Читать книгу Cadburn und das Tal der Toten: Texas Wolf Band 67 - Horst Weymar Hübner - Страница 8

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In zwanzig Jahren vergisst man allerlei.

Der Nachbar hieß nicht Stockwood, sondern Lockman. Das erfuhren sie aber erst, nachdem der Mann mit einer Flinte aus dem Fenster gezielt und mit Geschrei und Gepolter seinen Schwiegersohn geweckt hatte. Mit einer Lampe und einem zusätzlichen Gewehr kamen die notdürftig bekleideten Männer schließlich heraus.

In diesem Land schien Vorsicht ein weit wichtigeres Gebot zu sein als Gastfreundschaft. Jedenfalls waren Lockman und sein Schwiegersohn nicht leichtsinnig.

Sie hörten Tom Cadburn zu und unterbrachen ihn nicht.

Und die ganze Zeit behielten sie die Gewehre oben.

Tom und Old Joe mussten es sich gefallen lassen, bis auf die Knochen gemustert zu werden. Nicht weniger kritisch und scharfäugig wurden die Tiere begutachtet

Lockman, der wenigstens in Joes Alter sein musste, erklärte schließlich: „Einen Mann beurteilen wir nach seinem Pferd, oder worauf er gerade reitet. So, Hutch und Mary also! Tut mir verdammt leid, ehrlich. Wir hatten keinen großen nachbarlichen Verkehr. Wir müssen zupacken und können nicht im Land rumreiten und Leute besuchen. Sie habe ich noch nie hier gesehen!“

Sein Flintenlauf zeigte auf Tom. Besonders große Erschütterung über den Tod von Hutch und seiner Frau ließ er nicht erkennen.

Das lag wohl am Menschenschlag hier, vermutete Tom. Die Leute waren wortkarg und herb, und vorschnell konnte man sie sogar als abweisend einstufen.

Aber das lag auch am Land. Es war feindlich, und wer hier siedelte und sich ein Stück Besitz erobert hatte, der war noch härter.

„Ich bin nur mitgekommen“, erklärte Tom. „Ich habe einen guten alten Freund begleitet.“

Lockmans wachsamer Blick richtete sich sofort auf Old Joe. „Nie gesehen!“

„Ich war vor zwanzig Jahren mit Hutch hier. Wegen der vermischten Herden“, brummte Joe. Er ließ erkennen, dass es ihm nicht behagte, vor zwei Waffenläufen zu stehen.

Lockman dachte angestrengt nach, das war zu erkennen. Es dämmerte ihm allmählich. „Es gab da mal Ärger, das stimmt schon“, räumte er ein. „Aber das ist dreißig Jahre her.“

„Von mir aus auch das“, knurrte Joe. „Ich bin danach jedenfalls noch ein paarmal bei Hutch gewesen.“

Tom fand, dass Old Joes Gedächtnis da und dort beachtliche Lücken aufwies. Schon der Name des Nachbarn war falsch, und dann hatte er sich noch um glatte zehn Jahre vertan.

Lockman ließ endlich die Flinte sinken. „Und wegen damals kommen Sie nun zu mir?“

„Wir hätten da einige Fragen“, sprach Tom. „Und es sollte auch jemand ein Auge auf das Vieh der Bend-Ranch haben. Einmal haben wir im Garten hinterm Haus zwei Gräber gefunden. Und dann sind Spuren auf der Ranch. Vier Männer. Wissen Sie etwas darüber?“

Lockman und sein Schwiegersohn warfen sich Blicke zu.

Tom kam es vor, als herrschte Einverständnis zwischen ihnen. Dann sagte Lockman: „Wie schon gesagt, wir sahen uns kaum. Wir bleiben in unserem Tal, und Hutch hielt es ebenso. Ein oder zweimal traf man sich in Mason.“

Old Joe nickte. Der Name der Ansiedlung oder Stadt schien Erinnerungen zu wecken.

„Kauft man dort die Vorräte?“, fragte Tom schnell.

