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1 | Aufklärung, »philosophes« und »Ideologen« |
Die wissenssoziologische Frage nach dem Zusammenhang zwischen Denken und Denkenden, zwischen Wissen und Wissenden, zwischen Wahrheit und denen, für die die Wahrheit gilt, ist zweifellos keine Neuerfindung der Moderne. In der Geschichte des menschlichen Denkens finden wir sie immer wieder. Insbesondere die Philosophie entfaltet in verschiedenen Fassungen die Grundgedanken dessen, was später als Wissenssoziologie institutionalisiert werden wird. Schon vor dem berühmten Höhlengleichnis des Platon, das die Perspektivität menschlichen Denkens insgesamt auf ein Bild bringt – Platon vergleicht die Menschen mit Wesen, die in Höhlen wohnen und statt der eigentlichen Dinge lediglich die Schatten der Phänomene sehen, die das äußeren Licht an die Höhlenwand wirft, – werden Vorstellungen formuliert, die später bei der Vorbereitung der Wissenssoziologie aufgenommen werden. So deutet sich bereits in der Religionskritik des im 5. Jahrhundert vor Christus schreibenden Eleaten Xenophanes eine Vorstellung an, die Gottesbilder als Ausdruck ethnischer Merkmale versteht: »Die Äthioper behaupten, ihre Götter seien stumpfnasig und schwarz, die Thraker, blauäugig und rothaarig.«1 Einen bekannten Ausdruck findet diese Vorstellung auch in Pascals berühmtem Diktum, dass die Wahrheit auf der einen Seite der Pyrenäen der Irrtum auf der anderen sei. Der Renaissance-Philosoph Michel de Montaigne wäre sicherlich ebenso ein guter Kronzeuge, mit dem wir die Wissenssoziologie beginnen lassen könnten, betont er doch den sozialen Ursprung des menschlichen Wissens: Unser Wissen erstehe aus unseren Gewohnheiten.2 In seiner Geschichte des Ideologiebegriffes hebt der berühmte Wissenssoziologe Karl Mannheim den Philosophen Niccolò Machiavelli als denjenigen hervor, der die Unterschiedlichkeit des Denkens sehr klar auf soziologische Faktoren zurückführe. Die Unterschiede der Meinungen der Menschen ließen sich demnach auf Unterschiede ihrer Interessen beziehen, die wiederum mit ihrer jeweiligen sozialen Stellung und vor allem ihrer Macht zusammenhingen. Als einen weiteren Meilenstein bezeichnet Mannheim die berühmt gewordene Idolenlehre des FRANCIS BACON, in der er »eine Vorahnung der modernen Ideologiekonzeption« ausmacht.3 In der Tat werden die Vorstellungen von Bacon in der Folgezeit tragend, [24]prägen sie doch nicht nur die einsetzende Entwicklung der neuzeitlichen Wissenschaft. Bacon zählt zu jenen Autoren, die durch ihre Rezeption einen maßgeblichen Einfluss auf das aufklärerische Denken und die Ausbildung des Ideologiebegriffes nahmen. Unter Seglern, Navigatoren, Abenteurern und aufkommenden Wissenschaftlern lebend, wollte er darauf drängen, die scholastischen Debatten aufzugeben und sich – in diesem Sinne ganz Brite – der empirischen Erforschung der Dinge zu widmen. In seinem wissenschaftlichen Werk wandte er sich gegen deduktive Methoden und forderte eine rational geplante Empirie, die dazu dienen sollte, die Natur zu beherrschen und die Bedürfnisse der Menschen auf eine wissenschaftliche Weise zu befriedigen – eine Wissenschaft, die den sich in Großbritannien bald entwickelnden Industrialismus stützen sollte.
Bacon erläuterte seine Methode des Erwerbs von Wissen in seinem Novum Organum, das 1620 erstmals veröffentlicht wurde. Mit diesem Titel spielt er auf Aristoteles’ logische Werke an, die als Organon bezeichnet wurden. Bacon wollte damit das Ende des Aristotelischen Einflusses andeuten. Der Mensch ist nach Bacon darauf angewiesen, die Natur und ihre Gesetze zu entdecken. Dies könne jedoch nicht deduktiv geschehen. Der Mensch müsse die Welt vielmehr mit seinen Sinnen betrachten, um induktiv daraus Erkenntnis abzuleiten. Bei dieser Betrachtung stellten sich dem Menschen jedoch zahlreiche Hindernisse in den Weg, die seinen Blick trübten – und genau diese Hindernisse bilden die »Idole« (Gestalt, Bild, Trugbild, Götzenbild), die Gegenstand Bacons wissenssoziologischen Überlegungen sind.
Idole oder »Vorurteile des Geistes« (»idola mentis«) sind die »Vorurtheilsgötzen, die falschen Begriffe«4, von denen sich die Menschen leiten lassen. Entgegen der vermeintlichen Gleichheit des menschlichen Geistes sind sie Folge der individuellen Vorurteile, dem begrenzten menschlichen sinnlichen Vermögen und dem Einfluss der Leidenschaften auf das Erkennen. Idole sind jene Hindernisse, die das Erkennen behindern oder entstellen.5 Berühmt geworden ist Bacons Unterscheidung verschiedener menschlicher »Idole« oder »Götzen-« oder »Trugbilder«:
Idola tribus sind die Trugbilder »des Stammes«. Damit meint er die Täuschungen, die in der Natur des Menschen verankert sind. Sie werden verstärkt durch den falschen Anspruch, der Mensch sei das Maß aller Dinge. In Wirklichkeit leidet der Mensch an geistigen Mängeln, die damit verbunden sind, dass er dazu neigt, das zu glauben, was ihm gefällt, und das was ihm nicht gefällt, nicht zu glauben.6
[25]Die idola specus, die Trugbilder der Höhle sind nicht in der Gattung Mensch begründet, sondern liegen im Individuum selbst: seine Vorurteile und geistigen Versäumnisse. Die Irrtümer treten auf, weil wir alle Grenzen der Erfahrung und des Wissens haben. Wir wohnen alle sozusagen in einer kleinen Höhle, haben alle eine besondere Perspektive. Unsere Gedanken sind von unserer jeweiligen Lebenssituation abhängig. Idole der Höhle liegen begründet in unserer Erziehung und den Gewohnheiten sowie in den persönlichen Umständen. Auch die zu starke Spezialisierung in den Wissenschaften, also »Fachidiotie«, kann eine ihrer möglichen Ursachen sein.
Andere Verzerrungen sind auf das Unvermögen der Sprache zurückzuführen, Gedanken richtig zu kommunizieren. Dieses Problem findet seinen Ausdruck in den »Idolen des Marktes« (idola fori): Sprache und Denken sind sozial determiniert. Sie können deswegen unsere individuellen Erfahrungen nicht ausdrücken. Außerdem werden sie häufig auch falsch gewählt. Manchmal werden Worte für etwas erfunden, was es gar nicht gibt, und die Begriffe für tatsächliche, existierende Objekte sind ungenau oder schlecht definiert. Verwirrung und Konfusion sind die Folge.
Schließlich erwähnt Bacon noch die Idole des Theaters (idola theatri). Darunter versteht er den Einfluss herkömmlicher Theorien. Besonders der die katholische Scholastik prägende Aristotelismus ist ihm ein verhasstes Beispiel für ein an vorgegebenen Dogmen orientiertes Denken. Irrtümer entstehen also aus traditionellen Meinungen und philosophischen Systemen. Gerade die Philosophen hätten versagt, das Wissen voranzubringen. Stattdessen trügen sie dazu bei, fiktive und »theatrale« Welten zu bauen. Einer ihrer größten Fehler bestehe nicht nur in der Übernahme von Gemeinplätzen, sondern auch in ihrer Methode: Sie übernähmen theoretische Vorannahmen, die alleine deduktiv überprüft würden. Empirische Daten, die den Vorannahmen nicht folgen, kämen so gar nicht in Betracht. Auch der volkstümliche Ausdruck dieses Denkens, der Aberglaube, sei eine Quelle von Irrtümern.
