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2.2. Chronisten des politischen Zeitgeschehens

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Die Erörterungen, ob 1945 die ‚Stunde Null‘ war, ob 1989 eine umgreifende Zeitenwende einleitete, Beobachtungen zum wechselvollen, langwierigen Prozess des Zusammenwachsens des ehemals geteilten Landes und Diskussionen über Kontinuität und Neuanfang der Literatur sind auch heute nicht abgeschlossen. Für Dieter WellershoffWellershoff, Dieter stellt 1945 eine klare Zäsur im deutschen Geistesleben dar. Er entwickelt diese Vorstellung in Aufsätzen zur Gegenwartsgeschichte, zur Zeitenwende und zur Wiedervereinigung. Die Texte sind ein Appell an die Vernunft. Wellershoff befürwortet die Demokratie und bestehende Verfassung als positive Entwicklung in Deutschland, nimmt Stellung zu Gewalttaten gegen Ausländer und lässt wiederholt Rückblicke auf die VergangenheitVergangenheit in die Erläuterung einfließen.1 Sein Kurzbericht über ein Gespräch mit einem japanischen Germanisten in Berlin verdeutlicht, dass die Auseinandersetzung mit der Vergangenheit den Hintergrund all seiner Darstellungen bildet. Der japanische Professor sagte: „Die sogenannte Auseinandersetzung der Deutschen mit ihrer Vergangenheit sei würdelos, denn man kritisierte seine Eltern nicht. Ich antwortete ihm, man nehme seine Eltern nur solange als lebendige, verantwortungsfähige Menschen wahr, solange man sich mit ihnen auseinandersetze, und historische Wahrheit könne nur im Gespräch der Generationen gefunden werden.“2

Im Gegensatz zu WellershoffWellershoff, Dieter sind zahlreiche Schriftsteller fest davon überzeugt, dass die Exilliteratur, die Dichtung und einzelne Autoren wie etwa Gerhart HauptmannHauptmann, Gerhart eine Brücke zur VergangenheitVergangenheit schlugen. 1945 bot wie die Wiedervereinigung die Möglichkeit zum Bruch mit der herrschenden Ideologie und die Chance zur geistigen Erneuerung. Jurek BeckerBecker, Jurek, Günter de Bruynde Bruyn, Günter, Günter GrassGrass, Günter, Peter HacksHacks, Peter, Karl Krolow und Martin WalserWalser, Martin glauben an eine nationale Kultur, die ihre Wurzeln im Denken der Aufklärung und Klassik hat, und die weder durch die propagierten Ziele des NS-StaatsNS-Regime noch die DDRDDR-Utopie einer sittlich-harmonischen Gesellschaftsordnung beseitigt wurde. Die politischen Maßnahmen der Regierungen verdeutlichten den Widerspruch zu den Endabsichten. Günter de Bruyn bemerkt nüchtern in seinem Lebensbericht, dass nicht alle seine Meinung teilen, betont jedoch:

Die SED-Theorie von den zwei deutschen Nationen mit den zwei deutschen Kulturen, von denen die eine der anderen auch noch um eine Geschichtsepoche voraus sein sollte, hatte meine Überzeugung nicht ändern können, daß auch während der staatlichen Teilung die eine Nation noch immer bestand. Ich glaubte nicht an die Möglichkeit einer baldigen Wiedervereinigung, wohl aber an die Beständigkeit einer nationalen Kultur. Meine Ansicht, daß nicht in Jahrzehnten zerstört werden könne, was sich in Jahrhunderten gebildet hatte, fand ich auch darin bestätigt, daß die Mauer und die politische Einbindung in den kommunistischen Osten keine Russifizierung zur Folge gehabt hatte und der Blick der DDR immer, ob freundlich oder feindlich, auf den freieren und größeren Teil Deutschlands gerichtet war.3

Auch SchädlichSchädlich, Hans Joachim lehnt jede Trennung zwischen DDRDDR- und BRD-Literatur ab. Er weiß aus eigener Erfahrung, dass es eine Literaturpolitik in der DDR gab. Trotzdem ist er überzeugt, dass Autor(inn)en gesamtdeutsche Werke schufen und gesamtdeutsch dachten. „Beide zusammen sind Deutschland.“4