Etwas widerwillig nickte Lockman. „Eine Ranch kann nicht alles selber erzeugen.“

„Das ist mir schon klar. Sagen Sie mir jetzt etwas über die Gräber im Garten!“

Dieser Vorschlag fand nicht die Zustimmung von Lockman. Sein Schwiegersohn öffnete zwar den Mund, aber ein Blick des Alten sorgte dafür, dass er ihn wieder schloss.

„Darüber reden wir am Tag, wenn Sie es nicht vorziehen, nach Mason hineinzureiten.“ Lockman sprach zögernd, fast unwillig.

Tom spürte immer deutlicher, dass der Mann Ausflüchte machte, dass es da etwas gab, über das er nichts sagen wollte, ohne dass er indessen ein schlechtes Gewissen hatte.

Nachbarliche Querelen? Schon möglich. Wahrscheinlich war es bei der einmaligen Vermischung der Herden nicht geblieben.

„Können wir Ihren Brunnen benützen?“, fragte Tom frostig.

Lockman machte eine Bewegung mit der Flinte, die von der Zustimmung bis zur Ablehnung alles enthielt. Tom konnte sich die passende Antwort aussuchen.

Die beiden nächtlichen Besucher warteten vergeblich auf eine Einladung, die Stunden bis zum Morgen auf der Ranch zu verbringen.

Lockman sah es lieber, wenn er keinen Fremden in der Nähe wusste.

An seiner Stelle wäre ich auch misstrauisch. dachte Tom. Allein schon deswegen, was auf der Bend-Ranch geschehen ist!

Die Erklärung für Lockmans seltsames Verhalten erschien ihm jedoch zu dürftig. Dahinter steckte mehr.

Lockman wusste etwas, sein Schwiegersohn auch, und beide wollten nicht reden. .

Hatten sie selber Angst? Fürchteten sie, ebenso besucht zu werden, wie Hutch und seine Frau?

„Dann bis zum Morgen!“ Tom deutete eine Bewegung zur Hutkrempe an und zog seinen prächtigen Blauschimmelhengst herum. Old Joe folgte ihm auf dem Maultier.

Während sie am Brunnen die Tiere tränkten und die Feldflaschen mit frischem Wasser füllten, sahen sie Lockman und seinen Schwiegersohn noch immer vor der Tür stehen. Die beiden Männer beobachteten sie wachsam.

Unvermittelt erscholl in der Nähe ein schauriger Ruf aus der Kehle von Sam. Auf Lockmans Pferdekoppel brach Unruhe aus. Der dumpfe Schlag galoppierender Hufe drang aus der Nacht.

Holzstangen knackten unter dem Ansturm schwerer Pferdeleiber.

Und im Stall trommelten eisenharte Hufe gegen eine Box, bevor ein Hengst seinen wütenden Ruf aussandte, um seinen Pferdeharem zu beruhigen und dem vermeintlichen Angreifer zu signalisieren, dass es hier einen aufmerksamen Wächter gab.

Lockmans erschrockener Fluch war bis zum Brunnen zu hören: „Hölle und Verdammnis, seit wann kommen wieder Wölfe herunter? Dave, hast du Spuren gesehen?“

Im Lampenschein war zu sehen, dass der Schwiegersohn den Kopf schüttelte. Er schien es noch weniger als Lockman zu begreifen, dass sich ein streunender Wolf bis in die Nähe der Ranch verirrt hatte.

„Drücken Sie nicht versehentlich ab!“, rief Tom. „Der Wolf gehört mir.“

Die Köpfe fuhren herum.

Die Distanz war beträchtlich, und Einzelheiten waren nicht zu erkennen, aber Tom war sicher, dass sie ihn wie einen Verrückten ansahen, den man vorsichtig behandeln musste.

Als er mit Old Joe vom Hof herunterritt, bemerkte er, dass die beiden Männer wieder die Waffen oben hatten.

Das war wirklich eine verdammt seltsame Gegend!

