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3. Die existenzielle Situationexistenzielle Situation: Wirklichkeitserfahrung, Entwicklung, Krise und Verunsicherung

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Die traditionelle realistische Darstellung der Raumerfahrung einzelner Figuren konzentriert sich auf Haus, Garten, Land und Begegnung mit anderen, die die Vorstellung des ‚Behaust-seins‘ erweckt. Die Tradition konkreter Raumdarstellungen besteht in der GegenwartGegenwart fort in Kriegsgeschichten, der Heimatliteratur und zahlreichen Erzählungen, in denen individuelle Krisen im Mittelpunkt der Betrachtung stehen. Die Erzählungen von Walter KempowskiKempowski, Walter, Christoph RansmayrRansmayr, Christoph, Herbert RosendorferRosendorfer, Herbert und Jens SparschuhSparschuh, Jens sind aufschlussreich für diese Entwicklung. In der Nachkriegsliteratur und besonders in der Literatur seit den siebziger Jahren beleuchten Schilderungen des RaumsRaum zunehmend den Verlust der Orientierung. Deutlich ersichtlich ist die Verengung der Raumperspektive. Die offene Landschaft wird verdrängt von Innenräumen; die konkrete Erfahrung der Natur wird ersetzt durch vorüberfliegende Bilder im Fernsehen oder auf den Bildschirmen der Computer. Einzelne Figuren verlieren sich in den Fernsehlandschaften, andere verlieren jede Orientierung in fiktiven Mosaiken.

In Schilderungen existenzieller Konstellationenexistenzielle Situation zeichnen sich zwei deutlich ausgeprägte Gestaltungen des RaumsRaum ab. Sie sind beeinflusst von der Erfahrung und Auseinandersetzung mit den beschriebenen Zuständen der Umwelt. Einzelne Texte entwerfen die Möglichkeit eines menschenwürdigen Daseins im Dialog mit der Welt. Der Raum öffnet sich. Im Gegensatz dazu sezieren zahlreiche Texte die überwältigende Beeinflussung der Wahrnehmung durch die Medien, soziale Missstände, Identitätskrisen, menschliche Defizite, brüchige zwischenmenschliche Beziehungen, einengende Konventionen, den Verlust ordnungsstiftender Normen, besonders den Liebesverlust, die zunehmende AggressionAggression und die Unfähigkeit, historische Entwicklungen zu verstehen. Die Darstellungen bevorzugen Begrenzungsmotive: Zellen, einheitliche Zimmer, Bergwerke, Höhlen, Schächte, Gänge unter der Erde. Die Wohnraumatmosphäre ist trügerisch; die Zimmer bieten keinen Schutz, denn die Bedrohung dringt von außen durch die Medien ein; darüber hinaus ist sie im Gedächtnis der Figuren und deren zwanghaft grübelnden Reflexionen ständig gegenwärtig. Die Figuren fliehen in die Welt trügerischer Fernsehbilder; sie erfahren fantastische Rekorde in imaginären Quiz-Shows oder verlieren sich in Traumvisionen, die wiederholt von traditionellen Vorstellungen der Antike und des Paradieses beeinflusst sind.

Darstellungen, in denen die Erfahrung der WirklichkeitWirklichkeit zugleich die Horizonterweiterung der Beobachter veranschaulicht, erwecken selbst wenn das Geschehen wie in Siegfried LenzLenz, Siegfried‘ Das VorbildVorbild (1999) auf ein Zimmer konzentriert ist die Vorstellung des offenen RaumsRaum. Christoph RansmayrRansmayr, Christoph entfaltet in Die Schrecken des Eises und der Finsternis (1984) die Illusion eines Expeditionsberichts, der scheinbar an Abenteuerliteratur anschließt. Der Bericht enthält Illustrationen, Zitate aus Tagebüchern und authentischen Aussagen, die im Kursivdruck zusammen mit den Überlegungen des Erzählers den Eindruck eines kritischen Kommentars erwecken. Die gesamte Schilderung konzentriert sich auf einen Ausnahmezustand, der jedoch von allen Figuren als selbstverständlich beschrieben wird. Die Wirklichkeit einer Expedition in die unentdeckte Fremde, dann Kaiser-Franz-Joseph-Land genannt, wird sachlich und ruhig geschildert. Hinter den Feststellungen von Carl Weyprecht, Julius Payer und Otto Krisch lauert jedoch das Grauen des existenziellen Ausgesetztseins. Ransmayr verzichtet auf Selbstanalysen und eingehende Charakterisierungen der Figuren. Stattdessen deutet ihr Handeln in der Einmaligkeit der Situation ihr Wesen und ihre Einstellung zur Welt. Die Zeitalter 1981, 1872, 1874 überschneiden sich; die Sachlage besteht fort: Mazzini verschwindet auf den Spuren arktischer Forscher „im Winter des Jahres 1981 in den Gletscherlandschaften Spitzbergens“.1 Weyprecht erfährt 1872 die absolute Verlassenheit im Eis; alle erleben Skorbut, Schwindsucht, Reißen, Hungern und Tod. Indem der Erzähler versucht, das Unmessbare messbar zu machen und das völlig Neue zu erkunden, entsteht eine SpiraltendenzSpiraltendenz in die Richtung der Erfahrung der GegenwartGegenwart und der SelbsterkenntnisSelbsterkenntnis. Ransmayr glaubt, jede Geschichte habe ihre Zeit und lebe in der Gegenwart: „Ich habe meiner Meinung nach nie etwas anderes als die Gegenwart beschrieben, selbst wenn es, wie in der Letzten Welt, um einen verbannten Dichter der Antike ging oder in einem anderen Roman – Morbus Kitahara – um ein verwüstetes, zur Erinnerung und Sühne verurteiltes Kaff in einem Nachkriegseuropa, das es nie gegeben hat.“2