Diese von vielen geteilte Überzeugung übergeht Ereignisse wie die Ausbürgerung WolfWolf, Christa BiermannsBiermann, Wolf 1976, die von Kritikern und Befürwortern kontrovers diskutiert wurde, und die langjährigen Entwürfe über die Aufgaben der Schriftsteller und die RealismusRealismus-Diskussionen in der DDR, die nach der Wiedervereinigung in Vergessenheit gerieten. Wie jede Kunst wurde die Literatur und Verantwortung der Autor(inn)en auf Parteitagungen besprochen. Schriftstellerverbände waren der Partei angeschlossen. Die Einstellungen der Parteifunktionäre und Theoretiker waren richtungsweisend und sollten befolgt werden. Die Erörterungen betreffen weitgehend Fragen der ‚wahrheitsgetreuen Wiedergabe‘ der WirklichkeitWirklichkeit, das ‚gesellschaftliche Interesse‘ und die ideelle Erziehung der Werktätigen. Übereinstimmung herrscht darüber, dass die Literatur auf die wesentlichen Anliegen der Zeit eingehen muss und keinen fatalistischen Eindruck erwecken soll. Diese Ansichten kommen deutlich zum Ausdruck in der vom Mitteldeutschen Verlag 1959 einberufenen Autorenkonferenz im Industriezentrum Bitterfeld (Bitterfelder KonferenzBitterfelder Konferenz). Eine zweite Konferenz folgt 1964. Die Teilnehmer sind Schriftsteller, Korrespondenten, schreibende Arbeiter und viele Funktionäre. Die Forderungen sind eindeutig und verlangen das Mitwirken am Aufbau des sozialistischen Staates, Bejahung der politischen Ziele der Regierung, enge Beziehungen der Autoren zu Gegenwartsfragen, den Kampf gegen das Überlebte, aber auch Rückbesinnung auf das klassische Erbe. Das Resultat war ein politisch orientierter Oberflächenrealismus, der ohne Wirkung auf die nicht staatlich geförderte Literatur blieb.

Volker BraunBraun, Volker ist der entschiedenste Befürworter einer eigenständigen DDRDDR. Er ist überzeugt, dass die sozialistische Gesellschaft im Gegensatz zur bürgerlichen und zum Kapitalismus im ‚gesellschaftlichen Interesse‘ wurzelt. Er nimmt zur Kenntnis, dass die utopische Verheißung höchster Sittlichkeit möglicherweise noch nicht völlig realisiert ist. Trotzdem ist die Gesellschaft im Werden und auf dem Weg zur Vervollkommnung. Braun kritisiert die „Selbstzufriedenheit“ der Bürokraten und Sozialisten, die nicht mehr tätig an der Entwicklung der Gesellschaft mitwirken.5 Das wahre Ziel liegt in der Zukunft. Das bisher geleistete genügt nicht: „In den Hallen früh, auf dem breiteren Feld, uns bleibt / Immer der Kampf: und es bleibt die Zeit des Volkes.“ (69) Brauns schärfste, einseitige und teils unreflektierte Kritik in Unvollendete Geschichte (1975, 1988) und KriegsErklärung (1967) ist gegen den Kapitalismus, das Wirtschaftswunder und den Vietnamkrieg gerichtet. Aber Brauns Darstellung im Hinze-Kunze-Roman (1985) vermittelt den Eindruck, es sei anmaßend anzunehmen, das ‚gesellschaftliche Interesse‘ verkörpere eine objektive Gesetzmäßigkeit.

