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2. Die Zuversicht wächst – trotz Krise. Vor allem Familien mit Kindern blicken optimistisch in die Zukunft

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Es war einmal ein deutsches Sommermärchen – zur Zeit der Fußball-WM im Jahr 2006. Die positive Stimmung während der Spiele hatte unser Land verzaubert. Die Nationalmannschaft wurde als „Weltmeister der Herzen“ auf der Berliner Fan-Meile von einer halben Million Fans gefeiert. Und auch international fanden Deutschland und seine Menschen hohe Anerkennung für die Leichtigkeit, Fröhlichkeit und Freundlichkeit, die das Land weltweit für über dreißig Milliarden TV-Zuschauer ausstrahlte. „War“ das einmal? Hat sich Deutschland seither grundlegend verändert? Weicht mittlerweile die Leichtigkeit der Spiele einer bleiernen Pandemie-Angst mit resignativen Zügen? Wartet ein Leben in Moll auf uns? Oder sind die Deutschen für Zukunftsängste empfänglicher als andere? Derzeit spricht alles dafür, dass die Deutschen eher die Lebenskunst beherrschen, auch und gerade inmitten schwieriger Zeiten die eigene Lebenszufriedenheit zu bewahren und gleichzeitig die Hoffnung auf bessere Zeiten nicht zu verlieren. Gut leben im Krisenmodus: Das beschreibt eher eine neue Form deutscher Gelassenheit (und nicht eine neue deutsche Ängstlichkeit). Die Deutschen wollen einfach ihr Leben leben.

Muss man deshalb als Optimist oder als Däne geboren sein? Nach dem „World Happiness Report“ der Vereinten Nationen sind die Dänen unter 160 untersuchten Staaten die glücklichsten Menschen der Welt. Als wichtigsten Grund führt das von den UN beauftragte Earth Institute der New Yorker Columbus Universität neben der hohen Lebenserwartung die geistige Gesundheit bzw. mentale Fitness auf der Basis einer positiv-optimistischen Selbstwahrnehmung an. Die Dänen gelten als besonders bescheiden, weil sie sich auch über die kleinen Dinge des Lebens freuen können. Fragt man einen Dänen: „Bist du ein Optimist?“ Dann antwortet [22] er: „Ich hoffe es.“ Mit der Hoffnung wächst die Lebensbejahung als Voraussetzung für ein glückliches Leben.

Für das positive Denken haben die Dänen kein Monopol. Zuversichtlich in die eigene Zukunft schauen gehört seit jeher zum Menschen wie der aufrechte Gang. Ohne positives Denken, ohne Hoffnungen und Träume kann der Mensch – das einzige Wesen, das die Unausweichlichkeit seines Verfalls und Todes kennt – nicht leben, ohne von dem Gedanken daran erdrückt zu werden. Mit der Entwicklungsgeschichte der Menschheit ist von Anfang an das Wunschdenken, der Glaube an ein besseres Leben, auch und gerade in krisenhaften Zeiten verbunden. Wenn das Leben in Gefahr ist oder die Lebensqualität spürbar schlechter wird, setzt der menschliche Wille zum Leben ein: Der Kampf ums Überleben, der Abschluss einer Lebensversicherung, die Teilnahme am Glücksspiel, die Begeisterung für eine neue Idee oder Religion, die Hoffnung auf persönliches Wohlergehen, Gesundheit, die Zuversicht, das gute Gefühl und der positive Glaube daran, dass es besser wird.

Die Repräsentativerhebungen von O.I.Z „vor“, „während“ und „nach“ der Corona-Krise weisen nach: Wir leben nicht in einem Land, in dem „Angst und Pessimismus“ (Wolfrum 2020, S. 233) vorherrschen und die Zukunft ziemlich düster und finster erscheint. Und auch die Aussagen einer Reihe von Angstpsychologen „In Krisenzeiten neigen wir dazu, pessimistisch zu denken“ (Endres u. a. 2020, S. 44) treffen in der Corona-Krise nicht zu. Ganz im Gegenteil: In der persönlichen Einschätzung der Bevölkerung ist 2020 repräsentativ nachweisbar: In Zeiten von Corona neigten und neigen die Deutschen dazu, optimistisch zu sein. Diese Zuversicht schützte, motivierte und machte Mut, obwohl Psychologie, Biologie und Pathologie der Angst negatives Denken apokalyptischen Ausmaßes geradezu nahelegten und prognostizierten. Für die Deutschen ist die Zuversicht nicht am Ende und geht das Vertrauen in die Zukunft nicht verloren. Eher gilt: Am Horizont ist Licht in Sicht!