Aufgrund dieser Idole erscheint die soziale Ordnung für Bacon als etwas, das hoffnungslos der Autorität, der Tradition, der Rhetorik und irrationalen Meinungen unterworfen ist. Die Erkenntnis dieser Idole dient deswegen dem Zweck, wissenschaftliche, wahre Erkenntnis zu ermöglichen. Denn »die Idole und falschen Begriffe, welche vom menschlichen Verstand schon Besitz ergriffen haben und fest in ihm haften, halten den Geist nicht nur so besetzt, dass der Wahrheit der Zutritt nur schwer offen steht, sondern auch so, dass sie, wenn dieser Zutritt gewährt und bewilligt worden ist, bei der Erneuerung der Wissenschaften wiederkehren und lästig sind, solange sich die Menschen nicht gegen sie vorsehen und nach Möglichkeit verwahren«.7
Mit dieser Hoffnung einer Bekämpfung der Idole bildet er die Vorhut der aufklärerischen Philosophie, die sich zunächst vor allem im katholischen Frankreich ausbreitete und die Lehren von Bacon und seinen Nachfolgern übernahm. Sie ging davon aus, dass die gesellschaftliche Ordnung auf der vernünftigen Erkenntnis der Naturgesetze aufgebaut und gestaltet werden könnte. Das Fehlen der rationalen [26]Ordnung von Staat und Gesellschaft geht auch in ihren Augen auf Täuschungen zurück, die sie behinderten. Dabei wird anstelle von Bacons Begriff der täuschenden Idole in Frankreich der Begriff des »Vorurteils« (»préjugé«) bevorzugt. Der Kampf gegen »Vorurteile« bildet eines der zentralen Ziele der meisten aufklärerischen Kampagnen. Der Begriff des Vorurteils wird vor allem in Frankreich zum Fundament für die Erziehung der Menschen, für die Ordnung des Staates und die Kritik an der Religion, dem Christentum und der Kirche. Es sind vor allem drei »Vorurteile« bzw. Gründe für Vorurteile, die von den Aufklärungsphilosophen bekämpft werden: Idole, wie sie von Bacon schon genannt wurden, Interessen und der Betrug der Priester.
Beginnen wir mit dem Letztgenannten: Hatte sich Bacon noch vor allem gegen den Aberglauben gewandt, so richtete sich die Kritik der aufklärerischen »philosophes« gegen die im katholischen Frankreich noch erdrückende Vorherrschaft der katholischen Religion, die den Absolutismus rundherum stützte. Schon Machiavelli hatte ja Überlegungen darüber angestellt, welche Funktionen die religiösen Ideen der Bürger für die Machtausübung der Herrscher spielten. Auf derselben Linie hatte sich auch der berühmte britische Philosoph Hobbes bewegt. Seine an Bacon anschließende philosophische Forderung, Wissen komme nur auf Grund sinnlicher Erfahrung zustande, hatte sich direkt gegen die Vorherrschaft einer übersinnlich-jenseitigen Welt gerichtet. Die eigentlichen Quellen des Glaubens an höhere Wesen und Mächte seien Sorge und Furcht sowie die Unkenntnis der wirklichen Ursachen der Furcht. Auch für ihn bilden List und Betrug die Mittel, mit denen die Herrschenden das Volk in Unkenntnis halte. Die religiösen Vorstellungen stünden deswegen im Dienst des Erhalts der Macht. In Frankreich war VOLTAIRE eine der lautesten Stimmen, die den »mittelalterlichen Aberglauben« der Religion zur wichtigsten Ideologie erklärten, die es zu enthüllen gebe.8 Die Religion sei eine Niederträchtigkeit (»l’ infâme«, wie er es zu nennen pflegte), eine Irrlehre der Priesterschaft. (Und er bezog sich hier auch auf das wörtliche Verständnis der Bibel: Konnte es denn sein, dass die Sonne erst am vierten Tag erschaffen wurde.) Deswegen forderte er: »écrasez l’ infâme«, löscht die Religion aus! Eine solche Auslöschung erst würde es ermöglichen, dass die Menschenrechte erworben werden können, die er lange vor der französischen Revolution verkündete: Die Freiheit der Person, des Eigentums, des Gedankens, der Presse, die Gleichheit vor dem Gesetz, die Trennung von Kirche und Staat. Voltaire »ist der erste, der Ideologiekritik im großen Stil betreibt und bewusst auf die Entzauberung der geschichtlichgesellschaftlichen Welt hinarbeitet«.9 Allerdings zweifelt er, ob das Volk dieses Ziel selbst erreichen könne: Das Volk werde immer dumm und barbarisch bleiben. Allein eine Zentralgewalt könne eine gewisse Rationalität in das Gemeinwesen bringen.
Auch die so genannten Enzyklopädisten, die in Frankreich den Schatz des zeitgenössischen Wissens sammeln wollten, klagten die Religion an, den geistigen Fortschritt [27]und damit auch eine gute gesellschaftliche Ordnung zu behindern. So bemängelt Diderot, dass die Menschheit in zwei Gruppen zerfalle: eine kleine Elite mit Zugang zur Wahrheit auf der einen Seite und der Masse der Menschen auf der anderen Seite, die in der Dunkelheit des Unwissens lebten. Die Priester, so glaubte er, kannten zwar die Wahrheit, hielten sie jedoch zurück, um ihre Herrschaft über die Menschen zu erhalten. Die Täuschung also würde bewusst betrieben werden.
Bei dieser »Lehre vom Priester- und Herrentrug« handelte es sich keineswegs nur um eine Theorie kleiner intellektueller Kreise.10 Im Frankreich des 18. Jahrhunderts hatte sich die aufklärerische Religionskritik schon so weit durchgesetzt, dass sie Teil einer breiten bürgerlichen Weltanschauung geworden war, die keiner transzendenten Deutungen mehr bedurfte, um die Fragen nach dem Schicksal des Menschen und der Welt zu beantworten. Schon in der »religiösen Krise des 18. Jahrhunderts« ist der Glaube nicht mehr ein integrierter Bestandteil des Lebens einer wachsenden Zahl von Menschen, die für die Priester und ihre Predigten zu einem dauerhaften Problem werden. So schreibt ein Zeitgenosse: »Man sitzt in den Werkstätten über die Religion zu Gericht. Die Philosophie ist bis in die niedrigsten Volksschichten hinein verbreitet, und überall spielen sich die Menschen als Denker auf.«11 Selbst der Versuch der Kirche, die Gefahr der Ungläubigkeit durch die Schreckensszenarien der Hölle zu bekämpfen, stieß nicht mehr auf Widerhall. Wenigstens die gebildeten Laien ließen sich davon nicht mehr beeindrucken. Dazu war die Theorie des Priesterbetrugs schon zu weit verbreitet und akzeptiert. In ihrer kompakten Form findet man sie etwa bei Holbach ausformuliert: »Man kann nicht leugnen, dass [das Dogma vom Fortleben nach dem Tode] für diejenigen von großem Nutzen war, die dem Volk Religionen gaben und sich zu Priestern machten; es wurde die Grundlage ihrer Macht, die Quelle ihrer Reichtümer und die beständige Ursache von Blindheit und Schrecken, in denen sie die menschliche Gattung festhalten wollten.«12
Die Priesterbetrugstheorie wurde jedoch auch ausgeweitet. Hatte schon Machiavelli bemerkt, dass Macht immer einer ideologischen Stütze bedürfe, so formulierten nun die Enzyklopädisten eine Interessentheorie des Wissens: Den Priestern wurde vorgeworfen, ihr Wissen und ihre Macht zu missbrauchen, um ihre wirtschaftlichen Interessen wahrzunehmen. Aufgrund der wirtschaftlichen Interessenlage also würden Ideen benutzt, um die Wirklichkeit zu fälschen. (Nur die Philosophen sähen sie richtig.) Auch Holbach beklagt, die öffentliche Meinung verleite zu falschen Anschauungen von Ruhm und Ehre. Hinter diesen falschen Anschauungen stünde die gesamte Obrigkeit, die daran interessiert sei, dass einmal verbreitete Meinungen unbezweifelt bestehen blieben. Die Menschen würden von den Regierungen [28]blind gemacht. Ein wesentliches Mittel dazu sei die Religion. »Aus der Unkenntnis der natürlichen Ursachen entstanden die Götter«, ja die Grundlage der Religion bilde immer die Unwissenheit, deren Richtschnur die Einbildungskraft sei.13 So sehr sich diese Theorie auch auf die Religion konzentrierte, enthielt sie doch einen allgemeinen wissenssoziologischen Kern, den Holbach trefflich so formuliert: »Die Autorität hält sich gewöhnlich für verpflichtet, die einmal vorhandenen Meinungen beizubehalten. Die Vorurteile und die Irrtümer, die sie zur Sicherung ihrer Macht für notwendig erachtet, werden durch Gewalt, die sich nie nach der Vernunft richtet, aufrechterhalten.«14 Mit anderen Worten: Hinter den Anschauungen und Glaubensvorstellungen stehen die Machtinteressen besonderer sozialer Gruppen, die ihre Machtposition durch eben diese Vorstellungen und Weltanschauung verschleiern wollen. Wer also auf Ideen blickt, muss auch immer nach dem Cui bono fragen, also danach, für wen sie von Nutzen sind.