Matthias Matussek betrachtet nicht die Literatur, sondern die Einstellung der ehemaligen Bürger der DDRDDR. Er legt zehn Jahre nach dem Fall der Mauer im Spiegel (8.3.1999) eine Zwischenbilanz unter dem Titel „Keine Opfer, keine Täter“ vor und kommt zu dem Fazit, dass in der Erinnerung vieler, besonders der Nutznießer, die DDR-Zeit beschönigt und rehabilitiert wird. Die Opfer sind vergessen. Wie schon nach dem Ende des NS-StaatsNS-Regime werden Zweifel und kritische Fragen mit dem Hinweis abgewiesen: Man muss das eben selbst erlebt haben. Die Beteiligten empfinden sich nicht als Täter, sondern als Leidtragende. Diese Diagnose findet sich auch in literarischen Darstellungen der DDR. Thomas Brussig und Uwe W. SchmidtSchmidt, Uwe schildern in humoristischen Erzählungen das alltägliche Leben in der DDR aus der Sicht von Nutznießern und Personen, die das System bejahten, ohne wie etwa Volker BraunBraun, Volker, Stephan HermlinHermlin, Stephan oder Christa WolfWolf, Christa über die Utopie der neuen gesellschaftlichen Ordnung nachzudenken. Die Erzählungen verdeutlichen wahrscheinlich unbeabsichtigt das „Vor-sich-Hinleben“ im AlltagAlltag, das in Auseinandersetzungen mit der kritiklosen AnpassungAnpassung an die Gesellschaft im Mittelpunkt der Betrachtung steht. Brussigs Geschichten Helden wie wir (1995) und Am kürzeren Ende der Sonnenallee (1999) verdeutlichen die Einstellung von Menschen, die sich über Wasser halten, die täglichen Sorgen meistern, ein „bisschen“ schmuggeln und schwindeln und sich weder vom Staat noch von der StasiStasi bedroht fühlen. Die Erzählungen versuchen, ähnlich wie Uwe M. Schmidts Die Datsche oder Wie der 2. Sekretär der SED-Bezirksleitung Kahlow beinahe die DDR gerettet hätte (2000), im Lesepublikum das Gefühl erwecken: Ja, so war das. Das Ganze war doch erträglich.

Uwe SchmidtsSchmidt, Uwe Datsche fängt den Mentalitätswandel in der Einstellung zur DDRDDR-VergangenheitVergangenheit ein. Der Roman, zehn Jahre nach der Maueröffnung geschrieben, entwirft ein Bild alltäglicher Sorgen, gleichermaßen wichtiger und unwichtiger Bemühungen im Leben von DDR-Bürgern. Die Hauptfigur, Ewald Machmann, nimmt sich vor, die Einwohner Kahlows durch eine großangelegte Kleingartenplanung fester an ihre HeimatHeimat zu binden. Die Planung der Schrebergärten im Sperrzonengebiet steht unter dem Motto: Wer im eigenen Grünen pflanzt und erntet, bleibt im Land. Die Banalisierung der sozialistischen Utopie erstreckt sich auf die Charakterisierung der Figuren. SED- und MfS-Funktionäre wirken nicht bedrohlich. Sie haben dieselben Sorgen wie alle Bürger: materiellen Wohlstand, Liebeleien, nicht ernst zu nehmende Sollerfüllung und Erfolg durch AnpassungAnpassung. Was Schmidt besonders gut darstellt, ist der Geist des Kleinbürgerlichen, der den Staat beherrscht. Das von oben proklamierte gesellschaftliche Interesse verflacht im AlltagAlltag zu rein persönlichen Anliegen. Auch die von Funktionären ständig betonte Forderung der Sicherheit, die im sozialistischen Staat den geordneten Verlauf des Lebens garantiert, mündet in die Vorstellung der Einwohner, der Staat sei eine Lebensversicherungsanstalt. So erklärt sich auch die Nostalgie, mit der sich die Eheleute Katja und Ewald Machmann im Ausblick der Erzählung auf die Zeit nach der Wende an das Leben in der DDR erinnern. Sie sehnen sich nach den guten alten Zeiten und fragen sich, „ob die DDR nicht doch noch zu retten gewesen wäre.“ (254) Die nachdrückliche Betonung der kleinbürgerlichen Atmosphäre lässt alles ehemals Bedrohliche und Unmenschliche in Vergessenheit geraten und fängt auf diese Weise kunstvoll eine in den neuen Bundesländern verbreitete Vorstellung ein. Zugleich zeigt gerade Schmidts Erzählung, wie fremd die Vergangenheit bereits vielen Lesern ist: Das Buch endet mit Erklärungen, einem Glossar der gängigen DDR-Abkürzungen und Phrasen.