Die überwiegende Mehrheit der Bevölkerung verhält sich weitgehend krisenresistent und gibt ihre Hoffnung auf eine bessere Zukunft nicht auf. „Trotz weltweiter Umwelt-, Wirtschafts- und Gesellschaftskrisen blicke ich optimistisch in die Zukunft“ sagt die überwiegende Mehrheit der Bevölkerung: Tendenz während der Krise sogar steigend [23] (Januar 2020: 79% – März 2020: 84% – Juli: 84%). Die Zuversicht wächst – trotz Krise. Bei den Bundesbürgern überwiegt nach eigener Einschätzung die positive Einstellung zum Leben. Krisen machen stark und zuversichtlich.


„Bei mir überwiegt die positive Einstellung zum Leben.

Trotz weltweiter Umwelt-, Wirtschafts- und Gesellschaftskrisen blicke ich optimistisch in die Zukunft.“

(O.I.Z Januar 2020: 79% – März 2020: 84% – Juli 2020: 84%)


Besonders glücklich kann sich schätzen, wer sich in solchen Krisenzeiten auf eine Familie stützen und verlassen kann. Es gibt keine andere Bevölkerungsgruppe in Deutschland, die so optimistisch in die Zukunft blickt wie die Familien mit Kindern (88%). Ihr Zukunftsoptimismus scheint kaum mehr steigerbar zu sein. Auch die mittlere Generation der 35- bis 54-Jährigen, die in der Rushhour ihres familiären und beruflichen Lebens steht, beweist Verantwortung für die nachwachsende junge Generation und hält ebenfalls weiterhin an ihrer positiven Zukunftsperspektive (84%) fest.

Die repräsentativen Umfrageergebnisse von O.I.Z weisen nach: Mitte Januar 2020 – VOR dem ersten Corona-Fall am 27. Januar in Deutschland – waren über drei Viertel der Bundesbürger positiv gestimmt. Verständlich auf den ersten Blick: China war schließlich „weit weg“ – und Deutschland (noch) nicht betroffen. Zwei Monate später – mitten in der Corona-Krise – wurde die Umfrage im Zeitraum vom 9. bis 19. März wiederholt. Die Überraschung: Statt Zweifel, Resignation oder Pessimismus herrschte wachsende Zuversicht vor. Die positive Einstellung zum Leben und zur Zukunft nahm weiter zu: Von 79 auf 84 Prozent und bei den jungen Familien mit Kindern sogar von 89 auf 95 Prozent. Im gleichen Zeitraum sank der Zufriedenheitsgrad der Singles geradezu erdrutschartig von 78 auf 68 Prozent. In Not- und Krisenzeiten ziehen sich die Menschen seit jeher in ihre „Burg“ zurück, an den „Ankerplatz“ und in den „sicheren Hafen“ der Familie.

[24] Die Frage stellt sich schon in dauerhaften Krisenzeiten: Was macht ein Mensch ohne Familie – ob alt oder jung? Das Single-Dasein hat immer zwei Gesichter. Die einen leben allein, weil sie es wollen, die anderen, weil sie es müssen – auch ein Grund, warum Einsamkeit in Zukunft ein Regierungsthema werden kann. Großbritannien hat bereits ein eigenes Einsamkeitsministerium eingerichtet.

Für die überwiegende Mehrheit der deutschen Bevölkerung aber gilt: Ein Großteil der Bevölkerung will sich trotz Krise seine Freude am Leben nicht nehmen lassen (jeweils 84 Prozent im März und Juli 2020). Er setzt darauf, dass in naher Zukunft alles wieder gut wird. Die „German Angst“ ist von gestern. Und das positive Lebensgefühl siegt über eine vermeintlich „deutsche Depression“. Die Politik setzt noch zu wenig auf diese Positiv-Potentiale der Bürger, insbesondere der Jugend. Die Krise kann doch zur Chance werden, wenn die Politik mehr darauf vertraut, dass die Bürger in der Lage sind, ihr Leben selbst zu meistern und an der Schaffung einer besseren Gesellschaft aktiv mitzuwirken. Mit dem positiven Denken ist immer auch ein Gefühl der Hoffnung verbunden, das Problemlösungen erleichtert.

In ein Bild gebracht: Im biblisch-lutherischen Sinne noch am Vorabend des Weltuntergangs einen Baum pflanzen ist bildhafter Ausdruck eines positiven Impulses im Menschen. Selbst hochaltrige Menschen haben Zukunftserwartungen, die sie als erwünscht, vorteilhaft oder genussvoll empfinden. Solange sie sich eine gute Zukunft ausmalen können, solange ist ihr Lebenswille ungebrochen. Ein positives Lebensgefühl erweist sich also als die beste Lebensversicherung. Die ‚positive Brille’ ist die wirksamste Medizin zur Lebensverlängerung. Eine solche Einstellung zum Leben geht erfahrungsgemäß mit größerer Selbstsicherheit einher. Entsprechend gering ist die Anfälligkeit für Depressionen (Lehr 1982, S. 241ff.). Selbst mit schwierigen oder unangenehmen Situationen haben positiv Gestimmte weniger Probleme. Sie beherrschen Lebenstechniken, die eine aktive Auseinandersetzung mit Problemsituationen (z. B. Partnerverlust, Pensionierung, Ausbruch einer Krankheit) begünstigen.