Während Bacons Theorie der Idole den Schwerpunkt auf die sozial, psychologisch und anthropologisch bedingten Formen der Selbsttäuschung legt, geht es der Aufklärung dagegen um (mehr oder weniger bewusste) Täuschung. Zwar hatte die Aufklärungsphilosophie auch andere Quellen für Täuschungen eingeräumt. Wie Bacon führen einige Autoren anthropologische Gründe an, die im menschlichen Wesen zu finden sind: Hobbes betrachtet das Begehren als Ursache für falsches Wissen, Locke dagegen sieht den Grund dafür in Unlustgefühlen und Egoismus und Helvétius in den Leidenschaften und Emotionen: »Die Leidenschaften sind in der Moral das, was in der Physik die Bewegung ist.«15 Im Unterschied zu diesen anthropologischen Erklärungen liegt die Theorie des Priesterbetrugs »der Lüge näher als dem falschen Bewusstsein«.16 Sie kommt dem Grundmuster einer Verschwörungstheorie gleich, in der den »Anderen« eine verborgene, täuschende Absicht unterstellt wird.
Die Interessentheorie stellt also eine Ausweitung der Priesterbetrugstheorie auf andere Kreise als nur die Priester dar. Der Bezeichnung ›Interessentheorie‹ wurde von Theodor Geiger vorgeschlagen, auf den wir später noch eingehen werden: »Die Interessentheorie besagt, dass die im Gefühls-, Trieb- und Willensleben wurzelnden Interessen-Motive die Gedankengänge des Menschen vom geraden Wege zur objektiven Wahrheit ablenken.«17
Die »Interessentheorie« bildet die Grundlage einer frühen Form der Ideologiekritik, die sich nicht nur mit der Religion, sondern mit den Ideen insgesamt beschäftigt. Von Bedeutung sind hier besonders die so genannten »Ideologen«, zu denen Etienne [29]Bonnet de Condillac, Antoine Louis Claude Destutt de Tracy und Claude Adrien Helvétius zählten. Der für die Wissenssoziologie und die Ideologienlehre so zentrale Begriff der »Ideologie« geht vermutlich auf Destutt de Tracy’s »Elements d’ideologie« (1801–1805) zurück. Destutt de Tracy selbst benutzte den Begriff der Ideologie noch in einem neutralen Sinn für eine Wissenschaft der Ideen, die er begründen wollte. Die Ideologie sollte das richtige Verfahren aufzeigen, das bei der Bildung von Ideen zu befolgen sei. Er schlug sogar vor, Ideen als Teil der Zoologie zu betrachten. Um das »Tier« Mensch wirklich erfassen zu können, sollte man seine geistigen Leistungen abmessen – wobei er natürlich von den religiösen Aspekten absah. Im Gefolge von Bacon argumentierten ›Ideologen‹ wie etwa Helvétius (in »De l’esprit«)18, dass Ideen auf Wahrnehmungen beruhten und deswegen die Philosophie ebenso wie die Wissenschaft auf empirische Beine gestellt werden sollte. Unsere Ideen sind seines Erachtens notwendigerweise Folgen der Gesellschaft, in der wir leben. Die Reaktionen der Menschen auf verschiedene Ereignisse und Tatsachen verändern sich, sobald wir den Standpunkt wechseln. Die Menschen nehmen Ideen und Vorstellungen an, die ihrer besonderen sozialen Position und beruflichen Stellung entsprechen. Wie Barth betont, wird Helvétius damit Vorläufer der ab dem 19. Jahrhundert so populären Milieutheorie, »indem er zu beweisen suchte, dass der Mensch nichts anderes ist als das Produkt der geistigen und sozialen Umwelt, in die er hineingeboren wird«.19
Ideen sind, so Helvétius, an die Interessen »besonderer Gemeinschaften« (Adel, Könighaus, Klerus) gebunden, die – ihren natürlichen Interessen zufolge – gegen das öffentliche Interesse handelten. Denn die Idee tritt nie rein auf, sie ist vielmehr mit der »amour de la puissance« verbunden, dem Verlangen der Menschen nach Macht. Das verzerrt sie zwar, führt aber auch dazu, dass Ideen sich in der Wirklichkeit entfalten können. Deswegen werden insbesondere ethische Ideen sozial determiniert. Die Gefühle der Vaterliebe, Mutterliebe und Kinderliebe etwa sind nicht nur das Ergebnis von Überlegung, sondern vor allem Frucht der Gewohnheit. Deswegen, folgert Helvétius, sind alle Gedanken und Begriffe der Menschen über die Vermittlung anderer erworben worden. Wie Holbach behauptet er sogar, dass unsere Arten zu denken von den Bedingungen unserer Existenz vollständig determiniert würden, weil das Denken und Handeln von den Interessen bestimmt werde, die sozial bedingt seien. Gegen die herkömmliche Auffassung der Philosophie, die diesen Einfluss übersehen hätte, setzten Helvétius und d’Holbach ein »soziologisches« Verständnis der Ideen, die Menschen in ihrem Verhalten leiten. Die für die Wissenssoziologie charakteristische Analyse des Einflusses der Gesellschaft auf die Ideen bildet damit einen zentralen Gegenstand ihrer Überlegungen.
Die Annahme einer sozialen Determination der Ideen führte auch zu einer folgenreichen aufklärerischen »Wissenspolitik«, die bis heute fortwirkt: »L’éducation peut [30]tout« – durch Erziehung vermag man alles zu ändern. Eine Voraussetzung für diese »Politik« bildet die Annahme, dass der Mensch und sein Erkenntnisvermögen eine passive Instanz ist, die man von außen her verändern könnte und sollte, um das Allgemeinwohl – also das Glück der größten Zahl – zu verbessern. Die Veränderung der Menschen könnte durch das Bewusstsein erfolgen. Zu diesem Zwecke müsste man sie nur richtig erziehen. Zwar sei alles Wissen interessenbezogen. Doch könnte die Veränderung der sozialen Umwelt eine Veränderung der Menschen bewirken. Denn, wie Hélvetius zeigt, stehen unterschiedliche Arten der Erziehung in einem Zusammenhang mit verschiedenen Arten der Regierung. Eine demokratische erziehe gute Menschen, eine despotische dagegen erziehe böse Menschen ohne Geist. Die Verbesserung der Erziehung führe deswegen zu politischem Fortschritt. Unter einem aufklärerischen Regiment könne, so die Hoffnung, auf diese Weise ein Menschentyp entstehen, der aufrecht sei, mutig, offen und loyal. Eine weitere Folge der aufklärerischen Philosophie für die »Wissenspolitik« war der Kampf gegen die Vorurteile. Er wurde zu einem wichtigen politischen Anliegen, ging man doch davon aus, dass Staat und Kirche an der Erhaltung der Vorurteile interessiert waren.