Eine halbe Meile weiter stieg Joe von seinem Maultier. „Der Platz ist so gut und so schlecht wie irgend ein anderer. Machen wir unser Lager hier.“

„Sollten wir nicht besser nach diesem Mason reiten?“

„Glaubst du, dort erfahren wir mehr?“, fuhr der Alte hoch. „Lockman lügt, oder er hat die Hosen gestrichen voll.“

Tom stieg ab, pflockte Thunder abseits des Weges an und sattelte ab.

„Sagen wir so, er ist ein sehr vorsichtiger Mann. Sein Schwiegersohn hätte geredet...“

„Genau das hat mich stutzig gemacht. Warum hat Lockman ihn nicht sprechen lassen? Die verheimlichen uns etwas. Junge. Glaube einem alten Mann, dem im Leben mehr Kugeln um die Ohren geflogen sind, als du an einem Tag zählen kannst.“

Wütend nahm Old Joe Sattel und Packzeug ab und rollte seine Decke aus.

Die Nacht war empfindlich kühl. Das fette Gras war feucht. Irgendwo quarrte ein Vogel unzufrieden im Schlaf.

Tom rollte sich eine Zigarette und brannte sie in der hohlgehaltenen Hand an. Den Glutpunkt verdeckte er bei jedem Zug. Schon manchem Mann war eine aufglimmende Zigarette zum Verhängnis geworden. Und hier war doppelte Vorsicht geboten, solange vier Killer unerkannt im Land lebten und vielleicht gerade in dieser Nacht wieder unterwegs waren.

Als er den Kopf zur Seite drehte, sah er den Alten an den Sattel gelehnt sitzen und die Ranch beobachten. Bei Lockman brannte hinter zwei Fenstern Licht.

„Vielleicht reitet er selber, oder er schickt den Schwiegersohn, der nichts zu sagen hat“, meinte Old Joe gereizt, wie ihn Tom schon lange nicht mehr erlebt hatte.

„Wohin schicken?“

„Zu den Kerlen, die...“ Mit einem scharfen Atemzug unterbrach sich der Alte.

Bei Lockman war die Tür aufgegangen. Das helle große Rechteck zwischen den beiden erleuchteten Fenstern wurde einen Augenblick lang verdunkelt, jemand kam heraus.

Dann war die Tür wieder zu. Im Haus blieb die Lampe brennen.

„Schätze, wir waren zu voreilig“, zischelte Old Joe. „Das Auspacken hätten wir uns schenken können.“

Tom schwieg und lauschte. Hinter ihrem Lagerplatz raschelte das feuchte Gras. Sam pirschte dort herum und wühlte in irgendeinem Erdbau, aus dem der Geruch eines Beutetieres stieg.

Nach einigen Minuten drang gedämpfter Hufschlag durch die Nacht und verlor sich.

„Na also!“ Wilder Triumph war in Old Joes Stimme. „Ich bleibe dabei, der Kerl hat gelogen!“

Tom zerdrückte den Zigarettenrest unter dem Absatz. „Reiten wir auch“, entschied er und lauschte wieder. Es war nichts mehr zu hören. „Klang gerade, als nähme das Pferd die Richtung zum Bergrücken.“

Wenn Lockman, oder sein Schwiegersohn Dave in der schlimmsten Dunkelheit fortritt und sogar über den Bergrücken kletterte, der die natürliche Grenze zwischen dem Sweetwater-Valley und der Weide der Lockmans war, dann besagte das, dass einer, oder dass beide diese gemeinsame Grenze mächtig gut kannten.

Besser jedenfalls, als der unfreundliche Rancher eingestanden hatte, indem er auf die kaum vorhandenen nachbarlichen Beziehungen zu den Bends hinwies.

Wären Thunder und Rosinante nicht Reittiere gewesen, denen ihre Besitzer schon allerhand abenteuerliche Leistungen abverlangt hatten, und die aus diesem Grunde allerlei gewöhnt waren, hätten sich Tom und Old Joe bei der Überquerung des Bergrückens glatt das Genick brechen können.