RansmayrsRansmayr, Christoph Roman Die letzte Welt (1988) erweckt die Illusion einer Wirklichkeitserfahrung in der Antike. Die Handlung schildert die Suche des Römers Cotta nach seinem Freund Ovid und einer Abschrift von dessen MetamorphosenMetamorphose, um sie für die eigene Zeit und die Nachwelt zu bewahren. Cotta reist nach Tomi am Schwarzen Meer, dem Ende der zivilisierten Welt, wo sich der von Kaiser Augustus verbannte Ovid aufhält. Cotta verfolgt Spuren, findet Anhaltspunkte in seiner vom Erzähler in detaillierten Beschreibungen veranschaulichten Umwelt, entdeckt Ovids alten Diener Pythagoras, lauscht auf das Stammeln Fremder, die scheinbar Geschichten aus den Metamorphosen kennen, wird mit den Bewohnern Tomis vertraut und durchforscht die Gebirgswelt. Überfallen von schweifender Unruhe, beobachtet Cotta seltsame Szenen, ins Fremdartige entstellte Personen und fragmentarische Inschriften. Er erlebt Gewalttaten, Plünderungen, Überfälle. Er sucht Halt in seiner Erinnerung an das Leben in Rom, überdenkt politische Ereignisse und versucht die politischen und persönlichen Intrigen zu verstehen, die Ovid in die Verbannung trieben. Zugleich schafft seine Einbildungskraft Visionen, in denen die Realität Tomis, seine Träume und die Welt der Metamorphosen verschmelzen. Seine Einbildungskraft wird schließlich sehend: Er erlebt Metamorphosen und tritt ein in die vorhistorische Welt. Er selbst verwandelt sich, entdeckt die Märchenwelt in seinem Inneren, ruft Ovids Namen in die Wildnis und lauscht auf das Echo, das seinen eigenen Namen zurückträgt. Cotta findet sich, indem er sein Selbst aufgibt. Seine Erfahrung des RaumsRaum wirkt realistisch und erweckt den Eindruck, die VergangenheitVergangenheit sei GegenwartGegenwart. „Jeder Leser steht für eine andere, für seine Version meiner Geschichte und auch der Erzähler ist am Ende mit seiner Lesart nur einer unter vielen Weitererzählern, unterschieden von den vielen anderen nur durch die Tatsache, daß er den Urtext dieses Überlieferungs- und Verwandlungsspiels verfaßt hat.“3

Morbus Kitahara (1995) veranschaulicht eine zunehmende Verfinsterung der Welt im Rahmen eines Nachkriegszeitgeschehens, in dem das Leben aller nach dem ‚Frieden von Oranienburg‘ von den Auswirkungen des ‚Stellamour-Plans‘, eine Anspielung auf den Morgenthau-Plan, bestimmt wird. Der Plan wirft die Bevölkerung des besetzten Landes in eine vor-zivilisierte Steinzeit zurück, die zugleich die jüngste VergangenheitVergangenheit symbolisiert. Die Erfahrung der WirklichkeitWirklichkeit in einer von der Außenwelt völlig abgeschnittenen Ortschaft, in der alle „Arbeitsfähigen“ gezwungen sind, in einem Steinbruch zu arbeiten, wird beeinflusst von bildlich konkret erfassten Details der Kleidung, der scharrenden Hühner, der „tierischen Laute“4 eines Rudels wilder Hunde und der langsamen Erblindung des Protagonisten Bering. Sie wird jedoch weitgehend bestimmt von Schreckensbildern im Gegenüber von Besatzungstruppen, organisierten Banden und kahlköpfigen Schlägern und Guerillas, die die Welt verunsichern. Die Auswirkung auf die Menschen sind Lagerpsychosen, die die Welt weiter entstellen. Das Blickfeld ist verengt. Alle leben in einer unfassbaren Verbannung und werden für ihr eigenes Verhalten, ihr Nicht-Handeln oder die Taten ihrer Väter bestraft.

Das VorbildVorbild (1973) von Siegfried LenzLenz, Siegfried ist eine künstlerisch anspruchsvolle Auseinandersetzung mit der Frage, welche Vorbilder für die Jugend unserer Tage angemessen sind.5 Valentin Pundt, Rektor aus Lüneburg, Rita Süßfeldt, freie Lektorin und Herausgeberin von Lesebüchern, und Janpeter Heller, Studienrat am Diepholzer Gymnasium, treffen sich zu gemeinsamer Arbeit am dritten Kapitel eines Lesebuchs für den Deutschunterricht im achten Schuljahr. Das Buch entsteht im Auftrag eines Arbeitskreises der Kultusministerkonferenz und enthält unter anderem ein Kapitel „Lebensbilder und VorbilderVorbild“. Auf der Suche nach geeigneten Geschichten zu diesem Thema stoßen die drei Experten auf Widersprüche und grundlegende Fragen: Welches Verhalten ist überhaupt aus welchen Gründen als „vorbildlich“ zu bewerten? Bieten Vorbilder die Voraussetzung zur menschlichen Entwicklung? Sind sie Orientierungshilfen oder Angstmacher? Die ganz unterschiedlichen Lebensläufe und Erfahrungen der Protagonisten begründen ihre unterschiedliche Einstellung zu diesen Fragen.

Die Gegenüberstellung von Geschichten über Vorbilder, die von den Mitgliedern der Arbeitsgruppe als geeignet angesehen werden, und wesentlichen Ereignissen aus ihrem eigenen Leben verdeutlicht die nahezu unüberbrückbare Kluft zwischen fiktiv gestalteten Denkformen und Widersprüchen des Daseins. Die Erzählung problematisiert drei Generationen. Pundt nahm am Weltkrieg teil, sein Sohn Harald engagiert sich bei den Studentenprotesten. Pundt hält sich für einen guten Erzieher, ist in der Beziehung zu seinem Sohn jedoch offensichtlich gescheitert, denn Harald hat sich das LebeSelbstmordn genommen, nachdem er dem Wunsch des Vaters entsprechend, ein ausgezeichnetes Examen abgelegt hat, in dem er keinen Sinn sieht. Pundt muss feststellen, dass er weder für die Bedürfnisse seiner Schüler noch für seinen Sohn jemals wirklich zugänglich war, und bricht schließlich seine Mitarbeit im Projekt „Vorbildsgeschichte“ ab. Der Roman beleuchtet die Konflikte und kommentiert zugleich das Bedürfnis nach Vorbildern, die der eigenen Zeit entsprechen und der persönlichen Entwicklung Raum und Ziel geben. Die Darstellung der Figuren weckt Teilnahme, ruft Kritik hervor und fordert durch Handeln und Unterlassungen die Leser zur Bestimmung ihres eigenen Standorts auf.

Auch Heller begeistert sich für die Studentenproteste. Er lehnt grundsätzlich jede Konvention und jeden Autoritätsanspruch ab und ist jederzeit bereit, sich zu empören, kann seinen eigenen Anspruch aber nicht einlösen, in dem er sich etwa einer offenen Diskussion mit einem Schüler stellen würde. Über die grundsätzliche Kritik an den Verhältnissen hat er die Menschen in seinem unmittelbaren Umfeld aus dem Blick verloren. Seine Frau hat ihn verlassen, zu seiner Tochter kann er keine Beziehung aufbauen. Rita gehört ebenfalls zur Nachkriegsgeneration, ist jedoch anders als Heller zu Kompromissen bereit. Das Chaos in ihrer Wohnung entspricht dem Chaos ihrer Gedanken. Sie hält sich selbst nicht für ein VorbildVorbild zu sein, ist aber überzeugt, eine vorbildliche Handlung deuten oder schreiben zu können. Deutlich wird, dass ihre festen Überzeugungen die Mitglieder der Arbeitsgruppe daran hindern, sich zu einer gemeinsamen Lösung zusammenzufinden, die zwar nicht dem Ideal entspricht, aber zwischenmenschliche Beziehungen fördern könnte. Demgegenüber gibt Das VorbildVorbild die Antwort, dass Vorbilder die Forderung stellen, die Widersprüche anzuerkennen.