Aufgrund dieses wissenspolitischen Veränderungswillens verwundert es nicht, dass der Versuch der Ideologen, eine »Wissenschaft der Ideen« zu begründen, auf den erbitterten Widerstand der Herrschenden stieß, in diesem Falle besonders Napoleons. Napoleon nämlich war es, der für die Verunglimpfung des Begriffes »Ideologie« war. In einer scharfen Polemik bezeichnete er die »Ideologen« als unrealistische und närrische Idealisten – eine Assoziation, die dem Begriff der Ideologie noch heute anhaftet. Es ist bezeichnend, dass dieser Begriff selbst in einer ideologischen Debatte geprägt wurde. Denn mit dem Versuch der Ideologen, eine Veränderung der Welt durch Bildung zu bewirken, kamen sie Napoleon und seiner imperialistischen Machtpolitik in die Quere. Der Konflikt hat noch breitere soziologische Gründe, ist er doch mit dem Aufkommen des europäischen Bürgertums verbunden. Mit dem Zerfall der mittelalterlichen Ständegesellschaft kam es zu einem Austausch von Ideen, der parallel zur Entwicklung der kapitalistischen Geldwirtschaft stand. Bildung, die bisher ein Privileg der Priester und Mönche gewesen war, wurde säkularisiert und ging auf eine neue humanistische Gelehrtenschicht über. Das Ideologieproblem ist damit auch Ausdruck der Emanzipation des europäischen Bürgertums, das sich nun gegen die traditionellen Gelehrten religiöser Provenienz richtete – und gegen diejenigen, die das von den religiösen Lehren legitimierte politische System vertraten.
2 | Revolution, Restauration und der Geist in der Geschichte |
Die wissenssoziologische Betrachtungsweise setzt zwar mit dem bürgerlichen Aufbegehren ein, das auch das »bessere«, wissenschaftliche Wissen für sich beansprucht, doch wäre es ein Irrtum, sie wegen ihrer Religionskritik, wegen ihrer Beobachtung der Interessenbedingtheit des Wissens und wegen ihres Versuches, Änderungen [31]durch Bildung zu erzeugen als durchgängig »progressiv« zu charakterisieren. Neben der bisher angeführten – man könnte sagen: ›ideologiekritischen‹ – Tradition zieht sich in die Wissenssoziologie auch eine etwa gleichzeitig entstehende Tradition hinein, die manche als konservativ bezeichnen. Diese Tradition zeichne sich, so etwa Stark20, dadurch aus, dass der primitive Mensch der Wahrheit näher sei oder dass Wahrheit sozusagen organisch wachsen müsse. Ich halte diese Charakterisierung für unglücklich, geht sie doch von der Voraussetzung aus, dass der Gang der Geschichte ein klares Ziel habe, an dem sich das Progressive und das Konservative bemessen lassen. Diese Vorstellung gibt es in der Wissenssoziologie tatsächlich, doch sie bildet lediglich eine Linie, der ich mich in diesem Abschnitt widmen möchte. ›Konservativ‹ und ›progressiv ›unterscheiden sich dann beispielsweise nur durch die inhaltliche Füllung des geschichtlichen Prozesses: als teleologischer Prozess oder als zyklisches Modell. Daneben kennt die Vorgeschichte der Wissenssoziologie umfassende geschichtsphilosophische Konzeptionen, die nicht dieser Charakterisierung entsprechen und dennoch die Einschätzung und Beurteilung des Verhältnisses von Wissen und Gesellschaft teilweise bis heute leiten. Solche geschichtsphilosophische Konzeptionen betrachten die Entwicklung des Wissens als einen umfassenden historischen Prozess, wobei das Wissen selbst als eine Triebfeder dieses Prozesses gilt. Diese Vorstellung weitet sich vor allem nach der französischen Revolution und der Restauration aus. Die bürgerliche Aufklärung hatte Denken und Wissen als Merkmal des Menschen schlechthin und als Grundlage für die Planbarkeit der Gesellschaft ausgewiesen. Obwohl sich das Bürgertum politisch noch nicht als entscheidende Macht breit durchsetzen konnte und wir zum Beginn des 19. Jahrhunderts eine Phase der politischen Restauration erleben, weitete sich das Weltbild des Bürgertums (wie auch der bürgerliche Industrialismus) rasant aus. In der Folge entstanden nun Schemata der Abfolge menschlichen Denkens, die die damalige Zeit als eine eigene (häufig als Endstufe angesehene) Phase erkennen. Wissenssoziologisch relevant sind diese Konzeptionen nicht nur, weil sie Denken und Wissen als historisch variabel ansehen, sondern auch weil das gesamte Verhältnis von Sozialem und Geistigem als historisch wandelbar betrachtet wird.
In einer ausgeprägten und soziologisch bedeutsamen Form finden sich solche im historischen Materialismus von Marx, in den evolutionistischen Vorstellungen Durkheims oder im Historismus Max Webers. Ihre entscheidende Prägung geht aber auf einen Autor zurück, der lange vor der Restauration tätig war: Giambattista Vico.21 Vico, so darf man sagen, war einer der Ersten, der die sehr moderne Idee hatte, dass [32]die Kultur ein sozial konstruiertes Gebilde sei. In der Tat formuliert Vico die These, »verum ipsum factum«: Die Wahrheit ist von uns selbst gemacht – er geht, in den Worten von Max Adler, davon aus, »dass die gesellschaftliche Welt ganz gewiss von Menschen gemacht worden ist« (eine These, die später als »konstruktivistisch« bezeichnet werden wird). Allerdings muss man einräumen, dass Vicos Radikalität in den Grenzen theologischer Vorstellungen lag, ging er doch nach wie vor davon aus, dass das menschliche Handeln letzten Endes doch immer der göttlichen Vorsehung folge.22
Auf dieser Grundlage entwickelte er in seiner Scienza Nuova (»Neue Wissenschaft«) eine Methode zur Erforschung der menschlichen Geschichte. Während die Naturgeschichte der menschlichen Kontrolle nicht direkt zugänglich sei und unabhängig vom Menschen bestehe, sei die menschliche Geschichte seine eigene Schöpfung. Deswegen schlägt er vor, eine wichtige erkenntnistheoretische Unterscheidung zu treffen zwischen natürlichen Gegenständen, die wir nur von außen kennen, und menschlichen Tatsachen, die wir sowohl von außen wie von innen kennen. Weil wir die gesellschaftlich-geschichtliche Welt selbst gemacht haben, sind für uns auch »ihre Prinzipien in den Modifikationen unseres eigenen menschlichen Geistes auffindbar«.23 Wir können diesen Dingen also auf den Grund gehen, weil wir sie selbst geschaffen haben.24 Da die Gesellschaft ein Ergebnis menschlicher Handlungen ist, können wir sie sogar besser verstehen als die Abstraktionen, die wir vornehmen müssen, wenn wir die Natur verstehen wollen.
Diese Unterscheidung wird später noch mehrfach eine Rolle spielen. Sie bildet den Grundstein für eine Wissenschaft menschlichen Handelns, die davon ausgeht, dass die vergangene wie die gegenwärtige, ja die gesamte menschliche Gesellschaft erforscht werden kann. Nach Vico sollte man etwa beim Studium der Römischen Geschichte nicht einfach die Chronik der Ereignisse betrachten und daraus Folgerungen für die Römische Gesellschaft ableiten. Aufgabe der Wissenschaft der sozialen und historischen Welt ist es vielmehr, sich in die Kultur der Epoche einzufühlen, die in Handlungen, Gedanken, Ideen, religiösen Glaubensvorstellungen, Mythen, Normen und Institutionen besteht und die insgesamt ein Ergebnis des menschlichen Geistes ist. Diese ›ideellen« Elemente (die, wie wir gleich sehen werden, immer auch sprachliche Formen annehmen) stehen in enger Verbindung mit den äußeren Bedingungen einer gegebenen Epoche und einer bestimmten Gesellschaft, in der sie stattfinden. So können wir die poetischen und mythologischen Weisheiten primitiver Völker nicht [33]mit dem rationalen und präzisen Wissen fortgeschrittener Zivilisationen vergleichen, ohne die Kontexte zu berücksichtigen, in denen sie bestehen. Sie lässt sich nur verstehen, wenn wir uns in den spezifischen Sinn ihrer Kulturen hineinversetzen.