Jedenfalls hatten die wenigen Passagen, die in der Finsternis halbwegs erkennbar gewesen waren, recht drastisch gezeigt, dass es sich um eine ziemlich wilde Landschaft handelte.

Tom und der Alte sattelten in Rekordzeit, und Sam hatte endlich seine Beute ausgegraben und zermalmte sie zwischen seinen fürchterlichen Zähnen, was deutlich zu hören war.

„Komm schon, Bursche!“, lockte Tom den Schwarzwolf. „Ein Erdhörnchen macht nicht satt, und ein zweites erwischst du hier nicht!“

Ein unterdrücktes Niesen war die Antwort. Tom gewann den Eindruck, dass Sam nicht einer Meinung mit ihm war und lieber einen zweiten Bau ausgescharrt hätte, schon um zu beweisen, dass auf seine Nase Verlass war.

Als sich die Reiter in den Sattel schwangen und das Leder knarrte, schoss der Timber wie ein Schatten heran und glitt über das graue Wegband.

„Na also“, lobte Tom. „Wir können deine Unterstützung gebrauchen. Es wäre außerdem riesig nett von dir, wenn du jetzt keinen Jagdruf mehr loslassen würdest. Die Leute hier herum machen so schon einen ziemlich nervösen Eindruck.“

Das dumpfe Pochen der Hufe setzte ein.

Von hinten brabbelte Joe: „Bildest du dir im Ernst ein, der Kerl hört dir zu? Der lacht sich eins und macht doch, was er will. Anfangs habe ich auch geglaubt, ich könnte mit Rosinante vernünftig reden. Den Glauben habe ich aufgegeben. Das alte Mädchen hat seine Mucken und behält sie, da kann ich fluchen, oder schmeicheln.“

„Wie ein altes Ehepaar“, sagte Tom und lachte leise. „Jeder zieht in eine andere Richtung, und am Ende kommt der eine ohne den anderen doch nicht aus.“

Sie blieben auf der guten fetten Weide und schlugen einen weiten Bogen um Lockmans Ranch.

Staub hing nicht in der Luft, dafür war die Nacht viel zu feucht. Und um die Fährte des Reiters zu erkennen, hätten die Sterne sichtbar sein müssen. Sie waren hinter Wolken verborgen.

Aufs Geratewohl schlug Tom die Richtung ein, die zum Bergrücken führte.

Mehrmals wandte er den Kopf. Die beiden Fenster blieben erleuchtet. Das konnte bedeuten, dass der Reiter bald zurück erwartet wurde.

Es gab eine zweite Möglichkeit, der zurückgebliebene Mann war unruhig und nervös und hielt es für besser, den Rest der Nacht wach zu bleiben, statt zurück ins Bett zu kriechen.

Ein Nachtvogel, der auf der Weide jagte, strich hart über Tom hinweg. Er spürte den Luftzug und hörte das überraschte Mauzen des Tieres, das erst im letzten Augenblick das heranreitende Hindernis erkannt hatte.

„Und wenn wir die Stelle nicht gleich finden, an der wir rüberklettern können?“, ließ sich der Alte wieder von hinten vernehmen. „Viel gesehen habe ich eigentlich nicht, und seit damals ist eine Menge Zeit verstrichen.“

„Zumindest versuchen werden wir es. Wir können uns dann immer noch anders entscheiden.“

Tom zügelte nach geraumer Zeit den Hengst und beugte sich lauschend vor. Der Reiter musste den Bergrücken erreicht haben, die Zeit kam hin. Haltsuchende eisenbeschlagene Hufe mussten auf dem Fels laut genug knallen, dass es hier am Talrand zu hören war.

Aus der abenteuerlichen Felsenwildnis drang jedoch kein Laut. Was bedeutete, dass der Reiter von Lockmans Ranch eine andere Richtung eingeschlagen hatte.

