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2. Blick auf die GegenwartGegenwart 2.1. Nachdenken, Leitgedanken, Anregungen

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Die Gegenwartsliteratur verhandelt dieselben Themen wie die Literatur aller Zeiten und Räume: Liebe und Verlust, Leben und Tod, Jugend und Alter, das Alltägliche und das Außerordentliche. Sie schließt kritische Auseinandersetzungen mit politischen Ereignissen, der gesellschaftlichen Verfassung und den vorherrschenden Lebensbedingungen ein. Die Gegenwartsliteratur ist mit gattungstheoretischen Kategorien nur bedingt entschlüsselbar. Die Lyrik, die Bühnenstücke, Dokumentarberichte und Erzählungen werfen Fragen auf, die dem Wunsch entspringen, das Verhältnis Einzelner zu anderen, zur Gesellschaft, zur Umwelt und zum Zeitgeschehen zu klären. Sprechende, beobachtende und handelnde Figuren bemühen sich, dem Geschehen Sinn abzugewinnen und ihr Ich zu erkennen. Die fiktionale Stilisierung der Beziehungen der Figuren zur Welt lässt keine einfachen Rückschlüsse auf die WirklichkeitWirklichkeit zu. Trotzdem spielt die thematisierte Wirklichkeit eine wesentliche Rolle in der Dokumentarliteratur, im klinischen RealismusRealismus und in Darstellungen, in denen sich Realität und Phantomwelten in der Erfahrung der Figuren vermischen. Der Substanzverlust der Wirklichkeit wird angesprochen in Erzählungen, in denen Figuren nicht mehr zwischen Realität und Bildern auf Monitoren oder Realität und erlebten Computerspielen unterscheiden können. Die Raumperspektive gibt Aufschluss über die existenzielle Situationexistenzielle Situation. Die Figuren befinden sich in Räumen, in denen andere Personen Funktionen erfüllen und in denen Lebensprozesse als Funktionen ablaufen. Die Figuren suchen Halt und versuchen, ihre besondere, individuelle Eigenart festzulegen. Sie suchen jedoch nicht nur Orientierung, sondern wollen auch aus dem Prozess ausscheren. Die Darstellungen schildern übereinstimmende und diverse Einstellungen, die von unterschiedlichen Formen der AnpassungAnpassung bis zur freudigen Bejahung des Lebens und SelbsterkenntnisSelbsterkenntnis reichen.

Bereits in den Nachkriegsjahren klingt in der Literatur das Entsetzen darüber an, dass eine vorbildliche Kulturgeschichte in Kriegsgeschichte und Verbrechen gegen die Menschheit einmündete. Die Erkenntnis dieser Situation ist wahrscheinlich eine der Voraussetzungen für das „Schweigen“ einer Generation über ihre Erlebnisse. Das in zahlreichen Erzählungen diskutierte Verstummen bedingt beispielsweise die Ermüdung des fiktiven Autors („der Alte“) in der Novelle Im Krebsgang (2002) von Günter GrassGrass, Günter. „Niemals, sagte er, hätte man über so viel Leid, nur weil die eigene Schuld übermächtig und bekennende Reue vordringlich gewesen sei, schweigen … dürfen.“1 Die Erzählung erkundet widersprüchliche und oft unvereinbare Auffassungen der VergangenheitVergangenheit und der Politik der GegenwartGegenwart, aber enthält unverkennbar die Aufforderung zur aktiven Teilnahme an der sittlichen Grundlegung der Gesellschaft. Auch Christa WolfWolf, Christa, die selbst Jahre nach dem Mauerfall die positiven Aspekte der kommunistischen Utopie betonte, stellt im Überblick ihrer Kindheit in Kindheitsmuster (1976) wiederholt den allgemeinen Orientierungsverlust der Bevölkerung fest. Die Menschen wurden gleichgültig, konnten niemals die „richtigen Fragen“ stellen und entwickelten das Gefühl, einem unerkennbaren Prozess ausgeliefert zu sein. Wolf ist überzeugt, dass die Situation mit dem Verlust fester Normen einsetzte. Die Suche nach sinnvollen Normen verbunden mit der scharfen Kritik des passiven Einordnens in die gegebenen gesellschaftlichen Zustände charakterisiert ausnahmslos die Schriften von Hans Joachim SchädlichSchädlich, Hans Joachim. Er beanstandet das utopische Denken, das mit Hilfe wissenschaftlich-technischer Entwicklungen eine friedliche, materiell und sozial leistungsorientierte Gesellschaft anstrebte. Schädlich, ähnlich wie Wolfgang HilbigHilbig, Wolfgang, Monika MaronMaron, Monika und Christoph HeinHein, Christoph, verurteilt die Auswirkungen der bestehenden Machtverhältnisse auf Menschen, die zu Identitätskrisen führen. Personen, die sich nicht dem gesellschaftlichen „Interesse“ fügen, erfahren nicht nur die Bedrohung durch das Staatswesen, sondern erleben die einmalige, eigenartige Situation, dass die Grenzen zwischen eigenen Vorstellungen und dem Wollen der Gesellschaft durchlässig werden. Diese Erfahrung, die von Wolfgang Hilbig in Ich (1993), Monika Maron in Pawels Briefe (1999) und Günter de Bruynde Bruyn, Günter in Zwischenbilanz (1992) erörtert wird, kann Vorstellungen hervorrufen, in denen Realität, Wahn und Traum verschwimmen. Die Figuren sind verunsichert, erfahren Identitätsverlust, werden mit den sie überwachenden Agenten austauschbar, fühlen sich schuldig, selbst wenn sie schuldlos sind, und erwägen letztlich die Möglichkeit, sie hätten Handlungen begangen, an die sie sich nicht erinnern können. Der Orientierungsverlust erzeugt schwere Krisen in der Sinngebung und Deutung des Lebens, die in Darstellungen der Ich-SucheIch-Suche, Ich-Erkundung markant hervortreten.