Deutlich ersichtlich ist, dass selbst Erzählungen von Walter KempowskiKempowski, Walter, Herbert RosendorferRosendorfer, Herbert und Peter RoseiRosei, Peter, die traditionell vorgeprägte und passende Erzählsituationen oder Perspektiven übernehmen, wie auch die Prosatexte von Thorsten BeckerBecker, Jurek, Thomas BernhardBernhard, Thomas, Jochen BeyseBeyse, Jochen, Hubert FichteFichte, Johann Gottlob, Ulla HahnHahn, Ulla und Elfriede JelinekJelinek, Elfriede, in denen realistische Details den Verlust menschlicher Entscheidungsfreiheit in der historisch bedingten Sphäre zunehmender Verdinglichung und Standardisierung von Beziehungen hervorheben, eine Übereinstimmung in der RaumRaumdarstellung aufweisen: Die WirklichkeitWirklichkeit ist widerspruchsvoll, selbst wandelbar und lässt unterschiedliche Perspektiven zu. Jede sinnvolle Gestaltung verbietet einen Oberflächenrealismus. Unverkennbar ist jedoch der Sachverhalt, dass in der thematisierten EinkreisungEinkreisung der Figuren trotz realistischer Einzelheiten feste Ort- und Zeitbestimmungen verschwimmen. Kempowski stützt sich in seinen Erzählungen jedoch auf die Annahme, dass die Wirklichkeit erkennbar ist. Die von ihm geschilderten Erinnerungen dokumentieren eine historisch authentische, aber begrenzte Sphäre.

Walter KempowskisKempowski, Walter Schilderung der GegenwartGegenwart und seine Rekonstruktion der VergangenheitVergangenheit im Spiegel einer FamilieFamiliengeschichte als Alltagsgeschichte des deutschen Bürgertums erschien unter dem zusammenfassenden Titel Deutsche Chronik. Die von den Figuren auf das Lesepublikum übertragene Erfahrung der WirklichkeitWirklichkeit soll den Eindruck eines authentischen, zeitnahen, direkten Erlebnisses erwecken. Die Romane verwerten Zeitungsberichte, Dokumente, Briefe, Archivmaterial und alte Rundfunknachrichten. Sie versuchen, die literarische Realisierung des Materials durch eine Form von Protokollierung zu erreichen, die eine Plethora von Einzelheiten mit den Lebensläufen einzelner verbindet. Aus der Bemühung, die Dokumentation in der Tradition des Familienromans zu befestigen, entstehen Darstellungen von Kindheit und FamilieFamilie, Vignetten aus dem Leben einzelner, Ausschnitte aus dem Alltagsgeschehen der Zeit und kurze Beobachtungen, die die gesellschaftliche Atmosphäre beleuchten. Gespräche, Aussagen von Zeitgenossen, Äußerungen von Schulfreunden, einer Nachbarin, Wirtschafterin, Schneiderin, Tante, oder eines Kameraden facettieren das Material. Die historisch befestigten Zitate, das Idiom der bürgerlichen Sprache, die eingeschobenen pommerische Dialektstellen und die ideologische Verankerung der Ansichten verbürgen die Authentizität des Zeitbildbildes.

Die Erzählungen streben an, den in das Zeitgeschehen eingebetteten Familiengeschichten die notwendige historische Vertiefung durch eine Optik zu geben, die persönliche Schicksale mit historischen Details und wechselnde Erzählerstimmen verbindet. Aus fiktiven, im Anspruch genauen Beobachtungen – Kinder auf dem Schulweg mit ihren Schiefertafeln, der Friseur, Herr Risse, bekommt „genau acht Pfennig für die Rasur erzählte Witze, Sonntagsausflug mit Kutscher und Pferdewagen, Tanzstunde, Besuch des Kaisers in Rostock, Lieder, beliebte Redensarten wie „Wer rastet, der rostet“, Begeisterung zu Anfang des Krieges 1914, Kriegsende am 11. November 1918, „um zwölf Uhr, genauer gesagt, um fünf Minuten vor zwölf“ und anschließende Räumung des besetzten Landes – entsteht eine Raumperspektive, die einen offenen Horizont vortäuscht.6 Für die Einzelnen geht das Leben weiter. Mögliche tragische Erlebnisse verbleichen.

Das umfangreiche Erzählwerk Herbert RosendorfersRosendorfer, Herbert (Hörspiele, Novellen, Romane, fantastische Geschichten) entschärft tägliche Probleme und verzichtet wie einige Erzählungen Peter RoseisRosei, Peter auf philosophisch-kritische Auseinandersetzungen mit der von anderen Romanciers angenommenen gesellschaftlichen Misere unserer Tage. Der RaumRaum ist offen. Scharf getroffene Details selbst in Rosendorfers skurrilen Abenteuern wirken nicht bedrückend und die Reaktion der Figuren entschärft die denkbare kritische Auseinandersetzung mit dem Problem der SelbstverwirklichungSelbstverwirklichung. Das Dasein wirkt erträglich, selbst wenn die Figuren zuweilen wie in Die goldenen Heiligen (1980) Endzeitgespräche führen oder wie der eifersüchtige Ehemann in Magdalena und der Mann mit den schönen Fingernägeln (1954) aus dem Fenster springen. Selbst der Teufel (Der Besuch, 1955) wirkt in dieser Welt als nicht bedrohlicher Außenseiter, da die Figuren das absolut Böse nicht kennen. Rosendorfer desillusioniert äußerst kritisch die Zuversicht auf gesellschaftliche Neugestaltung in Das Zwergenschloß (1982). Die Novelle setzt ein mit einem „unerhörten Ereignis“. Ein Kind kommt zur Welt. Das Mädchen Flavia ist verwachsen und wird nie normal groß werden. Der Vater Luigi, dessen Frau ihn nach der Geburt der Tochter verlassen hat, weiß: Er kann die Natur des Kindes nicht ändern. Er beschließt deshalb, er werde „die Welt zurechtbiegen.“7 Er umgibt Flavia mit Angestellten, Zwergen, völlig neu geschriebenen Büchern, Bildern und Statuen von Heinzelmännchen. Die Umwelt wird völlig neu gestaltet. Nicht geplant in der neuartigen Wirklichkeit bleibt sein Tod. Luigi stirbt. Die Mutter wird Vormund und Flavia folgt dem Vater nach einer Woche. Das Fazit: Das Anderssein ist Teil der Gesellschaft. Jede Reform von Bestand muss beim Einzelnen beginnen.