„Gibt es noch einen Weg, Joe? Vielleicht hat Hutch ihn mal erwähnt.“

„Klar gibt's einen, aber der führt um den Bergrücken herum und stellt ’nen Umweg von vierzig Meilen dar. Wie sollten sich sonst damals die Herden vermischt haben? Eine Kuh kannst du nicht mal mit einer Tracht Prügel in 'ne Felsregion treiben, wenn sie tagaus, tagein fettes Gras und gutes Wasser vor der Nase hat und nicht zu wandern braucht.“

Das leuchtete Tom ein. Auch die Lockman-Weide war hervorragend. Ohne zwingenden Grund verließen Rinder nie einen so guten Platz.

„Vielleicht ist dem Reiter der Bergrücken zu gefährlich und er nimmt den Umweg“, sagte Tom, und dann fiel ihm etwas ein: „Wie konnten sich dann damals die Herden vermischen?“

Von Old Joe kam ein Knurren. „Das habe ich damals schon Hutch gefragt. Er war der Meinung, jemand müsste die Rinderrudel aus beiden Tälern auf die Ebene getrieben haben, und zwar gleichzeitig.“

„Einen Verdacht hatte er nicht?“ Es war so eine Idee von Tom. Auch wenn inzwischen dreißig Jahre vergangen waren.

„Viel gesagt hat er nicht. Die Kühe waren ja alle da. Es war nur eine Mordsarbeit, sie auszusortieren. Dagegen fluchte Lockman den ganzen Tag, bis die Arbeit gemacht war. Daran entsinne ich mich. Er stieß Verwünschungen gegen das Hidden Valley aus.“

„Hidden Valley?“ Das bedeutete nichts anderes als verborgenes Tal. „Was war damit?“

„Ich dachte an einen verborgenen Winkel, in den sich gestrandete Existenzen zurückgezogen hatten und von dort aus Geschäfte betrieben, für die man aufgehängt wird, Rinder und Pferdediebstahl. Du kennst solche Vögel ja. Erst ein paar Jahre später bekam ich zufällig mit, dass die Leute was ganz anderes meinten. Im Hidden Valley hatte sich ein Rancher breitgemacht, dem immer dickere Rosinen im Kopf wuchsen. Wollte so was wie der King der ganzen Gegend werden. Der Kerl muss den kleinen Ranchern wie Hutch und Lockman ganz schön zugesetzt haben, bis sie sich zusammenschlossen und ihm die Zähne zeigten. Danach hörte ich Hutch nie mehr über das Hidden Valley sprechen. Mary erzählte nur mal, dass er eines Nachts mit einer zerschmetterten Rippe und zwei Unzen Blei in der Schulter heimgekommen ist. Denkst du, da könnte jemand 'ne alte Rechnung glattgemacht haben?“

„Wir sollten diese Möglichkeit jedenfalls in Betracht ziehen.“ Tom wandte seine Aufmerksamkeit wieder dem Gelände zu. Thunder war zwar ein ausgezeichneter Nachtgänger, vor einem Einsacken in einen Erdhörnchen oder Präriehundebau war er allerdings auch nicht gefeit. Und diese Tiere gab es reichlich hier. Tom hörte es am begeisterten Schniefen von Sam, der alle paar Schritte ein neues Erdloch untersuchte.

Der nächtliche Ritt endete mit einem Misserfolg. Tom fand die richtige Passage über den Bergrücken nicht, und um alle Einbuchtungen und kleinen Schluchten zu untersuchen, hätte er eine kleine Suchmannschaft, oder einen Tag Zeit haben müssen.

Und Old Joe konnte sich nicht daran erinnern, an welcher Stelle sie damals herübergekommen waren, was nach dreißig Jahren auch zu viel verlangt war.

„Dann lagern wir eben hier“, bestimmte Tom. Lockmans Ranch war so weit entfernt, dass die beiden erleuchteten Fenster zu einem winzigen gelben Punkt zusammengerückt waren.

Zwischen der fernen Ranch und dem Talausgang gab es jedoch einen Weg, und den nahm der Reiter, wenn er zurückkam. Wenn sie ihn nicht vorbeireiten hörten und wenn er auch der Aufmerksamkeit der Reittiere entging, Sam würde jedenfalls auf ein noch so leises fremdes Geräusch reagieren.