Meist handelt es sich um Personen, die von Kindheit an ein positives Selbsterleben haben oder in einer solchen Atmosphäre aufgewachsen [25] sind. Elternhaus, Erziehung und Bildung beeinflussen die positive Einstellung zum Leben am stärksten. Sie sind die beste Vorbereitung auf das Alter. Vorbereitungsseminare können die lebenslange Prägung durch die eigene Biographie kaum mehr ausgleichen. Aus den Biographien von über hundertjährigen Menschen geht beispielsweise eine durchgehend positive und humorvolle Einstellung zum Leben hervor. Die Vergnügtheit und Fröhlichkeit dieser Menschen ließ sie sehr alt werden – und das Altwerden machte sie offenbar lustig (Vester 1978, S. 322). Lachen als Lebensprinzip baut Konfliktstress ab und steigert die Lebensfreude. Eine lebensbejahende Einstellung zum Leben ist ein Garant für Lebensqualität und Lebenszufriedenheit bis ins hohe Lebensalter (Havighorst 1961, S. 4ff.). Das Selbstwertgefühl bleibt dadurch erhalten. Sich auf ein gutes, gesundes und langes Leben vorbereiten, kann daher nur heißen: Frühzeitig eigene Positiv-Potentiale entdecken. Das Ja zum Leben, auch zum Leben nach der Arbeit, ist erlernbar. Es macht jeden Lebensabschnitt zu einer Reise, an deren Ende ein neuer Anfang steht.

Aber kann es nicht schon bald heißen: Neue Normalität = Eingeschränkte Normalität? Gewöhnen wir uns an Maskenpflicht und Sicherheitsabstand, an Ausgangsbeschränkung und Ausnahmezustand? Schlägt der Optimismus dann um in gemischte Gefühle, wenn gar eine zweite Welle der Pandemie droht? Nein, alle Anzeichen sprechen für einen Optimismus als erster Bürgerpflicht. Optimismus in Krisenzeiten heißt doch nichts anderes als: Sich selbst und anderen Mut machen und Hoffnung geben. Selbst neuartige Zeitgeist-Magazine können nicht mehr auf die motivierende Kraft des Optimismus verzichten: „Die Zukunft ist da. Und wir tun alles, sie zur besten für alle zu machen“ (ada-Anzeige im Juni 2020) – ganz in der optimistischen Tradition des Philosophen Gottfried Wilhelm Leibniz im 17. und 18. Jahrhundert, wonach wir „in der besten aller Welten“ leben.

Der neue Zukunftsoptimismus der Deutschen setzt Erfahrungswerte und bisher gültige Naturgesetze der Psychologie fast außer Kraft: In Not- und Krisenzeiten sind Menschen, so hieß es bisher, eher pessimistisch gestimmt. Ängste und Sorgen dominieren – vor allem, wenn es das persönliche Umfeld betrifft. Bei weltweiten Krisen hingegen trifft das genaue Gegenteil zu: Die Bevölkerung blickt positiv in ihre eigene [26] Zukunft. Der soziale Kontakt im Familien- und Freundeskreis trägt wesentlich dazu bei. Bestätigt werden Erkenntnisse der internationalen Sozialforschung, wonach z. B. Problem- und Risikogruppen mit schweren Krankheiten oder Obdachlose, die auf der Straße leben, sich gut fühlen, sobald sie mit ihren Freunden oder ihrer Familie zusammen sind. Auf diese Weise können sie ihrer negativen Lebenssituation etwas Positives abgewinnen.

Wer so denkt, unterdrückt nicht negative Gedanken, nur „um den Optimismus gegenüber sich selbst und der Welt zu beweisen“ (Illouz 2019, S. 199). Wichtiger ist das Gefühl der Hoffnung, das wir zum Leben und Überleben brauchen. So zeichnet sich derzeit eine Art verhaltener, gebremster Optimismus in Deutschland ab. Die persönliche Einstellung dominiert: „Ich bin vorsichtig optimistisch!“ Diese Haltung schließt selbst- und gesellschaftskritische Analysen nicht aus, hilft aber, sich pro-aktiv mit der Zukunftsentwicklung auseinanderzusetzen.

Die semiglückliche Gesellschaft

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