Diese und ähnliche Apologien der DDRDDR sind letztlich Versuche, aus der Sicht all derer zu schreiben, die sich anpassten und Karriere machten. Die Besinnung auf die existenzielle Situationexistenzielle Situation der Menschen ist dennoch deutlich erkennbar in der scheinbar unbeteiligten Genauigkeit, mit der Volker BraunBraun, Volker den Zusammenbruch der kollektiven Identität im sozialistischen Staat schildert. Der Blick auf die Forderungen des Tages kennzeichnet nicht nur Braun, sondern auch die Vielfalt der Erzählhaltungen in Prosatexten und der Handlungsentwicklung in Stücken. Er ist deutlich in der leidenschaftlichen Teilnahme Monika MaronsMaron, Monika für die Erzählfigur in Animal triste (1996), die weder den Gigantismus der Saurier noch die absolut rationale Organisation der Ameisen in der menschlichen Gesellschaft wiederfinden will, und selbst in den von Thomas BernhardBernhard, Thomas stilisierten Monologen des atemlosen Sprechens, die leicht variiert in Erzählungen von Jochen BeyseBeyse, Jochen und Birgit VanderbekeVanderbeke, Birgit die VereinsamungVereinsamung Einzelner erfassen. Die ungelösten Gegensätze, unvereinbaren Widersprüche und fortbestehenden Probleme klingen in zahlreichen Erzählungen und Stücken an, in denen die Wiedervereinigung, der Mauerfall und die Mutmaßung einer ‚Zeitenwende‘ oder ‚Wendezeit‘ das besondere Kolorit für die menschliche Situation liefern.

Thomas HettcheHettche, Thomas verwertet in Nox (1994) Details aus Augenzeugenberichten und Tagesnachrichten in Dokumentation eines Tages (9. November 1989). Die Ausschnitte fangen die Aufbruchsstimmung ein und vermitteln das Gefühl eines Volksfests, einer fröhlichen Anarchie. Die Zukunft wirkt hoffnungsvoll. In Ulrich Woelks Rückspiel (1993) erlebt der Ich-Erzähler, ein Architekt, die Maueröffnung am Brandenburger Tor. Woelk hält mit dokumentarischer Genauigkeit die zeitgenössischen Pressestimmen fest, in denen sich die verschiedenen Einschätzungen der Ereignisse spiegeln. Der Fall der Mauer ist aus westlicher Sicht ein Symbol für das Ende der Unterdrückung, aus der Sicht der Bürger der DDR DDRein Signal für den Aufbruch in die Konsumgesellschaft. Diese wie auch die Erzählungen von Brigitte Burmeister Unter dem Namen Norma (1994), Günter de Bruynde Bruyn, Günter Zwischenbilanz. Eine Jugend in Berlin (1992), Rita Kuczynski Mauerblume. Ein Leben auf der Grenze (1999), Heiner MüllerMüller, Heiner Krieg ohne Schlacht (1992), Irina Liebmann Berlin (1994), Erich Loest Der Zorn des Schafes. Aus meinem Tagewerk (1990), Hans Pleschinski Ostsucht. Eine Jugend im deutsch-deutschen Grenzland (1993), Uwe Timm Johannisnacht (1996) und Klaus Schlesinger Trug (2000) bieten einen kaleidoskopischen Blick auf einen Abschnitt deutscher Geschichte. Vor Augen tritt die miterlebte Geschichte, ein Augenblick im Ablauf eines historischen Prozesses, der sich noch der Deutung entzieht. Diese Erzählungen, zu denen auch Andreas Neumeisters Ausdeutschen (1994) und Matthias ZschokkesZschokke, Matthias Der dicke Dichter (1995) gehören, sind zugleich erste Ansätze, im Querschnitt durch das Leben der Einwohner einer Stadt moderne Zeitromane zu schreiben.