Peter RoseisRosei, Peter Reiseaufzeichnungen (Fliegende Pfeile, 1993) sind scharf präzisiert. Die Einzelheiten werden befestigt aus der Sicht eines Beobachters, der jedem Eindruck gegenüber aufnahmebereit ist, aber zugleich alles durch ständige Vergleiche mit der literarischen und philosophischen Tradition bewertet. Jedes Sehen geht über in ein bewusstes Anschauen; jedes Anschauen führt zum Verstehen. Die Aufzeichnungen werden eine Besichtigung der europäischen Kulturlandschaft, die von der Tradition belebt ist. Meer, Strand, Fischer, Händler, Bettler, Szenen aus Almdorf und Prag und selbst Beobachtungen im Schlafwagen8 werden durch Hinweise auf Turgenjew, den Rabbiner Löw, KafkaKafka, Franz, Canetti und andere erweitert. Dieser Überblick des RaumsRaum vermittelt ein „Gefühl von Glück“. Der Beobachter kann sehen und im Dialog mit der Tradition bestehen.

RoseisRosei, Peter Erzählungen Von Hier nach Dort (1978), Die Milchstraße (1981) und Rebus (1990) entwickeln ein Panorama des Nebeneinanders vorüberfliegender widersprüchlicher Tendenzen, die den Eindruck eines unablässig ablaufenden Fernsehprogramms erwecken. Der scheinbar offene RaumRaum wird desillusioniert. Das Karussell der Wahrnehmungen unterstreicht die KreisbewegungKreisbewegung. In Rebus werfen sich die Figuren Begriffe wie bunte Bälle zu. Sie reden ohne klares Verständnis von Jesus, Hegel, Marx, der Arbeitslosigkeit und Kapitalanreicherung. Und Literaten, Ideologen, Intellektuelle, Anarchisten, Angestellte, Großunternehmer, Arbeiter, Arbeitslose, Hausfrauen und Prostituierte gehen gleichermaßen an „innerer Fäulnis vor die Hunde.“9

Beobachtungen des Erzählers werden von kurz aufblitzenden Kindheitserinnerungen und Gedanken an vergangene historische Ereignisse unterbrochen. Die Orte, zeitnah und zugleich zeitlos, spiegeln historische Prozesse, technische Entwicklungen und den Abbruch der Zivilisation wider. Der Dom, in Einzelheiten des Torbogens und des Chorgestühls als romanisch-fränkischer Bau bestimmt, befindet sich gleichzeitig in Frankreich und in Santiago. Die Bauarbeiten außen dienen gleichermaßen der Restauration und der Neugestaltung, da Spielautomaten im Inneren des Doms den Besuchern Religionsersatz anbieten. Im „Gleisdreieck“ führen die Schienen in eine Behausung, in der Rundgänge, Treppen nach oben und Schlüssellöcher das Blickfeld bestimmen. Die Suche nach oben vermittelt die Hoffnung, Sterne zu sehen und das Ich mit der Welt zu verbinden. Der Versuch, andere zu erkennen, endet immer im Spiegelbild eines Auges. Im Dom sitzen schweigende Spieler vor Automaten; im Hospiz „Hougron“ kreisen alle Gedanken um den Wunsch einer echten menschlichen Begegnung, der unerfüllbar bleibt.

BeyseBeyse, Jochen gestaltet in Unstern Bericht (1991) die Ich-SucheIch-Suche, Ich-Erkundung aus der Sicht einer Forscher-Sucher-Detektiv-Figur. Die Figur lebt in einem RaumRaum, in dem sich Flächenmaße ständig verschieben und jede Erfahrung der Zeit – seien es Stunden, Tage, Wochen oder Jahreszeiten – ins Ungewisse verläuft. Scheinwerfer strahlen den Himmel an. Oben kreisen beständig Hubschrauber und Zeppeline. Unaufhaltsam wachsender Schutt bedeckt die Erdoberfläche. Die globale Firma ‚Hochtief‘, die zeitgemäße Entsprechung für Olymp-Hades, organisiert das Leben der Bewohner. Beobachtungen des Universums, die Astronomen und Physiker zu neuen theoretischen Überlegungen anregen, überzeugen dagegen den Erzähler, dass der Kosmos eine unbegrenzte, gigantische Sphäre darstellt, in der sich Energie explosiv und expansiv entlädt. In späteren Äonen ballt sich die Materie zu nicht mehr messbarer Verdichtung. Der Kosmos erweckt den Eindruck eines nicht verständlichen Ungeheuers, das sich ewig verschlingt und neu hervorbringt. Die Welt spiegelt diese Situation. „Was tun Sie beispielsweise, wenn Sie ein ungeheuer großes, doch vollkommen sinnloses Ganzes zu erforschen haben. Nun, Sie machen den Maßstab der Größe zum Maßstab der Sinnlosigkeit und finden so, im gedanklichen Modell, die Richtung in einem Labyrinth, dessen Gänge und Wände Sie niemals werden verlassen können. Es ist der Vorsatz, größer zu sein als das Denken, in dem man sich bewegt, verstehen Sie, diese Art von Gigantismus“.10 Die Figur versucht, das Hochtief auszuloten, protokolliert alle Eindrücke, beobachtet Springer, die unentwegt an einem elastischen Sicherungsseil vom Dach springen, sucht im Tiefbau herum und steigt im Hochhaus nach oben. – „… nach unten, nach oben, erst Sturz, dann Himmelfahrt. Aber kann man unter diesen Umständen von Bewegung sprechen?“ (146). Eine Flut von Reizen stürzt auf den Beobachter ein. Schaufenster zeigen Reklamefilme; die Luftschiffe haben Projektionsflächen. Farbwände, elektronische Leuchtpunkte und Schwärme von Bildern ziehen vorüber. Die Ausmaße werden unberechenbar. Alles kippt gleichzeitig nach innen und außen (160). Plötzlich sitzt der Beobachter am Schreibtisch und starrt „mit verschwimmendem Blick auf x-beliebige Computerbilder“ (132). Die Überfülle der vorüberfliegenden Bilder führt zu Halluzinationen, bedingt jedoch gleichzeitig eine zunehmende innere Leere. Die Figur ruft sich selbst zur distanzierten Einstellung auf, erkennt aber, dass man „blindlings“ den Bildern folgen müsse (165). Die Eindrücke entziehen sich der Deutung; das Führen des Protokolls bestätigt nur, dass der Fall nicht zu lösen ist; ‚Hochtief‘ kontrolliert das gesamte Dasein; alle müssen sich dem vorherbestimmten, deterministischen Geschehen fügen und im Labyrinth verbleiben. Besonders auffallend sind die beständigen Versuche des Beobachters, den vorüberfliegenden Eindrücken in seinem Protokoll feste Form zu geben.