Bei diesem Hineinversetzen handelt es sich jedoch nicht um einen einfachen Vorgang, denn die menschliche Natur ist nicht ein für allemal feststehend; auch sind die Institutionen keine zeitlosen Größen, sondern verändern sich historisch. Die historischen Veränderungen nun erfolgen keinesfalls zufällig, sondern weisen eine Regelmäßigkeit auf. Weil diese Regelmäßigkeit die Geschichte auszeichnet, die ja ein Produkt menschlichen Handelns ist, kann sie wiederum als ein Ausdruck der allgemeinen menschlichen Geistesverfassung angesehen werden.
Diese historische Regelmäßigkeit folgt, so Vico, im Kern einer zyklischen Ordnung: Die menschliche Geschichte weist fortwährend Aufstieg und Abstieg auf, sie ist ein Ab und Auf von »corsi e ricorsi«. Der Grund für diese zyklische Ordnung liegt in der parallelen Entwicklung von menschlicher Natur und menschlicher Gesellschaft: Sowohl Menschen wie Gesellschaften entwickeln ihr Wissen über sich selbst im Laufe der Zeit von der Barbarei zur Zivilisation. Dabei werden die Gesellschaften immer komplexer, und auch die menschliche Natur wird vielfältiger. Beides manifestiert sich in den Veränderungen der Sprache, der Mythen, in Folklore, Wirtschaft usw. Kurz: der soziale Wandel bewirkt einen kulturellen Wandel. Das eine führt notwendigerweise zum anderen und schafft Strukturen und Grenzen, in denen es wiederum operieren kann. Doch dieser Prozess der Wechselwirkung ist nicht endlos. Während die primitive Kultur zur Zivilisation führen mag, enthält diese den Samen ihres eigenen Zerfalls, der unausweichlich ist und der Kultur ebenso wie dem menschlichen Versagen zuzuschreiben ist. Geschichte ist, so meint Vico, tatsächlich das Auftreten und der Zerfall von Zivilisationen.
Jede einzelne Phase des Aufstiegs weist nach Vico drei Stufen auf:
1 Das Zeitalter der Götter: Alle Macht liegt in der Hand der Götter und der Religion. Die Menschen sind roh, und ihre Sprache ist anschaulich.
2 Das Zeitalter der Heroen: Strenge Sitten der Göttersöhne herrschen über die Menschen, deren Sprache sich zur Poesie entwickelt.
3 Das Zeitalter der Menschen: Zum vollen Selbstbewusstsein gelangt, lösen sich die Menschen von Götter- und Heroenkult; sie vertrauen auf die eigene Fähigkeit, die durch eine prosaische Sprache gestützt werden.
Wie schon erwähnt, spielt die Sprache für Vico eine bedeutende Rolle. Denn aus der historischen Wandelbarkeit folgt, dass Wissen, Ideen, Werte und andere kulturelle Elemente einer jeden historischen Gesellschaft sich nur in ihren eigenen Begriffen ausdrücken lassen. Diese Begriffe wiederum sind wesentlich an die Struktur und den Gehalt ihrer Sprache gebunden, da unser Verständnis der sozialen Ordnung von den Begriffen, Ideen und der Sprache abhängt, die wir verwenden. Eine Sprache beinhaltet für Vico nicht nur den »Geist« einer Epoche; sie ist auch Erzeugerin sozialer Ordnung und sozialen Wandels – ein Gedanke, den wir später bei Herder [34]finden.25 In einer berühmten Sentenz behauptet Vico: Der Geist wird vom Charakter der Sprache geprägt, nicht die Sprache von den Geistern derer, die sie sprechen.
Die von Vico hervorgehobene Bedeutung der historischen Sprachen für das Wissen und Denken wird von Herder wieder aufgenommen. Johann Gottfried Von Herder26 argumentierte, dass die Sprache (und damit auch die Dichtung) ein unmittelbarer Ausdruck des Entwicklungsstandes einer Gesellschaft (bzw. eines »Volkes«, wie es zu diesen Zeiten noch heißt) und seiner natürlichen Gegebenheiten sei. Die jeweilige Sprache bilde die wesentliche Grundlage für die Ausbildung einzelner Völker und Nationen.27 Der Grund dafür liege in der mangelhaften Instinktausstattung des Menschen, die durch die Erfindung der Sprache kompensiert werden könne. Aber auch andere kulturelle Formen dienten diesem Zweck. Religion, Kunst und Wissenschaft existierten nicht in einem absoluten Sinn, sondern jeweils in ihrer besonderen kulturellen Ausprägung. Dies zeigt Herder beispielhaft an der Bibel auf. Die zu seiner Zeit aufkommende rationalistische Bibelkritik begann, die »objektiven« Fehler und Lücken der Bibel zu enthüllen, wie etwa die Existenz des Lichtes vor der Erschaffung der Sonne. Diese Kritik, so wandte Herder jedoch ein, könne nie die Lehren der Bibel erreichen. Anstatt sie an der Logik zu messen, sollte sie in ihrem besonderen kulturellen Entstehungskontext betrachtet werden. Die Bibel nämlich drücke die Ansichten eines Hirtenvolkes aus: Für die Beduinen sei eben das Licht tatsächlich vor der Sonne da – in Gestalt der Dämmerung.
Herder bringt hier zweifellos den zentralen wissenssoziologischen Gedanken der »Doxa« zum Ausdruck, spiegeln doch die Anschauungen des jüdischen Volkes nicht nur ihre soziale Ordnung, sondern auch ihre Lebensform wider. Herder entwickelte daneben auch andere Gedanken, die später noch berühmte Früchte tragen sollten. Zum einen wandte er sich gegen die (schon von Voltaire vertretene) Auffassung, dass der primitive Geist dem modernen unterlegen sei. Wie später Lévy-Bruhl betonte er, dass zwischen dem Primitiven und dem Modernen kein Verhältnis von Reife respektive Unreife, Irrationalität oder Rationalität oder gut und schlecht herrsche. [35]Beide stellten vielmehr unterschiedliche Arten des Denkens dar, von denen jede ihre eigenen Vorzüge, Möglichkeiten, aber auch Begrenzungen habe: So sehr der moderne Geist in der Lage sei, rational zu planen, Technologien zu entwickeln und abstrakte Probleme zu behandeln, so habe er doch die Fähigkeit verloren, konkrete Erfahrungen zu machen: Die Welt sei ihm ein abstraktes Gebilde und habe ihre Farbe verloren. Der Primitive habe ein sehr viel unmittelbareres Verhältnis zur Welt, eine Gabe der Intuition, die es ihm erlaube, das Ganze zu erfassen.
Folgenreich war auch seine Auffassung, dass jede Gesellschaft, so unterschiedlich die Menschen in ihr auch sein mögen, eine geistige Einheit bilde. Es gebe also so etwas wie eine Art Gemeingeist, der auch als Volksgeist bezeichnet wurde. Dieser Begriff geistert noch lange durch das 19. Jahrhundert, und man wird darin unschwer einen Vorläufer dessen erkennen, was Durkheim später als »kollektives Bewusstsein« bezeichnen wird. Volksgeist wird ein geistiges Produktionsprinzip, eine Art »Gesamt-Ich« genannt, das sich in einzelnen Nationen je unterschiedlich ausdrückt, und zwar in ihren verschiedenen Sprachen, Sitten, Gebräuchen und in ihrer Rechtsordnung. Ursprünglich von Vico formuliert, nahm der Begriff im 18. und 19. Jahrhundert (etwa bei Justus Möser und Adam Müller) propagandistische Züge an: Er diente dazu, die Besonderheit des deutschen Volkes aus seinen kulturellen Gemeinsamkeiten heraus zu begründen. Er klingt im heute noch gebräuchlichen »Nationalcharakter« mit. Auch bei Hegel, auf den wir gleich eingehen werden, tritt der Begriff auf. In seinen Augen bringen verschiedene Nationen zum Beispiel unterschiedliche Rechtssysteme hervor – was in ihrem Volksgeist verankert sei. Diese Vorstellung wird von der ›historischen Rechtschule‹ aufgenommen (dort finden wir auch den Begriff des Volksbewusstseins, das etwa bei dem berühmten preußischen Juristen Savigny die gemeinsamen Überzeugungen eines Volkes bezeichnet). Als ein Ausdruck des Volksgeistes gilt etwa der Umstand, dass das germanische Rechtssystem eine Bevorzugung organischer Beziehungen aufweist, die sich in Genossenschaften äußern. Der romanische und angelsächsische Volksgeist dagegen bevorzuge das Naturrecht, den ökonomischen Liberalismus und den Individualismus. Die später von Wilhelm Wundt begründete Völkerpsychologie übernimmt diesen Begriff, verändert aber seine Bedeutung. Der Volksgeist ist für Wundt keine übergeordnete Größe mehr, sondern etwas, das in den Individuen verankert ist. Für ihn bildet dagegen die Volksseele ein »Gesamtbewusstsein«, das in der Sprache, in Mythen und Sitten zum Ausdruck komme.