ZschokkesZschokke, Matthias dicker Dichter strebt nach Genauigkeit, indem er ruhig beobachtet und aus der Distanz Stellung nimmt. Neumeisters Berichterstatter-Figur fährt unermüdlich durch Berlin, will alles aufnehmen, erkunden und erklären, das heißt „ausdeutschen“. Sie verliert jedoch die Orientierung im Strudel aktueller Nachrichten, Momentaufnahmen aus den Medien, den Bereichen der Philosophie, der Musik und der Literatur und selbst Kurzvignetten von Modeerscheinungen. Der Text verzeichnet einen Überfluss von Eindrücken, die jedoch scheinbar gleichberechtigt nebeneinander stehen und den Eindruck des Orientierungsverlusts erwecken. Das Nachdenken über die Folgen der Wiedervereinigung tritt viel stärker in den Vordergrund in den Romanen von Brigitte Burmeister Unter dem Namen Norma (1994 und Irina Liebmann In Berlin (1994). In beiden Romanen prägt die Teilung und Wiedervereinigung Deutschlands den Lebensrhythmus der Figuren und beeinflusst ihre Vorstellungs- und Gefühlswelt. Konkrete historische Ereignisse erscheinen in ihren Auswirkungen. Das große geschichtliche Panorama bleibt im Hintergrund, während es bei Jurek BeckerBecker, Jurek und Christoph HeinHein, Christoph deutlich in den Vordergrund tritt.

Jurek BeckersBecker, Jurek Erzählung Amanda herzlos (1992) ist wie Ein weites Feld (1995) und Mein Jahrhundert (1999) von Günter GrassGrass, Günter eine ausgezeichnete, aufschlussreiche und überzeugende Aufarbeitung der Zeit und der widersprüchlichen Vorstellungen unterschiedlichster Personen. Beckers mehrschichtige Perspektive und die Gliederung in Berichten, Überblicken und Geschichte in der Geschichte vertieft die Erzählung. Der Titel „herzlos“ erfasst konzentriert die allgemeine menschliche und gesellschaftliche Situation einer Welt ohne Karitas, Mitgefühl, Selbstlosigkeit und Hilfsbereitschaft. Der Roman veranschaulicht Amandas Leben und ihre Einstellung zur Gesellschaft aus der Sicht ihrer Ehepartner. Ihre Selbstbezogenheit und der Verlust einer sinngebenden Ordnung sind gleichermaßen nachweisbar in kritischen Darstellungen des alltäglichen Lebens in der BRD und dem wiedervereinten Deutschland. Der Roman schildert außerdem die Reaktion verschiedener Figuren auf Ereignisse, die vom Staatssystem der DDRDDR beeinflusst sind. Becker verdeutlicht nuanciert und überzeugend die unterschiedlichen Einstellungen zum System. Amandas Mutter Violetta Zobel kann nur die Schlagworte der Partei wiederholen und ist fest überzeugt, dass die Welt des Kapitalismus untergehen wird.6 Humoristisch eingefärbt sind die Feststellungen des Anwalts Kraushaar, der eine DDR-Bürgerin heiratet und unter größten Schwierigkeiten in die Republik übersiedelt. Die Ehe ist ohne Bestand und hinterlässt in ihm die feste Überzeugung, dass die Menschen in dem System verurteilt sind, unmündig zu bleiben.

Glauben Sie mir, sagte er, diese Leute sind für ein Leben in freier Wildbahn verdorben. Sie sind es gewohnt, in Gehegen zu existieren, alles Unerwartete versetzt sie in Panik … Ich habe vergessen zu erwähnen, daß diese Menschen kein Erbarmen kennen. In der Schule hat man ihnen eingebleut, daß das Mitgefühl im Kapitalismus den sicheren Tod bedeutet, und diese Lehre ist ihnen als einzige im Gedächtnis geblieben. Unsere Ehe bestand aus zwei Halbzeiten. In der ersten habe ich sie im Fach Lebensart unterrichtet; in der zweiten hat sie mir eine Lektion im Fach Gnadenlosigkeit erteilt. (299)