An dem Timber kam der Reiter nicht unbemerkt vorbei.

Ein verhaltenes Knurren weckte Tom.

Drei Dinge erfasste er gleichzeitig: Es war die Stunde zwischen Nacht und Tag, in der die Konturen des Landes unscharf und fließend waren und in der nichts eine Farbe hatte. Old Joe war unter der zerschlissenen Decke herausgekrochen und griff nach der furchtbaren Hawken-Büchse, und Sam, Thunder und Rosinante standen mit dem Kopf zur Talmitte und hatten die Ohren steil aufgestellt.

Wieder knurrte der Timber. Es war ein tiefes, verhaltenes Rollen, das in seiner mächtigen Brust seinen Anfang nahm, aber bestimmt nicht weiter drang als zweihundert Schritte.

„Schon gut. Bursche, wir haben's gehört“, flüsterte Tom besänftigend und griff nach dem Gewehr, das er vor dem Einschlafen halb unter die Bettrolle geschoben hatte.

Aus dem ungewissen Licht des heraufziehenden Tages drang ein durch Mark und Bein gehendes Schrillen und Quietschen. Es wurde schwächer, wieder stärker, und unverkennbar kam es näher.

Dann war ein dumpfes Rollen und Poltern hörbar. Und schließlich war auch gedämpfter Hufschlag zu vernehmen.

Aber nicht nur von einem Pferd. Da kamen wenigstens zehn Tiere.

Dunstbänke und Nebelfetzen lagen über Lockmans guter feuchter Weide. Da und dort ragte ein Cottonwood auf, dessen Stamm in Bodennähe noch nicht sichtbar war.

Der fremdartige Lärm erschreckte Rinderrudel, die sich da und dort zur Nachtruhe niedergelassen hatten. Unwillig, verstört oder aufgebracht brüllten die Tiere ihren Ärger in den jungen Morgen hinaus.

„Klingt nach Wagen!“, raunte Tom.

„Möchte sagen, nach schlecht geschmierten Achsen!“, gab Joe ebenso leise zurück.

Aus dem Frühdunst schälten sich schemenhaft Reiter, nickende Pferdeköpfe, ein Mann, der sitzend durch die Luft zu gleiten schien, und dicht hinter ihm der planenlose Aufbau eines Ranchwagens. Ein zweiter Wagen mit Kutscher folgte, dann kamen noch zwei Reiter.

Verwehte Gsprächsfetzen schwebten heran. Sie ergaben keinen Sinn, und besonders redefreudig waren die Leute an diesem frühen Morgen obendrein nicht.

Die seltsame Gesellschaft zog keine dreihundert Pferdelängen vom Lager entfernt vorüber und entschwand in den Dunstbänken. Ihr Ziel war ohne Frage Lockmans Ranch.

Ratlos ließ Old Joe die mörderische Büchse sinken. „Eine merkwürdige Prozession!“, brummelte er. „Ob er die Nachbarn zusammengerufen hat?“

„Das wird sich ja feststellen lassen. Wir laden uns selber ein und folgen der Abordnung in angemessener Entfernung.“ Damit begann Tom. seine Bettrolle zu wickeln.

Der Alte blieb unschlüssig stehen. „Wenn's wegen dem Begräbnis für Hutch und Mary ist, hätten die Leute doch gleich ins Sweetwater-Tal reiten können. Was hältst du davon?“

„Wir werden zu Lockman reiten, wozu er uns ja aufgefordert hat, wir werden zuhören und zusehen und uns danach ein Urteil bilden.“

„Du hast das Zeug zu einem Advokaten. Junge. Die Brüder reden auch immer um die Sache rum und machen für ein ,Ja‘ oder „Nein“ mehr Worte, als man bei uns zu Hause brauchte, wenn man heiratete oder ‘ne Taufe hielt. Lockman kann sich Verstärkung beschafft haben.“