Diese Konstellation wirkt besonders eindringlich in Ferne Erde (1997). In der Erzählung verfolgt ein Schriftsteller seine Gedanken während einer Nacht allein im Zimmer. Er folgt den Spuren von Ahnungen, Bildern, Erinnerungen und plötzlich auftauchenden Vorstellungen. Die festen Konturen verblassen. Die Analyse schildert den Zustand des Beobachters und entwickelt eine Gegenüberstellung von Erzähler-Ich und Ich. Der Beobachter belauscht sein Sprechen, fixiert den Blick, will alles „klar“ erkennen, untersucht die Bedeutung seiner Gedanken und verfällt in einen Dauerzustand quälender Reflexion. Er will nicht den „Dingen“ entkommen, sondern „ihrer Anziehungskraft“ gehorchen und mit einem tastenden Gefühl“ den „entfernten Schatten ins Dunkel“ folgen.11 Sobald die Schatten feste Formen annehmen – Kopfnicken, Geburtstagwünsche, ein Spiegel, ein Datum, der Rand des Himmels, ein Telefonanruf, ein leerer Bogen Papier, Kopfschmerzen, ein Hotelzimmer –, verblassen sie wieder. Erzähler und Ich suchen verzweifelt eine Sinnstiftung im Dasein, die sich ständig entzieht. „Hellwach wollte ich irgendein Ende, einen Abschluß, der von der Verantwortung befreite, dem Morgen einen Sinn zu geben.“ (101)

Urs WidmersWidmer, Urs Erzählungen kommt in der thematisierten Wirklichkeitserfahrung und Selbstentwicklung besondere Bedeutung zu, da die vorbildlich geschriebenen Geschichten ein Plädoyer für die kindlich magische Weltsicht enthalten, die die rationale WirklichkeitWirklichkeit trotz konkreter Darstellung verblassen lässt. Die Erzählungen erobern die Phantasie, verklären die Erinnerung und konfrontieren Leser mit der Einsicht, dass Menschen lernen müssen, Widersprüche anzuerkennen. Die Dialoge sind nicht Kampfhandlungen, sondern förderliche Gespräche und Unterhaltungen in einem Kreis von Menschen, die sich wie etwa in Liebesnacht (1982) zusammenfinden.

Die Erzählung verknüpft in Gesprächen von zwei Jugendfreuden Rückblicke auf die VergangenheitVergangenheit und Schilderungen unterschiedlicher Einstellungen zum Leben mit dem Ausblick auf die Zukunft. Sie thematisiert das Reisen, den Aufbruch ins Unbekannte und die Heimkehr. Das Erzählgerüst stützt sich dementsprechend auf das Kontrastpaar HeimatHeimat / Ferne. Der Erzähler sitzt in seiner Wohnung mit Frau und Kindern. Er schaut aus dem Fenster und sehnt sich „nach Geschichten, die von einer Zukunft sprechen; von einer Gegenwart wenigstens …“12 Das, was er erzählt, scheint zu Eis zu gerinnen. „Diese Endzeit.“ Seine Klage entspringt dem Ungenügen an der Moderne. Alles Alte ist überholt so wie sein Haus, das ursprünglich eine Bahnhofswirtschaft war, die ihre Funktion verlor, als jeder anfing, mit dem eigenen Wagen zu fahren. Seine unbestimmte Erwartung erhält feste Umrisse in seinem Jugendfreud Egon, der am Abend auf das Haus zukommt. Der Besuch, zeitlich auf eine Nacht begrenzt, schafft die Voraussetzung zu Gesprächen, die das vergangene Leben der Freunde umkreisen und ihre Denkart verdeutlichen.

Beide versuchen, in der Bejahung des Augenblicks dem Dasein Orientierung zu geben. Beide träumen von einer besseren Welt. Der Erzähler gibt seinen Träumen in der Kunst feste Kontur. Sein Freund dagegen wird ruheloser Weltenbummler, der sich in nahen und fernen Ländern, in Frankreich, Griechenland, den Kanarischen Inseln, Argentinien, in Hafenstädten und Dschungeldörfern, ständig verliebt sorglos Kinder zeugt, die er scheinbar innig liebt, die ihn jedoch nicht dazu bewegen können, sesshaft zu werden. Die Erzählungen in der Nacht, an denen sich der Erzähler mit eigenen Geschichten beteiligt, kreisen um wiederkehrenden Aufbruch, Reisen, Sehnsucht und Liebeserfahrungen jeder Art. Die Ekstase im Leben beherrscht den Gesichtskreis: Rausch in intimen Beziehungen, Rausch im Trinken, Rausch im seligen Augenblick. Das Ganze ist ein Versuch, das Entzücken im Dasein einzufangen. „Ganz ohne ein eigenes Glück lässt sich von Glück nicht sprechen. Es gibt welche, die schöpfen nicht aus einem Mangel, sondern aus dem Überfluss.“ (137) WidmerWidmer, Urs gelingt es, diese Fülle auf einen Augenblick zu bannen. Dann steht Egon auf und geht zurück in die Weite.

Die literarisch anspruchsvollste Erzählung WidmersWidmer, Urs ist Das Paradies des Vergessens (1990). Die Erzählung thematisiert unterschiedliche Aspekte im Entstehen eines literarischen Textes: Phantasie, Entwurf der Hauptfigur, Niederschreiben, Einstellung des Autors zu der von ihm geschaffenen Figur, Nähe und Distanz, Verhältnis zum Verleger, zur Umwelt und zu anderen Autoren. In der Erzählung überschneiden und durchkreuzen sich die fiktive Welt des Romans und die fiktive, aber als real geschilderte WirklichkeitWirklichkeit, in der sich der Autor bewegt. Das ErzählverfahrenErzählverfahren dieser Form des magischen RealismusRealismus ermöglicht die Schilderung von Szenen, in denen sich der Autor auf die Suche nach der von ihm erfundenen Figur des alten Mannes macht, mit ihm spricht und mit ihm surreale Ereignisse beobachtet.13 Erzählt werden vier und andeutungsweise eine fünfte Geschichte. Im Mittelpunkt des Geschehens steht das Leben eines Autors, seine Beziehung zur Umwelt, seine literarischen Bemühungen und seine Beobachtungen während des Schaffensprozesses. Inhaltlich gleichberechtigt sind die in der Erzählung geschilderten Abenteuer eines alten Mannes, der an Gedächtnisschwund leidet, Symptome eines Alzheimer-Patienten hat, alles, selbst seine Kindheit und Jugendfreunde vergessen hat, aber kindlich voller Phantasie die Welt liebevoll betrachtet. Im Gegensatz zu ihm wirkt die Figur des Verlegers zuerst außerordentlich geschäftstüchtig. Aber auch dieser scheinbar nur an Bestsellern interessierte Macher und Zocker ist zugleich humorvoll als weltfremder, erheiternd wirkender Zeitgenosse entworfen. Er verliert ein Manuskript des Autors, geht mit ihm auf Radtouren, feiert, trinkt und isst mit ihm, übersieht, wie dieser seine Freundin Cécile verführt und wird am Ende unter 80.000 umstürzenden Bänden eines von ihm gedruckten Erfolgsromans begraben.