Im ‚ersten Bericht‘ beschreibt der Journalist Ludwig Weniger für den Scheidungsanwalt sein Leben mit Amanda. Er konzentriert sich auf ihre Schwächen, enthüllt jedoch zugleich seine eigenen. Die Ehe mit Amanda besteht aus ständigen Reibereien, weil sie es darauf anlegt, ihn zu ärgern. In ihr steckt „eine Niedertracht“, die keine Anstöße braucht, sondern „einfach da ist“. (72) Das Gesamtbild erfasst nur negative Eigenschaften: Amanda ist kalt, gefühlsarm, eigensinnig, berechnend, rechthaberisch und grenzenlos im Streit. (96) Außerdem lebt Ludwig, der sich völlig an das System angepasst hat, in ständiger Angst, dass die Ehe seiner Karriere schadet. Amanda versucht, als Schriftstellerin Karriere zu machen und nimmt Kontakt mit einem westdeutschen Verlag auf. Ludwig ist neidisch, liest heimlich in dem Manuskript und beurteilt es als misslungen. Seine Abneigung nimmt zu, als ihn Norbert, ein StasiStasi-Informant, wegen seiner Frau zur Rede stellt. Seine Reaktion verdeutlicht, dass er selbst alle negativen Eigenschaften hat, die er Amanda zuschreibt. Er ist außerdem bereit, seine Frau zu bespitzeln, ist roh und will nur bewundert werden. Insgesamt entspricht sein Verhalten dem des Schriftstellers Fritz Hetmann, mit dem Amanda neun Jahre verheiratet ist.

Hetmanns Bericht wiederholt und erweitert Ludwigs Beobachtungen. Hetmann ist Dissident, leistet jedoch keinen wirklichen Widerstand. Er erhält die Genehmigung, im Westen zu veröffentlichen, und lebt unangefochten in der DDRDDR. Seine Gedanken kreisen um sein Ich, nicht um die gesellschaftliche Verfassung. Er will stark und verführerisch sein, will bewundert werden und findet seine schriftstellerische Arbeit besser als Amandas, deren „gespreizte Ausdrucksweise“ langweilig wirke. (162) Er glaubt, sie leide an Erfolglosigkeit und solle über seine „Schultern sehen“. Sein Egoismus ist deutlich in der Feststellung: „Immerhin, gab es ja auch ihn, und welcher junge Mensch, der zu schreiben anfängt, hatte schon das Privileg, in unmittelbarer Nähe eines leibhaftigen Schriftstellers zu leben.“ (178) Diese Feststellung wie auch alle Hinweise auf die persönliche Haltung, die politische und allgemeine gesellschaftliche Situation erweitern die Dokumentation unerfreulicher Ehen schließlich zu einer umfassenden Darstellung verfehlter Selbstentwicklung in der GegenwartGegenwart, die sowohl das Leben in der DDR als auch im wiedervereinten Deutschland kritisiert.

BeckerBecker, Jurek beschreibt das lustlose Vor-sich-Hinleben im quälenden AlltagAlltag gleichermaßen eindringlich in den Erzählungen Der Verdächtige und Allein mit dem Anderen. Die Geschichten betonen die Widersprüche im Leben und die Schwierigkeit, eine erkennbare oder vorstellbare Wahrheit festzustellen. Der Verdächtige erscheint als Einwohner der DDRDDR, der sich völlig von der Welt abschließt, um keinen Verdacht zu erregen. Er verfällt ins Schweigen, will dem Staatssicherheitsdienst nicht auffallen und so leben, dass er keinen Argwohn erregt. Nach einem Jahr kommt er zu der Überzeugung, dass nicht der ungerechtfertigte Verdacht und das Interesse des Staates ihn in die Isolation getrieben hätten, sondern er selbst: Es tut „nicht weh, beobachtet zu werden“, stellt er fest und beschließt, sein Leben unter Beobachtung fortzusetzen.7 Auch die Figur des Ich-Erzählers in Allein mit dem Anderen folgert nach quälenden Versuchen, dem Dasein Richtung zu geben, dass jedes wirkliche Handeln ihn um seine Stellung in der Gesellschaft bringt, aber jedes Nichthandeln zu Schuldgefühlen führt (211-226).