„Wozu?“

„Er rechnete damit, dass wir wirklich wiederkommen. Er hat 'n lausig schlechtes Gewissen. Reden wollte er auch nicht. Wenn wir jetzt hinreiten, werden wir vielleicht mit Blei bombardiert.“

„Das“, sagte Tom seufzend, „ist natürlich auch eine Möglichkeit, ich halte sie aber für nicht sehr wahrscheinlich.“

„Mensch, du bist lange genug Ranger und solltest keine Wunschvorstellungen mehr haben, die an Wunder grenzen! Glaub das Schlimmste von den Leuten, dann bist du den Tatsachen immer ganz nah.“

Tom trug den Sattel zu Thunder. „Der Tod von Hutch und Mary hat dich verbittert, du siehst die Sache jetzt zu einseitig. Ich lasse jeden zu seinem Recht kommen, und schuldig ist einer erst, wenn ich ihm das beweisen kann. Ein paar Reiter und zwei Wagen am frühen Morgen auf dem Weg zu seiner Ranch sind keine Beweise gegen Lockman. Mach jetzt voran, sonst verpassen wir das Beste.“

Die Tierrücken waren klamm und das Sattelzeug samt Gepäck feucht. Es dauerte seine Zeit, bis Tom und der Alte fertig waren und hinüber zum Weg ritten.

Sie stießen auf eine ausgeleierte Fahrspur. Das Grasband in der Mitte war von den eben vorbei gekommenen Pferden zertrampelt.

Der stille Zorn, der in Old Joe tobte, übertrug sich irgendwie auf Rosinante. Die eigenwillige Maultierdame, die sonst immer gern einige Längen hinter Thunder blieb, oder, wenn sie ihre Mucken hatte, weit zurück hing, trappelte an dem Blauschimmel vorbei, schwenkte den Kopf und zeigte voller Angriffslust die Zähne. Dann übernahm sie die Spitze und trug ihren Reiter eilig in die Dunstbänke.

Der neuerliche Hufschlag veranlasste dicht beim Fahrweg eine Kuh, ein zorniges Gebrüll anzustimmen.

Tom wünschte, dass sie lieber still war. Der Frühnebel dämpfte zwar jedes Geräusch, es war aber nicht auszuschließen, dass die Schlussreiter etwas hörten und sich fragten, warum nun wieder Unruhe auf der Weide war.

Auch Old Joe stellte Überlegungen in dieser Richtung an. Vorsorglich nahm er die Hawken-Büchse quer vor sich. Solange nicht feststand, wer die vier Killer auf der Ranch gewesen waren, kam jeder Mann in diesem Land dafür in Betracht.

Aber die Wagen und die Reiter waren doch wohl schon weiter entfernt. Es kam niemand auf dem Weg zurück.

Nach zehn Minuten hörten Tom und der Alte voraus wieder dieses abscheuliche Quietschen der ungeschmierten Achsen. Old Joe drosselte das Tempo von Rosinante. Er war nicht scharf darauf, in die Männer hinter den beiden Wagen hineinzureiten.

Der neue Tag drängte mit Macht herauf. Zusehends wurde es heller. Das Land nahm Gestalt an. Die gewaltigen Cottonwoods auf Lockmans Land ragten dunkel und ausladend auf, je mehr sich der Dunst an den Boden drängte.

Wie Schemen trottete ein Rinderrudel auf den Weg, die Tiere glotzten die beiden Reiter an und zogen dann weiter. Plötzlich erklang aus dieser Richtung das dumpfe Trappeln vieler Klauen.

Das Rudel hatte die Wolfswitterung in die Nase bekommen und flüchtete.

Das schrille Kreischen brach ab. Eine Tür klappte, Schritte dröhnten über Holzplanken. Voraus lag Lockmans Ranch. Die Reiter und Wagen waren angelangt.

„Wir schleichen uns hin!“, zischelte der Alte.

„Haben wir etwas zu verbergen? Lockman rechnet mit uns. Wir sollten ihn nicht enttäuschen.“ Tom blieb mit dem Hengst auf dem Weg und sah nach wenigen Augenblicken das dunkle Dach des Hauses aufragen.