Nahtlos integriert in das Geschehen sind nicht nur die phantastischen Vignetten aus dem Leben der Figuren und possierlich kritische Szenen gegenwärtiger Zustände in der Schweiz, sondern auch die verwirrenden Leseeindrücke des Autors, in denen WidmerWidmer, Urs die kritisch wägenden und unkritisch einfühlsamen Erfahrungen des Lesepublikums beschreibt. Cécile Pavarottis großer Wurf, „Der Fall Papp“, parodiert einerseits das Verlangen, an Bestsellern Gewinne zu erzielen. Andererseits dient die einfältige Handlung – ein Millionärskind macht große politische Karriere – dazu, das Handeln und Denken von Politikern lächerlich zu machen. Obwohl tiefernst im Anspruch, wirkt es erheiternd, wenn der Autor versucht, die Phantasie gegen die ständigen Ansprüche der krassen WirklichkeitWirklichkeit zu verteidigen. Seine Welt ist die dadaistischere Kunst. Er liest beispielsweise einen scheinbar von Cécile geschriebenen Roman, der ihr stellenweise bekannt ist, aber auch fremd scheint und möglicherweise von ihm selbst stammt. Da er meistens vergisst, was in seinem Manuskript stand, machen sich alle von ihm geschaffenen Figuren selbständig. Der Autor hat ein Liebesverhältnis mit Cécile; der alte Mann wird mit der Verwarnung, besser auf ihn aufzupassen, in sein Haus gebracht. Die Radtour führt zu dem Ort, „wo später Delphi gebaut werden sollte“ (63), und es fängt an zu schneien, während die sommerliche Sonne scheint. Schließlich geraten alle in Gefahr, zum Spielball unerwarteter Ereignisse zu werden. Das Dasein erhält jedoch Sinn durch die ständigen MetamorphosenMetamorphose, die zugleich magisch und realistisch den Eindruck einer fortwährenden Erneuerung des Lebens erwecken. Das Ganze ist eine Liebeserklärung an den hoffnungsvollen Blick in die Zukunft, die bewahrte Phantasie und die Fähigkeit, die Welt aus der Perspektive der Verzauberung zu sehen.

Die literarischen Ortsbestimmungen des Romans Im Kongo (1996), in denen Übergänge von der Realität in sowohl fiktiv exotische als auch spielerisch absurde, dadaistische Räume jederzeit möglich werden, sind der Kongo und scheinbar undurchdringliche, für den Erzähler aber dennoch begehbare Wälder. Der Roman setzt ein mit einer Beschreibung des Waldes, der das Elternhaus des Erzählers umringt und dessen Kindheit beschützt. Am Ende seiner Abenteuer, in denen sich exotische Reisen, Traumfahrten und MetamorphosenMetamorphose durchdringen, bejaht der Erzähler Kuno Lüscher die untrennbare Verknüpfung seines Lebens und verallgemeinernd des Lebens aller Menschen mit dem Wald. „Der Wald: das alles Beherrschende ist aber der Wald. Er ist überall, er umzingelt dich. Er schweigt und ist doch voller Stimmen, die du nicht deuten kannst. Menschenwesen? Tiere? Geister? Er ist bewegungslos und kommt dir, ob du nun achtsam bist oder nicht, unaufhaltsam näher. Er wird dich, wenn du dich nicht wehrst – und auch wenn du es tust –, überwuchern, früher, später. Du wirst ihm nicht entgehen.“14 Im Roman ist der Wald das Uranfängliche, der Urgrund der menschlichen Psyche. Auch die erheiternde Inszenierung von Kunos Reise in den Kongo, der nach seiner Verwandlung in einen schwarzen Häuptling und Brauereibesitzer seine neue Heimat wird, maskiert kaum eine Entdeckungsfahrt ins Innere der menschlichen Phantasie. Unausgesprochen, mehrdeutig und anspruchsvoll sind Anklänge von GoethesGoethe, Johann Wolfgang naturwissenschaftlichen Überlegungen. WidmerWidmer, Urs, der 1992 Joseph Conrads Heart of Darkness neu übersetzte und mit einem Nachwort versehen hat, kennt sicherlich Conrads Faszination für Goethes Bemühung, die Eigenart des Typischen und das Wesen der Urpflanze zu bestimmen. Bei Conrad taucht im Bericht des Sehens, Erkennens und Fangens eines seltenen Schmetterlings im afrikanischen Urwald unvermittelt ein Hinweis auf Goethes Denken auf, in dem sich Sehen, Erkennen und Verstehen wechselseitig bedingen. In Widmers Roman wird die Reise in den Kongo zur Erkenntnisreise und Lebensfahrt zum Urgrund des Seins. Wünsche und Ängste, Sex und Liebe, Machttrieb und Leiden, Bejahung der Jugend und des Alterns bestimmen das Leben Kunos. Zu Beginn der Erzählung klagt Kuno, er habe kein Schicksal; am Ende ist es deutlich, dass sein Schicksal stellvertretend für alle ist, die sich, betäubt von der Fülle vorüberfliegender Eindrücke, hinaussehnen aus dem Wirrwarr der Zeit. Der Wald ist die Heimat. Er ist Anfang und Ende. Die Metamorphose erfüllt die Sehnsucht nach Entselbsten und Verselbständigung. Zugleich ermöglicht sie, durchaus humorvoll, die Verjüngung des Erzählers in einen jugendlichen Liebhaber. Darüber hinaus zwingt uns die Erzählung ständig über Unwahrscheinliches und Undenkbares nachzudenken.

Das ErzählverfahrenErzählverfahren, ein magischer RealismusRealismus, gibt dem Fiktiven größeren WahrheitsgehaltWahrheitsgehalt als der Realität. Es wird vom Erzähler selbst an einer Stelle des Romans durch Kursivschrift hervorgehoben: „Weil es nichts Wirkliches in den Städten gibt – ich weiß es, ich sage es euch –, wird das Unwirkliche wirklich“ (91). Trotzdem ist der Aufbau des Romans übersichtlich angelegt. Der Erzähler Kuno berichtet drei Lebensläufe: seinen eigenen, den seines besten Freundes und den seines Vaters. Kuno ist sechsundfünfzig und arbeitet seit dem einunddreißigsten Lebensjahr als Pfleger in einem Altersheim, in das sein Vater eingeliefert wird, nachdem er aus Versehen auf einen Postboten geschossen hat. Kuno säubert das Zimmer für den Vater, unterhält sich mit Herrn Berger, einem freundlichen Zimmernachbarn. Er klagt laut: „Einzig ich habe kein Schicksal“ und gesteht dann, er habe der atemberaubend schönen Schwester Anne einen Liebes- und Heiratsantrag gemacht. Anne lachte und beschied ihn mit der Redewendung, mit der sie jeden ablehnt: „Da können Sie warten, bis Sie schwarz sind.“ (16, 18) Der Handlungsverlauf beglückt Kuno dann mit dem außerordentlichen Schicksal seiner MetamorphoseMetamorphose und der rauschhaften Vereinigung mit Anne, die ebenfalls beim Osterbocktrinken in Kisangani völlig schwarz wird.