Das historische Stufenmodell, also Vicos Dreistadiengesetz der Dekadenz, wurde auch in der Aufklärung aufgenommen, erfuhr jedoch eine andere Betonung: Die Aufklärung sieht den Gang der Geschichte nicht mehr als zyklisch, sondern als linearen Fortschritt. Eine solche lineare historische Entwicklung des Geistes hatte schon Turgot 1750 in seinem »Discours sur les progrès successifs de l’esprit humain« behauptet, in dem die Idee des Fortschritts zum integralen Prinzip der Geschichtsinterpretation gemacht wurde. Die Geschichte entfalte sich aus einem ersten theologischen Stadium zu einem zweiten metaphysischen Stadium und münde schließlich [36]in ein drittes positives Stadium, das von einer wissenschaftlichen Orientierung geprägt sei. Turgot ist damit einer der ersten, der sich die Geschichte als eine aufsteigende Entwicklung vorstellt, in der die Menschen zur selbstverantworteten innerweltlichen Vollendung empor gelangen. Die Menschheit erscheint dabei wie ein einziges Subjekt, das an seiner Vervollkommnung arbeitet: seine Natur entfaltet, seinen Geist aufklärt, seine Gefühle ausweitet und reinigt, das weltliche Los verbessert, Tugend, Freiheit und Wohlstand mehrt.
Einflussreicher noch war Condorcets »Esquisse d’un tableau des progrès de l’esprit humain«, das mitten in der französischen Revolution im Jahre 1793 geschrieben wurde. Manche behaupten, dass hier zum ersten Mal ein klares Verhältnis zwischen sozialen Strukturen und denen des Denkens erkannt worden sei.28 Denn für Condorcet steht der menschliche Geist in einem perfekten Verhältnis zur sozialen Wirklichkeit. Dieses Verhältnis wirft jedoch keinerlei Probleme der Täuschung oder des Irrtums auf, da der Fortschritt des menschlichen Geistes, der Fortschritt des Wissens, der Fortschritt der Wissenschaft und der der Menschheit verschiedene Aspekte derselben Bewegung darstellten, die vom Geist angetrieben werde.29 Der Fortschritt der Wissenschaften, so Condorcet, sicherte den Fortschritt der Erziehung, die wieder die Wissenschaft voranbringe. Dieser gegenseitige Einfluss sei eine der mächtigsten und wirksamsten Ursachen für den Weg zur vollkommenen Menschheit.30
Während Voltaire, Turgot und Condorcet die aufklärerischen Gedanken mit der Geschichtsphilosophie zur Fortschrittsvorstellung verbanden, wurde Vico ab den 1820er-Jahren zu einer wichtigen Inspiration der Gegenreaktion auf die Aufklärung. Autoren wie de Maistre, Bonald oder Mme de Stäel bezogen sich auf ihn, weil sie sich gegen die einseitige Verdammung der Religion und den rein rationalistischen Zugang zur Gesellschaft durch die Aufklärung wehrten. Vico wurde zu so etwas wie der Leitfigur der französischen Romantik – und nahm eine ähnliche Rolle ein wie Hegel in Deutschland.31
Auf eine besondere und folgenreiche Art wurde die Beziehung zwischen dem Denken und der Geschichte von Georg Wilhelm Friedrich Hegel formuliert.32 Hegels Grundgedanke der Dialektik geht von einem ursprünglichen Gegensatz zwischen Gedanken und Wirklichkeit aus. Da der Mensch zur Selbsterkenntnis fähig ist, also sich selbst zum Gegenstand der Erkenntnis machen kann, ist er in der Lage, aus dem Gegensatz von Gedanke und Wirklichkeit eine Wirklichkeit zu machen, [37]die vom Gedanken geleitet wird.33 Deswegen kann Hegel im menschlichen Zusammenleben und in den Manifestationen menschlichen Tuns, wie Kunst, Religion und Wissenschaft, auch einen Ausdruck dessen sehen, was er den Geist nennt.
Wegen der »Geistdurchdrungenheit« der Wirklichkeit wird sein Ansatz auch als idealistisch bezeichnet. Der Kern dieses Idealismus besteht darin, dass die äußere Wirklichkeit nicht als selbstgenügsam gilt, sondern durch geistige Bedeutungen, durch Begriffe geleitet wird und somit das Geistige aufnehmen oder ausdrücken kann. Denn indem der Mensch seine Begriffe in die Tat umsetzt (und dies keineswegs nur zweckrational), »objektiviert« er sie – und sich selbst als Handelnden – in der Geschichte und kann sie (und sich) in dem, was er objektiviert hat, erkennen. Es gibt also eine Art »objektiven Geist« – etwa den Volksgeist – die Selbsterkenntnis des Menschen durch das, was er erzeugt hat.
Dieser objektive Geist nun realisiert sich in der Gesellschaft bzw., wie Hegel betont, in der Geschichte: Der Geist drückt sich in sozialen Formen aus und wird dadurch auch in der Sozialität erkennbar. Indem der Mensch seine sozialen Beziehungen zum Beispiel in rechtlichen Formen, in religiösen Gestaltungen oder im Staat objektiviert, kann er auch seine eigenen Beziehungen als selbst produziert erkennen. Dem Recht und dem Staat schreibt Hegel dabei eine besondere Rolle zu, da Recht und Staat für den Zusammenhang der gesellschaftlichen Handlungen verantwortlich seien. Auch die Religion ist für ihn durchaus eine der Formen, in denen der objektive Geist erscheint. Allerdings handelt es sich bei ihr um eine eigenartige Form: Sie ist eine List der Vernunft, mit der der Weltgeist die Akteure dazu bringt, das zu tun, was an der Zeit ist, auch wenn sie meinen, etwas anderes zu tun.
In der historischen Entfaltung solcher sozialen Formen komme der Geist immer mehr zu sich selbst – und das gelinge ihm, indem er die Formen wechsele. Es sei nun allerdings nicht die Form der Religion, die seine zeitgenössische bürgerliche Gesellschaft integrieren könne, sondern vielmehr der Staat, da in ihm der Wille zur objektiven Wirklichkeit werde. In ihm finde die zerstückelte und individualisierte bürgerliche Gesellschaft ihre Einheit. »Das Prinzip der modernen Staaten hat diese ungeheure Stärke und Tiefe, das Prinzip der Subjektivität sich zum selbstständigen Extreme der persönlichen Besonderheit vollenden zu lassen und zugleich es in die substantielle Einheit zurückzuführen und so in ihm selbst diese zu erhalten.«34 Hegel hat somit als einer der ersten den Unterschied zwischen Staat und Gesellschaft erkannt und zugleich den Staat auf eine Weise idealisiert, wie sie gerade für die deutsche Geschichte tragisch werden sollte.