Christoph HeinHein, Christoph veranschaulicht eine vergleichbare Konstellation in Der Tangospieler (1989).8 Der Roman erfasst in der kurzen Zeitspanne von acht Monaten die Selbstanalyse des Historikers Hans-Peter Dallow und seine Versuche der Einordnung in die Gesellschaft. Die Handlung spielt von Februar bis September 1968, also zur Zeit des Einmarschs der Warschauer Pakt-Truppen in die Tschechoslowakei im August 1968, und die Darstellung enthält konkrete Hinweise auf die politische Lage der DDR und Gegenwartszitate. Vor diesem Hintergrund tritt der Wirklichkeitsanspruch des Romans scharf hervor in der nuancierten Veranschaulichung der Situation des Historikers, der nach 21 Monaten Haft aus dem Gefängnis entlassen wird und vergeblich versucht, wieder Fuß zu fassen. Die Bewusstseinslage Dallows tritt in seiner Erfahrung menschlicher Beziehungen, äußerer Ereignisse und der politischen Situation hervor. Dallow versucht, Anschluss an alte Bekannte zu finden, will neue Freundschaften schließen, verstrickt sich in Liebesabenteuer, bemüht sich, eine Anstellung zu finden und will seine Gefängniszeit vergessen. Alle Versuche scheitern. Er lehnt ein Stellenangebot vom Staatssicherheitsdienst ab, kann aber selbst als Kraftfahrzeugfahrer nicht unterkommen. Er trifft auf seinen Verteidiger und Richter und lernt, dass sich beide bestens verstehen und den Staat loben, denn man „ist vorwärtsgekommen“: Inzwischen würde Dallow nur noch gerügt, aber nicht mehr verurteilt werden.

Der Gesamteindruck unterstreicht, dass das politische System die menschliche Verunsicherung erzeugt. Dallow ist nicht wirklich politisch engagiert, will nicht direkt vom Staat abhängig sein, ist aber bereit, sich anzupassen. Er ist jedoch nicht fähig, sich in der gegenwärtigen Situation zu entwickeln. Was er ständig erfährt, ist der Verlust der Orientierung und der Sinnstiftung im Dasein. Die Kritik ist gleichermaßen deutlich in allen Romanen von BeckerBecker, Jurek und HeinHein, Christoph und in zahlreichen Erzählungen, die das urteilslose, bequeme Vor-sich-Hinleben, die Verkümmerung der Liebe und die Unfähigkeit, aus der Selbstbezogenheit auszubrechen, thematisch erfassen.

Für die jüngste Generation ist der Blick zurück hauptsächlich ein Anliegen der Sichtung besonders markanter Tendenzen, die im Nationalsozialismus zu voller Entfaltung kamen und heute abermals, wenn auch in verwandelter Erscheinungsweise, erkennbar werden. Zur Diskussion stehen vereinzelte Exzesse radikaler Jugendlicher und die zuweilen im Ausland erhobene Beschuldigung eines im deutschen Volk ausgeprägten Antisemitismus. Niederschlag im literarischen Schaffen dagegen fand eine durchaus kontinuierliche Entwicklung künstlerisch zunehmend gelungener Gestaltungen der Vergangenheitsthematik,9 der existenziellen Situationexistenzielle Situation der Menschen in der GegenwartGegenwart und des Lebens im weltweiten, postmodernen Informationszeitalter. Im Gegensatz zu Politikern ist für die Autoren und Autorinnen auch die Europäische Gemeinschaft kein zentrales Problem; sie leben in Deutschland, einige in anderen europäischen Ländern, aber schreiben in der deutschen Sprache, knüpfen an die deutsche und gemeineuropäische Kulturtradition an und konzentrieren sich auf das Leben im AlltagAlltag, ohne große Entwürfe einer deutschen Nationalliteratur zu machen. Monika MaronsMaron, Monika Antwort auf die Frage, worüber sie denn schreiben wolle, nachdem sie nach Westdeutschland umgezogen war, ist für viele gültig:

Und was will die Frage von mir, ob ich nun, in meiner ‚neuen Heimat‘, über die Probleme des Westens schreiben wolle oder ob mir nun vielleicht der Stoff ausginge. Als hätte ich bislang über Känguruhs geforscht und nicht über Menschen geschrieben, und zwar deutsche, deren jüngste Vorgeschichte die aller Deutschen ist.10

Sinnsuche und Krise

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