Die Lebensgeschichte des Vaters ist gleichermaßen abenteuerlich. Beim Einzug ins Altersheim stellt er fest, dass Berger ein alter Freund ist. Ihre Reminiszenzen kreisen um die Vorkriegs- und Kriegsjahre, in denen sie für den Schweizer Geheimdienst tätig waren. Der scheinbar solide kleinbürgerliche Vater entpuppt sich als Leiter eines wichtigen Büros des Sicherheitsdienstes. Berger und Lüscher plaudern gesellig von allerlei möglichen und undenkbaren Ereignissen, die in die Kindheit Kunos fallen. Begegnung und Freundschaft mit Hitler, Schweizer Generäle, die Ermordung der Mutter, Verstellung, Intrige, heimliche Treffen und Pläne jeder Art überkreuzen sich in dem plötzlich schicksalhaft anmutenden Dasein der Biedermänner. Die erzählte VergangenheitVergangenheit wirkt so phantastisch und erheiternd, dass die sicherlich ernstzunehmenden Anspielungen auf die Rolle der Schweiz im Zweiten Weltkrieg in den Hintergrund treten.

Der Bericht der pikaresken Abenteuer Willys konturiert die Lebensfahrt Kunos. Kuno glaubt, sie seien „unzertrennlich“. Er verehrt seinen „besten“ Freund, ist gutmütig, vertrauensvoll und glaubt alles, was ihm erzählt wird. Er hat und behält ein kindliches Gemüt. Willy ist der schlaue Picaro, der seinen Freund immer im Stich lässt, bereits als Junge seine Umwelt durchschaut, immer seinen Vorteil wahrt, mit Kunos Freundin Sophie in den Kongo verschwindet, im Zuge seiner AnpassungAnpassung an die Welt völlig schwarz wird, eine schwarze Tochter hat, sich zum gerissenen Geschäftsmann und Stammesfürsten entwickelt, das ganze Land mit Osterbock beliefert und am Ende durch einen Trick das gesamte Stammhaus der Schweizer Anselm-Brauerei in seinen Besitz bringt.

Das geschilderte Milieu, der ungezwungene PlaudertonPlauderton, in dem sich der Erzähler mit seinem Publikum unterhält („ein sonst cooler Jüngling, wir outen uns, die Lastwagen wurde geentert“), die erheiternde Mischung von puerilen und pubertären Träumen mit Wunschvorstellungen alternder Menschen (der Vater hat sofort eine Affäre mit Cindy, einer amerikanischen Studentin), das Brechen aller gesellschaftlichen Tabus und die deutlich bemerkbare Lust am Fabulieren verleihen dem Roman eine selten erreichte plastisch anmutende Realität des Seins im fiktiven Schein. Die Verwandlung in Phantasiefiguren ist nicht nur im Urwald denkbar. Kuno macht auf dem Rückflug nach Zürich eine Spesenabrechnung und geht zur Toilette. „Als ich die Hände wusch und in den Spiegel schaute, sah ich, daß ich einen weißen Vollbart hatte. Kraushaare. Und daß mein Gesicht tiefschwarz war.“ (174) Im Altersheim erfährt er, dass seine Abenteuer und MetamorphosenMetamorphose innerhalb einer knappen Woche stattfanden. Die ausgesprochen positive Bejahung der menschlichen Entwicklung in den Widersprüchen des Daseins gibt der Darstellung die Dimension eines faustischen Abenteuers, das in dieser besonderen Form nur von Joseph Conrad und Saul Bellow in Henderson the Rain King (1958) entworfen wurde.

Wie sieht die Welt vor der bevorstehenden Jahrtausendschwelle aus? WidmerWidmer, Urs geht auf die Frage in einundzwanzig kurzen Geschichten ein. Mehrere in Vor uns die Sintflut (1998) stehen unter dem Vorzeichen der von Ernst Jandl und Kurt Schwitters, Raoul Hausmann, Hugo Ball und Hans Arp in ihrer Lyrik und ihren Geschichten verwerteten kunstvollen Verknüpfung von ZeitkritikZeitkritik, Humor und Spielerei. Das Trauma unserer Zeit – Orientierungsverlust, menschliche VereinsamungVereinsamung, gestörte Verhältnisse, Erinnerungen an Kriege, die Bombe von Hiroshima, die Fülle vorbeifliegender Nachrichten und Bilder – redet in allen Geschichten mit. Außerirdische experimentieren mit verängstigten Menschen; Fernseher und Computer beobachten die ahnungslos Dasitzenden; einige erstarren in Gedanken an all die bevorstehenden Ungeheuerlichkeiten, und mancher hat schon im Geist seine Arche bereit, um der erwarteten Flut zu entkommen. Alles Denk- und Undenkbare trifft ein. „Nichts, was denkbar ist, geschieht nicht; zudem oft das Ungedachte. Die Wirklichkeit läßt keine Ungeheuerlichkeit aus. Die Phantasie ist längst eine kleine, sorgsame Anarchistin geworden, die in den verkrusteten Falten des Gedächtnisses herumkramt und Dinge zutage fördert, die kein Mensch mehr für möglich hält.“15 All dessen ungeachtet hat Widmer eine lebensbejahende Antwort für seine verstörten Zeitgenossen. Die Tür zum Paradies steht jedem im Getöse der Großstadt, am und im Inneren des Gotthard, auf dem Dorf und im Kaukasus offen. Die Voraussetzung, sie zu finden, ist die Freude am Leben. Jeder soll sich aufraffen, gerne zu leben: „Sogar angesichts unserer Welt.“ (145)

Martin WalsersWalser, Martin Kommentar zur Frage der Orientierung in der Gesellschaft, der Ich-SucheIch-Suche, Ich-Erkundung und Identitätskrise ist aufschlussreich für seine Haltung als Erzähler. Er betont die Unmöglichkeit, das eigene Ich zu erfassen. „Auf sich selbst kann man sich nicht konzentrieren. Ich – das wäre die reine Grundlosigkeit. Da würde man aus der Schulstunde heraus in eine tönende Unausdrückbarkeit versinken.“16 Wolfgang Hildesheimer äußert ähnliche Zweifel. Er stellt fest: „Ich habe meine Identität verloren uns mache mich auf die Suche nach meinem Ich. Schließlich finde ich einen ganzen Haufen von Ichs. Welches aber ist das meine? Mir dämmert Furchtbares: ICH BIN NICHT EINMALIG!“17