Die besondere geschichtsphilosophische Wendung Hegels besteht darin, dass er die Verwirklichung des Geistes als eine aufsteigende, fortschreitende Linie sieht. Zwar hat [38]jede historische Gesellschaft ihren eigenen »Zeitgeist«, der alle Wissensvorgänge leitet, die zu dieser Zeit ablaufen. Aus diesem Grunde ist auch jeder Gedanke zu seiner Zeit vernünftig, auch wenn er aus dem Blickwinkel einer späteren Zeit als unvernünftig erscheinen mag.35 Die Geschichte insgesamt aber stellt für ihn eine allmähliche Annäherung an die Vernunft dar. Sie lässt sich deswegen als Rationalisierung verstehen. Es ist »der ungeheure Überschritt des Innern in das Äußere, der Einbildung, der Vernunft in die Realität, woran die ganze Weltgeschichte gearbeitet und durch welche Arbeit die gebildete Menschheit die Wirklichkeit und das Bewusstsein des vernünftigen Daseins, der Staatseinrichtungen und der Gesetze gewonnen hat«.36
Historisch hatte auch schon das Christentum dazu beigetragen. Eine revolutionäre Wende nimmt die Entwicklung des Geistes aber, wenn die Vernunft beginnt, sich in den Sozialgebilden zu offenbaren, wie dies in der französischen Revolution geschieht. Werte und Normen erscheinen dem Menschen nun nicht mehr als etwas religiös Begründetes oder Jenseitiges. Vielmehr ringen sich die Menschen dazu durch, die soziale Welt nach dem Muster der eigenen Vernunft gestalten zu wollen. Dieser Versuch führt nicht nur zur Freiheit, zur Emanzipation der Subjekte, also des subjektiven Geistes. Sie hat auch zur Folge, dass die Handlungen der Subjekte zufällig werden, da sie nur noch ihre eigenen partikularen Ziele verfolgen, ohne in ihren Handlungen jedoch das Allgemeine des menschlichen Geistes entdecken zu können. Dieses besondere Problem der Partikularität wird für Hegel erst mit dem Staat behoben: Hier findet die Weltgeschichte ihr Ziel, denn hier gelangt der kollektive Geist nicht nur zum Wissen, was er ist. Er macht dies auch gegenständlich in einem für alle Individuen als Orientierung und gemeinsame »Objektivierung« zugänglichen und als Handlungsziel leitenden Gemeingebilde.
Hegels Geschichtsphilosophie ist eigentlich eher eine Vereinnahmung des Sozialen unter den Geist bzw. das Wissen, wird doch die Vernunft zum organisierenden Prinzip der Wirklichkeit. Aber genau dieser Gedanke zeichnet ja den Idealismus aus: dass das Wissen die sozialen Zusammenhänge leiten kann. Für die Entstehung der Wissenssoziologie ist dieser Gedanke von Bedeutung, weil er das Verhältnis von Gesellschaft und Wissen als etwas historisch Wandelbares fasst. Hegel treibt diesen Gedanken noch auf die Spitze, indem er das Soziale (wie etwa den Staat) zu einer Form des Geistigen erklärt: »Der Staat ist als die Wirklichkeit des substantiellen Willens, die er in dem zu seiner Allgemeinheit erhobenen besonderen Selbstbewusstsein hat, das an und für sich Vernünftige. Diese substantielle Einheit ist absoluter unbewegter Selbstzweck, in welchem die Freiheit zu ihrem höchsten Recht [39]kommt, sowie dieser Endzweck das höchste Recht gegen die Einzelnen hat, deren höchste Pflicht es ist, Mitglieder des Staats zu sein.«37
Auch wenn damit die Vorstellung der Gestaltung des Sozialen durch das Denken kaum mehr überboten werden kann, sollten wir uns doch noch einem weiteren geschichtsphilosophischen Modell zuwenden, das für die Soziologie eine besondere Rolle spielt. Auguste Comte38 setzt an einem Modell an, das dem Hegels durchaus ähnelt. Auch er geht nämlich von der historischen Fortentwicklung nicht nur der Gesellschaften, sondern auch des Wissens in den Gesellschaften aus – und zwar in einer ähnlichen Richtung wie bei Hegel: Es gibt ein »Gesetz des notwendigen Kulturfortschrittes«. Diese Idee des Fortschritts verwirkliche sich in drei Perioden, die er in seinem berühmten Dreistadiengesetz formuliert.
Die Entwicklung menschlicher Gesellschaften vollzieht sich nach einem dreigeteilten Muster, das sehr an die Stadien bei Vico erinnert. Comtes Fassung weist jedoch drei Unterschiede zu dem Modell Vicos auf: Zum einen vertritt er den Fortschrittsgedanken. Zum Zweiten ist es beachtenswert, dass es auch hier (ähnlich wie bei Hegel) das Denken ist, das sich verändert. Die Geschichte menschlicher Gesellschaften ist in diesem Sinne die Geschichte der menschlichen Wissensformen bzw. Denkweisen. Drittens schließlich identifiziert Comte andere Phasen von Denkweisen als Vico.
Die Phasen der Denkweisen oder Wissensformen der drei Stadien bei Comte lassen sich grob umreißen: Im ersten Stadium erklärt der Mensch die Erscheinungen, indem er sie Wesen und Kräften zuschreibt, die dem Menschen ähneln. Im zweiten Stadium beruft er sich auf abstrakte Wesenheiten, wie etwa die Natur. Und im dritten Stadium beschränkt sich der Mensch darauf, die Erscheinungen zu beobachten und die Regeln festzustellen, die zwischen ihnen bestehen. Hatte die Phantasie in der theologischen und metaphysischen Phase noch das Übergewicht, so ist es nun die empirische Beobachtung. Jede dieser Phasen kann wieder in unterschiedliche Denkformen unterteilt werden. So setzt das theologische Stadium mit dem Fetischismus ein, der alle Dinge, die toten wie die lebenden, zu beleben sucht und auf eine dem Menschen ähnelnde anthropomorphe Weise fasst.39 Darauf folgt der Polytheismus, der in den Monotheismus übergeht und schließlich das Ende der theologischen Phase einläutet. Denn nun wird Natur nicht mehr als willkürlich angesehen, da ein Gott im Hintergrund steht, der Gesetzmäßigkeiten begründet. Das metaphysisch-abstrakte Stadium zeichnet sich dadurch aus, dass die bewegenden Ursachen nicht mehr der Transzendenz zugeschrieben werden, sondern als weltlich-abstrakte Prinzipien gelten, wie etwa die »Substanz« oder die »Vernunft«. Grundlage der Gesellschaft ist [40]nun der Rechtsvertrag. Es beginnen sich auch einzelne positive Wissenschaften auszubilden, wie etwa die Astronomie, die Physik oder die Biologie, doch wird das Soziale noch nicht als Gegenstand der Wissenschaft behandelt. Zu Comtes Lebzeiten nun ist es der Geist der positiven Wissenschaften, der sich mehr und mehr durchsetzt und sich durch die Methode der Beobachtung, das Aufstellen von Gesetzen und das Experiment auszeichnet. Immer mehr Gegenstände, die bislang der Theologie und Metaphysik vorbehalten waren, darunter auch das Soziale, geraten in den Griff dieser positiven Wissenschaften, die damit eine eigene historische Phase begründen.