Zwei 1995 veröffentlichte Erzählungen SchädlichsSchädlich, Hans Joachim geißeln den totalen Verlust jeder Sinngebung im Leben. Mal hören, was noch kommt schildert die letzten Stunden eines Sterbenden, dessen ganzes Denken einschließlich kurzer Rückblicke um sein Ich kreist. Die konsequente Engführung der Erzählperspektive auf die physische Existenz (Triebleben, Fäkalien, langsames Verfaulen auf der Matratze) vermittelt den Eindruck des völligen Verlusts der Orientierung. Der Bericht, in der Tonlage kühl und verhalten, konstatiert menschliche Defizite, den Untergang von Utopien und das Ende von jeder Sinnstiftung im Dasein. Das Schließen des Sarges entlarvt auch die im letzten Satz anklingende scheinbare Neugierde („Mal hören, was noch kommt“) als Illusion. Es kommt nichts.2

Andere Figuren finden vermeintlichen Sinn und Halt in der unbedingten Hingabe an den Staat oder eine Ideologie. SchädlichSchädlich, Hans Joachim trifft den Kern des Daseins aller Agenten in der von Günter GrassGrass, Günter gelobten Erzählung Tallhover (1986) und im Trivialroman (1998). Der Erfahrungshorizont der Figuren wird beherrscht von dem Verlauf bedrückender, an KafkasKafka, Franz Prozeß erinnernder Ereignisse: Agenten, Chefs, das Archiv, anonyme Briefe, Telefonate, AggressionAggression, Schuldgefühle, wütendes Aufbegehren und LebensangstLebensangst. Wenn Madai ahnungslos ist, „muß Tallhover es in Herrn von Madais Kopf denken, damit der es weiß“.3 Die Beobachtung von Personen „hat das Folgende ergeben, sagt Tallhover.“ „Ich bin Arzt, sagt Tallhover im Tonfall von Professor Borchardt. Arzt sagt Tallhover.“ (178) Tallhover „träumt“, will die „Wahrheit“ über sich sagen und denkt über seinen Hass und seine Sympathien: „Sand, der den gleichen Vornamen wie ich trug, stach Herrn von Kotzebue in der Stunde meiner Geburt ins Herz, in den Mund und in den Leib, weil er meine Liebe zum reinen, unbedingten Staat, die Liebe seines Gegenbildes, treffen wollte; weil er meine Stimme, die ich für dieses Ziel gebrauchen sollte, ersticken wollte; weil er mich ehe ich geboren war, im Leib meines Vaters zu töten trachtete.“ (270) Patriarchalisch verbohrt und besessen vom Staatinteresse schließt sich Tallhover am Ende in seinen Keller ein, konfrontiert ein imaginäres Oberstes Gericht und wartet auf sein Ende: „Kommt! Helft mir! Tötet mich!“ (283)

So fügen sich die Figuren bis zum Schluss in ihr Schicksal, das zu bestimmen sie anderen überlassen. Das Gefühl der Hilflosigkeit und des Ausgeliefertseins in einer ausweglosen Situation bringt die Erzählung Schwer leserlicher Brief auf den Punkt, in der ein Arbeiter das Gesuch stellt, aus dem Staat entlassen zu werden, weil ihm die Genehmigung verweigert wurde, seinen schwer erkrankten Vater im „westlichen Teil der Stadt“ zu besuchen: „Ich kenn mich nicht aus den Akten.“4 Gleichermaßen aufschlussreich ist der Schluss des Trivialromans, als sich der Verbrecher Feder überlegt, seine Aufzeichnungen über die Taten seiner Bande zu veröffentlichen. „Heute, genau 3 Tage nach dem Telefonat mit Biber, lag ein anonymer Brief unter meiner Tür: Feder, mach Dein Maul nicht auf, sonst schieben wir Dir Deinen Schuh rein! Du lebst nicht allein auf der Welt! Sag Dir immer: ‚Ich will nichts! Das ist es, was ich will!‘“5 Feder gibt nach und besorgt sich eine Schachtel Zigaretten.