Das „Vorwort als Nachwort“ in WalsersWalser, Martin Springender Brunnen18 befestigt die Erzählung bewusst eindeutig mit Hinweisen auf und Erklärungen von Spracheigenheiten im dörflichen deutschen Sprachraum. Sowohl den Familienromanen von KempowskiKempowski, Walter und Wackwitz als auch den Erinnerungsdiskursen von GrassGrass, Günter, MaronMaron, Monika und OrtheilOrtheil, Hanns-Josef vergleichbar, beleuchtet die Handlung einen Ausschnitt aus der deutschen Geschichte. Der Erzähler berichtet aus der Perspektive der Geschäftsleute, die Gastwirtschaften führen und Kohlenhandel betreiben oder dem Obsthandel nachgehen und sich durch Grundstücksankäufe wirtschaftlich verbessern wollen. Die Zeit von der Weltwirtschaftskrise bis zu den Nachkriegsjahren erscheint im Spiegel der Auswirkungen auf das Kleinbürgertum. Der Roman thematisiert jedoch nicht nur die Haltung der Menschen zu den Ereignissen, sondern auch in der Bewusstseinsbildung der zentralen Figur Johann dessen Ich-SucheIch-Suche, Ich-Erkundung und wachsende Erkenntnisfähigkeit. Darüber hinaus ermöglichen Johanns Versuche, seinen zurückliegenden Eindrücken eine feste Kontur zu geben, einen fortgesetzten Diskurs über die Frage, inwiefern das Vergangene durch eine Niederschrift greifbar wird und gegenwärtig sein kann. Die Einsicht, dass jedes gestaltende Schreiben zugleich eine Auseinandersetzung mit gegenwärtigen Hoffnungen, Wünschen und Träumen ist, gibt dem Roman seinen Titel: „Die Sprache, dachte Johann, ist ein springender Brunnen.“ (405) Die Reflexionen belegen, dass Walser deutlich die Schwächen einer Erinnerungsliteratur erkennt, die durch größte Konzentration auf Details den Eindruck authentischer Wiedergabe erwecken will. Er zeigt dagegen in der Entwicklung Johanns, wie sich Personen ändern und die VergangenheitVergangenheit ihren neu gewonnenen Ansichten entsprechend umgestalten.

Die manchmal wuchernden Einzelheiten in Schilderungen der Landschaft, des alltäglichen Lebens und der Eindrücke Johanns sind konsequent bezogen auf den Ansatz, dem historischen Geschehen Sinn abzuringen. Das gelingt in der Gestaltung der Auswirkung des großen Hergangs auf die kleine Welt. Der Erzähler trifft den Nerv der dörflich kleinstädtischen Gemeinschaft am Bodensee in Gegensätzen und Übereinstimmungen, im Bestreben, der Wirtschaftskrise zu entkommen, in der Veränderung in der Einstellung zur Tagespolitik und zum Krieg. Besonders aufschlussreich sind die Einblicke in die Gefährdung der Menschen durch Handeln und Unterlassungen in den von den ökonomischen und politischen Ereignissen ausgelösten Lebenskrisen. Zugleich erfassen einzelne Aussagen und Reaktionen typische Verhaltensweisen. In ihnen kommen Grundwidersprüche der europäischen Welt und der deutschen gesellschaftlichen Entwicklung zu Wort. Der Rückgriff auf die VergangenheitVergangenheit, in der Ereignisse aus dem Ersten Weltkrieg, aus der Wirtschaftskrise, aus den Jahren der Machtübernahme und des Zweiten Weltkriegs das Blickfeld der Betroffenen beherrschen, ermöglicht die Darstellung einer umfassenden Palette unterschiedlicher Gesinnungen.

WalserWalser, Martin schildert besser als KempowskiKempowski, Walter die Veränderung und Zurichtung der inneren Natur der Menschen im Wechsel der gesellschaftlichen Ansprüche. Manche empfinden, dass sie alles vergessen müssen, was sie gelernt haben. Die Not verlangt, eine Unterschrift zu fälschen, um das Restaurant zu retten. Die Angst verleitet dazu, nach der Kommunion den Hitler-Gruß zu üben oder wegzusehen, wenn ein halbjüdischer Schüler aus der Gruppe ausgestoßen wird. Ratlosigkeit und Sorge um die eigene Sicherheit münden in Schweigen, wenn Dachau erwähnt wird. Demgegenüber werden andere, für die ein Lehrer beispielhaft wirkt, überzeugte Anhänger der Partei, die rücksichtslos auf dem propagierten Fortschrittsprogramm bestehen und nachts Menschen verprügeln, die sich nicht der neuen Ordnung fügen. Einige wie etwa der Vater mit einer kleinen Gruppe Gleichdenkender ziehen sich hilflos zurück, ohne offenen Widerstand zu leisten. Die Anpassungskunst vieler wird deutlich im Entschluss der Mutter, in die Partei einzutreten. Sie wird Mitglied nicht aus Überzeugung, sondern aus der nüchternen Überlegung, dass der Gasthof von dort abgehaltenen Versammlungen der Nazis profitieren werde. Sie ist geradezu „erlöst“ von ihrer Entscheidung. In ihrer Erklärung kommen breite Bevölkerungskreise der Mitläufer und Nischensteher zu Wort: „Mein Gott, man kann doch nicht gegen die Leute leben, wenn man von ihnen leben muß, oder!“ (250) Diese Eindrücke wie auch die vom Radio übertragenen Reden in Berlin am 30.1.1933 die erste Liebeserfahrung, der Entschluss, sich freiwillig zu melden, der Tod des Bruders im Krieg und alltägliche Ereignisse, sei es das Abliefern von Kohlen oder die Eigenart und die Leiden einzelner Einwohner, bestimmen den Erfahrungshorizont Johanns. Er denkt darüber während der Apfelernte und später am Schreibtisch nach. Als kritisch reflektierender Erzähler kommt er zu der Überzeugung, die Walsers eigener Überzeugung entspricht. Eine Lebensgeschichte ist keine faktische Dokumentation. Erinnerung ist Formgebung von Ereignissen. „Wir überleben nicht als die, die wir gewesen sind, sondern als die, die wir geworden sind, nachdem wir waren. … Ist jetzt im Vorbeisein mehr Vergangenheit oder mehr Gegenwart?“ (15) Die Ich-SucheIch-Suche, Ich-Erkundung ist erfolgreich. Die Betonung liegt auf dem Leben und der Orientierung im MitlebenMitleben.

Sinnsuche und Krise

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