit. Neben der Gestaltung gesunder Lebens- und Arbeitsbedingungen kommen der Prävention und Gesundheitsförderung eine vorrangige Bedeutung zu. Sogenannte primärpräventive Maßnahmen, die gesundheitsförderlich sind und Erkrankungswahrscheinlichkeiten senken helfen, rücken stärker in den Blickpunkt.
Die Krise und ihre Folgen auf den Punkt gebracht: Ohne Gesundheit ist fast alles nichts wert. Jeder und jede muss mehr für das eigene Wohlbefinden tun, also körperlich und seelisch, geistig und sozial fit bleiben, um im Leben nicht allein zu sein oder sich im Alter als fünfte Generation wie das fünfte Rad am Wagen zu fühlen. Positive Gesundheitstrends werden immer wichtiger. Wir können mit einem langen – und über lange Jahre in Gesundheit verbrachten – Leben rechnen, wenn wir selbst etwas dafür tun. Ein seit den 70er Jahren zu beobachtender Zukunftstrend setzt sich weiter fort: Die Gesundheit verbessert sich. Der Anteil der Bevölkerung, der seinen Gesundheitszustand als „sehr gut“ bezeichnet, nimmt überraschend stetig zu.
Das hat Folgen für Wirtschaft und Gesellschaft. Die Gesundheit wird zum Megamarkt der Zukunft. Es boomen Bio- und Gentechnologien, Pharmaforschung und Forschungsindustrien gegen Krebs, Alzheimer und Epidemien sowie gesundheitsnahe Branchen, die Care, Vitalität und Revitalisierung anbieten. Der Megamarkt Gesundheit einschließlich Pflege, Reha und Gesundheitssport wird in den nächsten Jahren [19] zum Wachstumsmotor Nr. 1: größer als die Automobilindustrie und vor allem personalintensiver. Rund sieben Millionen Beschäftigte zählt die Gesundheitsbranche. Die Pandemie beschleunigte diesen Expansionsprozess.
„Ohne Gesundheit ist fast alles nichts wert.
Deshalb achte ich im Berufs- und Privatleben darauf, gesund und fit zu sein.“
(O.I.Z 2020: 90%)
Noch im November 2017 hielten knapp drei Viertel der deutschen Bevölkerung (73%) die Gesundheit für einen besonders hohen Wert. Doch auf dem Höhepunkt der Corona-Krise im Frühjahr 2020 schnellte der Wert plötzlich nach oben. Mit 94 Prozent Zustimmung wurde jetzt die Gesundheit als das höchste Gut im Leben eingeschätzt. Eine Werteexplosion! Weder Wachstum und Wohlstand noch Geld und Güter oder Medien und Konsum erreichen diesen Spitzenwert. Das Votum der Bevölkerung ist klar und eindeutig: Ohne Gesundheit geht gar nichts.
Glück im Leben fängt mit der Gesundheit an. Das gesundheitliche Befinden der Menschen ist entscheidend für ihre Lebenszufriedenheit und ihre Teilhabe am gesellschaftlichen Leben. Der Gesundheitszustand der Bevölkerung lässt auch Rückschlüsse auf die Wirtschaftskraft des Landes zu. 90 Prozent der deutschen Bevölkerung achten seit der Krise im Berufs- und Privatleben darauf, „gesund und fit zu bleiben“. Das eint die Deutschen – quer durch alle Sozial- und Altersgruppen, die Singles (91%) wie die Familien (91%) und die Ruheständler (90%).
Corona hat die Einstellung der Menschen grundlegend und nachhaltig verändert. Die Gesundheitsorientierung des Lebens löst die bisher dominante Konsumhaltung ab. Gesünder leben können – das wird das wichtigste Lebensziel und „die“ Herausforderung für die Gesellschaft und die Zukunftsmedizin. Hilft hier die Digitalisierung der Gesundheit weiter? Stellt sich die Frage ‚Was ist ein gesunder Mensch‘ neu? Wird die digitale Medizin das Gesundheitsverständnis neu erfinden und bewerten? Silicon Valley hat längst die Medizin entdeckt. Amazon-Gründer [20] Jeff Bezos verbreitet die Vision: Stell dir eine Zukunft vor, in der du alterst – aber ohne die Krankheiten deiner Eltern. Eine Zukunft, in der Krankheit und Altern vermeintlich nicht schmerzen (vgl. Schulz 2018).
Gesundheit wird zum neuen Statussymbol und verdrängt die dominante Konsumhaltung im Leben. Infolgedessen wird der Systemcharakter des Gesundheitswesens immer bedeutsamer. Das Gesundheitsministerium wird so wichtig wie das Wirtschaftsministerium, die Charité so wichtig wie VW. Die Entdeckung des Megamarkts Gesundheit hat gerade erst begonnen. Pfleger und Ärzte werden als Helden des Alltags gefeiert. Sie können in Zukunft die neuen Heiligen in Deutschland sein, weil die Gesundheit beinahe Religionscharakter bekommt? Und immer öfter wird die Frage gestellt: Was sind wirklich wertvolle Berufe?
Nach wie vor sind Lebensgewohnheiten – und nicht Medizin und Medikamente – die wichtigsten Bestimmungsfaktoren für Gesundheit. Die Gesundheit lässt sich etwa zur Hälfte durch Veränderungen von Lebensstil und Lebensgewohnheiten beeinflussen. Hinzu kommen Umwelteinflüsse, humanbiologische Faktoren, Gesundheitssystem und die medizinische Versorgung (vgl. Hauser 1983). Das Wohlfühlen in der eigenen Haut wird zur lebenslangen Aufgabe. Andernfalls bewahrheitet sich ein Wort des französischen Philosophen Voltaire: „In der ersten Hälfte unseres Lebens opfern wir die Gesundheit, um Geld zu erwerben; in der zweiten Hälfte opfern wir unser Geld, um die Gesundheit wiederzuerlangen.“ Die Gesundheitsversorgung wird so wichtig wie die finanzielle Sicherheit. „Gut leben“ heißt aber auch, sich eine gute medizinische Versorgung leisten können. Die Corona-Krise hat nach Meinung der Bevölkerung (89%) gezeigt, wie „wichtig und systemrelevant eine gute medizinische Versorgung und eine forschungsstarke Pharmaindustrie im eigenen Land sind“. Subjektiv gesehen wird die Charité so wichtig wie VW.
Der schier unaufhaltsame Aufstieg der Gesundheitsorientierung des Lebens verändert unsere Lebensprioritäten. Die Frage ist berechtigt: Steht uns fast eine „religiöse Karriere der Gesundheit“ (Lütz 2012) bevor? Werden wir bald gesundheitsfromm die Halbgötter in Weiß, die Heil und Heilung versprechen, geradezu anbeten? Wird Gesundheit zum Synonym für Glückseligkeit und gutes Leben? Die Achtung, ja die [21] Hochachtung vor der eigenen Gesundheit wird immer bedeutsamer. Gesundheit bedeutet dabei aber mehr als körperliche Fitness: Es geht im wahrsten Sinn des Wortes um das Wohlfühlen in der eigenen Haut.