Demgegenüber entwirft Ernst JüngerJünger, Ernst trotz scharfer Kritik eine positive Vorstellung der GegenwartGegenwart mit Ausblick auf die kommende Zeit in seiner Betrachtung der grundlegenden Erneuerungen der Technik, den sozialen Veränderungen und dem Wandel in den Künsten am Ende des 20. Jahrhunderts. Er hält sachlich in der Schere (1990) die Höchstleistungen auf den Gebieten der technischen Kommunikation, Medizin und Pharmaindustrie fest, findet jedoch, dass die moralischen Konsequenzen nicht eingehend genug untersucht werden.6 Die Technik schafft jetzt, was im Vorausgriff die Mythologie, die MärchenMärchen und literarische Zukunftsphantasien festhielten. Ohne Rücksicht auf Maß oder Sicherheit nehmen Experimente ständig zu. Der allgemeine Zugang zu technischen Erneuerungen macht die Technik heute zur Weltsprache, die deutliche Spuren in den Künsten hinterlässt. Die eindringliche, unmittelbare Übermittlung von Bildern im Fernsehen und auf Monitoren erleichtert ein neues Verhältnis zur Sprache. „Das Auffluten von Bildern begünstigt ein neues Analphabetentum. Die Schrift wird durch Zeichen ersetzt, ein Verfall der Rechtschreibung ist zu beobachten. Vulgarisierung der Grammatik ist die Konsequenz.“ (117-118) Jünger betont, dass die Symptome der Zeit deutliche Spuren in der Sprache hinterlassen, übersieht jedoch die zahlreichen literarischen Werke, in denen wie etwa in Jochen BeysesBeyse, Jochen Ultraviolett (1990) und Larries Welt (1992) die Computer- und Fernsehwelt thematisch im Mittelpunkt der Darstellung steht. In diesen Erzählungen wird das in Computerspielen nachempfundene Leben zur Chiffre für den Identitätsverlust. Jünger hebt mehrmals die „Vereinzelung“ der Menschen hervor, hat jedoch festes Vertrauen, dass das Universum im Prinzip „harmonisch“ ist und sich unendlich in der Zeit in einer SpiraltendenzSpiraltendenz entfaltet. „Die erste Bewegung, etwa pulsierend vom Punkte zum Kreis und vom Kreis zum Punkte, oder windend vom Punkt zur Linie und Sprache, erzeugt nicht das Universum, sondern schließt es ein. Noch ist die Zeit ein Meer ohne Ufer, geräumig für alles, was je erscheinen und auch für das, was verborgen bleiben wird.“ (184)

Einzelne Schriftsteller sind politisch engagiert, manche sind überzeugt, dass sie den Staat nicht lenken können und andere gehen auf zurückliegende Kontroversen über die Aufgaben der engagierten oder unpolitischen Literatur und literarische Positionsbestimmungen ein. Autor(inn)en sind jedoch nahezu ausnahmslos von der gesellschaftlichen Verantwortung der Schriftsteller überzeugt. Die Literatur soll unterhalten, aber auch das Leben deuten, scheinbar undurchschaubare historische Prozesse dechiffrieren und nicht kommentarlos widerspiegeln. Die Kritik des Wirtschaftswunders wird ersetzt durch die Selbstbesinnung auf das Leben im Informationszeitalter, die Kritik des politischen Systemzwangs tritt in den Hintergrund und Deutungen der Anpassungssymptome nehmen zu. In Texten, in denen die Einvernahme in die heutige von den Medien maßgebend bestimmte Gesellschaft abgelehnt wird, folgt der Rückzug auf das Ich und die damit verknüpfte Ich-ErkundungIch-Suche, Ich-Erkundung. Wenn sich das Ich als gefährdet erweist, entstehen einerseits Versuche, das Dasein ersatzweise mythologisch zu befestigen, andererseits konzentrieren sich die Texte auf alle mit der SelbstverwirklichungSelbstverwirklichung verknüpften Themen.

Die Konzentration auf das Leben heute, die alltäglichen Freuden und Sorgen, die jüngste VergangenheitVergangenheit in den deutschsprachigen Ländern und das Schicksal des unbehausten Menschen im Bild einzelner Emigranten, Immigranten oder Vertriebener verbindet die Literatur. Bei allen Unterschieden – Radek KnappKnapp, Radek erzählt Geschichten wie Isaac Bashevis Singer, Peter HandkeHandke, Peter orientiert sich an GoethesGoethe, Johann Wolfgang Naturbeobachtungen und Jochen BeyseBeyse, Jochen übertrifft William GibsonGibson, William – zeichnen sich bemerkenswerte Parallelerscheinungen in Themen ab. Die thematische Orientierung und die Motivkreise schaffen Gemeinsamkeiten, die trotz großer stilistischer Unterschiede die Gegenwartsliteratur prägen.

Sinnsuche und Krise

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