Abgestellte Pferde bewegten sich unruhig. Sie bekamen eine scharfe Witterung in die Nase. Verhalten klirrten Eisenteile. Dann knarrte ein Sattel, und jemand sprang zu Boden.

Mit gebleckten Zähnen stapfte Rosinante jetzt neben Thunder her. Ihre ausgefransten Ohren standen steil aufgerichtet und fingen jedes Geräusch von vorne ein.

Die hohen Spannrippen der Wagenaufbauten schälten sich aus dem Dunst, schließlich die Pferde und auf den letzten zehn Pferdelängen auch die Leute.

„Himmel, steh mir bei!“, murmelte Old Joe und hielt sein Maultier an. Erschüttert wischte er sich über die Augen. „Ich sehe mindestens tausend Jungfrauen!“

Tom Cadburn erfasste die Szene mit einem Blick und deutete sie anders. Von tausend Jungfrauen konnte nicht die Rede sein. Es waren bestenfalls fünfzehn Frauen, die gerade von den Wagen kletterten. Und es waren keine jungen Geschöpfe, sondern zusammengearbeitete Ranchersfrauen.

Sieben ledige Pferde waren am Geländer von Lockmans Veranda angebunden.

Tom kalkulierte blitzschnell, weil ihm das krasse Missverhältnis von Männern und Frauen ins Auge sprang. Sechs der Reiter, die auf den Einzelpferden gekommen waren, mussten Rancher sein, denn das siebente Pferd war von Lockman, oder seinem Schwiegersohn geritten worden. Dazu kamen zwei Kutscher. Das machte acht zu, er zählte die Frauen ab, zu vierzehn.

Irgendwie kam das nicht hin, denn die Frauen machten nicht den Eindruck, sie seien alle unverheiratet.

Er trieb den Hengst zwischen den Wagen und den angebundenen Reitpferden hindurch und erkannte unter dem vorgezogenen Dach die Männer. Keiner von ihnen hatte es für nötig befunden, den Frauen von den Wagen zu helfen.

Für Tom ein weiterer sicherer Beweis dafür, dass es sich um verheiratete Frauen handelte.

Unter dem Dach entstand Bewegung. „Sie sind verdammt pünktlich!“ Das war Lockman. Er war vollständig angezogen, wirkte aber nicht so, als habe er die letzten Stunden der Nacht im Sattel verbracht.

Also war sein Schwiegersohn ausgeritten, um die Nachbarn zusammenzuholen!

„Es wäre doch unhöflich, Sie und Ihre Nachbarn, wie ich annehme, lange warten zu lassen“, erwiderte Tom und bemühte sich, die Gesichter zu erkennen. Er beugte sich über das Sattelhorn vorwärts.

Soweit das trübe Frühlicht es zuließ, entdeckte er in den harten Augen Misstrauen und scharfe Ablehnung.

Er fragte sich, was er den Leuten getan hatte, dass sie ihn derart unfreundlich betrachteten.

Die laute Frage danach verkniff er sich. Vielleicht erklärte sich dieser Umstand von allein, oder Lockman kam mit einer glaubwürdigen Begründung herüber.

Schnelle, wachsame Blicke des Ranchers glitten über Tom und Old Joe. Dann war ein Funkeln in den Augen, das Tom irgendwie an einen Weidepiraten erinnerte, der eben beschlossen hat, sich ein weiteres Stück Land anzueignen.

„Das sind die nächsten Nachbarn“, erklärte Lockman, ohne alle Spur von Trauer, oder Mitgefühl. „Mein Schwiegersohn hat sie zusammengeholt. Wir wollen erst mal einen kräftigen Kaffee trinken und frühstücken und darüber sprechen, was zu unternehmen ist. Ladies, kommt nur herein! Meine Alte hat das Wasser schon aufgesetzt. Sie auch natürlich!“ Sein Blick suchte Old Joe und Tom. „Lassen Sie die Waffen draußen.“

Cadburn und das Tal der Toten: Texas Wolf  Band 67

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