Ihre wissenssoziologische Relevanz gewinnt die Phasenbildung zum einen dadurch, dass Denken und Wissen, ja die Vernunft insgesamt als historisch variabel erscheinen. Es gibt keine durchgängige menschliche Vernunft. Vielmehr müssen verschiedene Zeiten und verschiedene Gesellschaften im Rahmen ihrer eigenen Rationalität verstanden werden. Wissenssoziologisch daran ist zum anderen, dass Comte die Entwicklung des Denkens auf soziale Kategorien und auf die in Frankreich schon seit längerem kursierende »Klassentheorie« bezieht.40 Der Kulturzustand entspricht in seinen Augen »notwendig de(m) Zustand der sozialen Organisation, sowohl der geistlichen wie der weltlichen«41, da er den Zweck der gesellschaftlichen Handlungen determiniert und die sozialen Kräfte schafft, entwickelt und entsprechend formt. Comtes Soziologie ist eine »Wissenschaft des Verstandes, weil die Art des Denkens und die geistige Tätigkeit stets eng mit dem sozialen Kontext verflochten sind. […] Der Geist ist sozial und historisch; der Geist jeder Epoche und jedes Denkens muss in einem sozialen Rahmen gesehen werden. Um verstehen zu können, wie der menschliche Geist funktioniert, muss man diesen Rahmen kennen«.42
Das lässt sich an den einzelnen Phasen veranschaulichen: Als Muster für das theologische Zeitalter etwa schwebt Comte das Mittelalter vor, das er als theologisch und militärisch charakterisiert. Zur katholischen Denkauffassung gesellte sich die militärische Kunst, die bei den feudalen Kriegsherren ein hohes Ansehen genoss. Die zu Comtes Zeiten im Entstehen befindliche wissenschaftliche und industrielle Gesellschaft zeichnet sich dagegen nicht nur durch wissenschaftlich positives Denken und theoretisches Wissen aus. Als neue soziale Kategorie treten Wissenschaftler an die Stelle von Priestern und Theologen und erben deren geistige Macht. Dies gilt insbesondere für diejenigen, die über umfassendes positives Wissen verfügen. Das anbrechende Zeitalter setzt auf »Männer, welche, ohne ihr Leben der speziellen Pflege einer bestimmten Beobachtungswissenschaft zu widmen, über die Fähigkeit [41]wissenschaftlichen Denkens verfügen und der Gesamtheit der positiven Wissenschaft ein hinreichend vertieftes Studium gewidmet haben«.43
Comte räumt zwar ein, dass es in allen Epochen positive Wissenschaften gegeben habe. Im Grunde hätte es lediglich eine Periode gegeben, in der nur eine Denkweise vorherrschte – eben der Fetischismus. Die Vorherrschaft einer Denkweise werde erst wieder mit dem Positivismus erreicht. Allerdings vollziehe sich die Entwicklung der Wissenschaften nicht in allen Disziplinen gleichzeitig. So habe schon zu Comtes Lebzeiten die Mathematik den höchsten Grad an Positivität erreicht, gefolgt von der Astronomie. Auf die Physik folge die Chemie und die Biologie bzw. Physiologie. Erst dann sei die Soziologie an der Reihe. Denn die Soziologie habe es (im Vergleich zu den anderen Wissenschaften) mit dem wohl komplexesten Gegenstand zu tun: der Gesellschaft. Ihre besondere Stellung leite sich aus der Breite der Methoden ab, mit der sie arbeitet. Genüge der Mathematik noch die Logik, so bedürfe die Mechanik oder die Geometrie zusätzlich der Beobachtung. Bei der Physik werde überdies zusätzlich das Experiment erforderlich; die Klassifikation komme bei der Chemie dazu und der Vergleich bei der Biologie. Die Soziologie schließlich nutze all die genannten Methoden und setze darüber hinaus noch den historischen Vergleich ein. Sie erfülle zudem eine besondere Funktion, weise sie doch darauf hin, dass nun auch die Entwicklung als Ganzes zum Gegenstand positiver Beobachtung und rationaler Planung gemacht werden könne. Sie kröne insofern die Entwicklung, als dass sie die geistigen Fähigkeiten des Menschen selbst zum Gegenstand machen könne.
Neben der Ausbildung neuer »Rollen« sieht Comte das zweite (wenn man so sagen darf:) sozialstrukturelle Merkmal des positiven Zeitalters sehr treffend in der ebenfalls zu seinen Lebzeiten im Entstehen begriffenen Industriegesellschaft. Die Industriegesellschaft zeichnet sich für ihn durch die wissenschaftliche Organisation der Arbeit aus, die sich aus der ständigen Steigerung des Wohlstandes und der Konzentration von Arbeitern in Betrieben ergibt. In dem Maße, wie Wissenschaftler an die Stelle von Priestern träten, beerbten Fabrikdirektoren und Bankiers die Kriegsherren. Damit änderte sich auch das Ziel der Gesellschaft von der Kriegsführung zum Kampf der Menschen mit der Natur und der rationalen Ausnutzung ihrer Quellen.
Auch die Phasenbildung selbst gehe auf ein soziologisches Grundgesetz zurück: In einer Gesellschaft gibt es für Comte nur dann eine wirkliche Einheit, wenn die von allen Gesellschaftsmitgliedern geteilten Leitideen ein zusammenhängendes Ganzes bilden. Eine Gesellschaft entstehe also erst dadurch, dass ihre Mitglieder die gleichen Überzeugungen teilen. »Die Denkart kennzeichnet die Phasen der menschlichen Entwicklung, und die heutige und endgültige Phase wird durch den universellen Triumph des positiven Denkens charakterisiert.«44 Ähnlich wie Vico verknüpft aber auch Comte später in seinem Leben sein soziologisches Modell mit einer religiös [42]anmutenden Heilsvorstellung.45 Denn dass die Einheitlichkeit des Denkens nach dem Fetischismus verloren ging, trieb bisher die Geschichte an. Mit der umfassenden Ausweitung des Positivismus werde nun ein Endstadium erreicht, das in seinen Augen ein Heilsversprechen enthält. Die Historizität des Wissens ist eine bedeutende Erkenntnis in der Vorgeschichte der Wissenssoziologie. Nicht jedoch die Geschichtlichkeit des Wissens ist für sie grundlegend, sondern die darin vorausgesetzte Gesellschaftlichkeit, die wir jetzt behandeln.
3 | Entfremdung, Ideologie und Klassenkampf |
So sehr sich Hegel und Comte auch unterscheiden, gemeinsam ist ihnen der große universalgeschichtliche Entwurf. In solch großen Zügen malte auch Karl Marx das Weltengemälde der sich zu seinen Zeiten ausbreitenden bürgerlichen Gesellschaft. Er wandte sich dabei gegen Hegel und führte gleichzeitig seine Ideen fort. Hegel hatte ja insbesondere die Rolle des menschlichen Geistes in der Gestaltung des historischen Wandels betont. Die geschichtliche Veränderung der menschlichen Gesellschaft ist, so könnte man seine These überspitzen, ein Ausdruck der Fort-Entwicklung des menschlichen Geistes. Der Kern des wissenssoziologischen Zugangs von Marx ist dagegen in seinem Materialismus zu sehen. Für Hegel, so bemerkt Marx einmal, sei der Denkprozess, den er sogar unter dem Namen Idee in ein selbstständiges Subjekt verwandelt, der Schöpfer des Wirklichen, das nur eine äußere Erscheinung bildet. Bei ihm dagegen sei das Ideelle nichts anderes als das im Menschenkopf umgesetzte und übersetzte Materielle.46 Weitere Quellen des Denkens von Marx sind der französische Sozialismus und die englischen ökonomischen Theorien, die ihm in seinem späteren Werk dabei helfen, das wissenschaftlich zu bestimmen, was er als die materielle Grundlage des Geistigen bezeichnet.
Mit seiner materialistischen Absetzung von Hegel steht Marx keineswegs ganz alleine. Hegels Philosophie war bis zu seinem Lebensende (er starb 1831) in Deutschland beinahe zum Dogma geworden. Die weitere theoretische Entwicklung wurde deswegen sehr stark von »Hegelianern« bestimmt. Besonders prominent war das 1835 erschienene Buch »Das Leben Jesu«, in dem der Hegelianer David Friedrich Strauss die Evangelien als eine Mythologisierung der Wünsche und Hoffnungen des Frühchristentums darstellte. Strauss’ Buch führte zu heftigen Auseinandersetzungen und schließlich zu einem Bruch der Hegelianer über die Frage der Geschichtlichkeit der Bibel (der Hegel selbst nicht sehr viel Gewicht beimaß). Die Hegelianer spalteten [43]sich in drei Lager, die Strauss mit Begriffen aus der französischen Revolution bezeichnete: Die Linken, die Rechten und die Mitte.
Im Mittelpunkt des folgenden Kapitels steht der Beitrag der Linkshegelianer Marx und Engels, die gegen den Idealismus Hegels und den der »Rechtshegelianer« ihren schon erwähnten Materialismus stellten. Dessen Grundzüge lassen sich schon anhand der Vorstellungen von Ludwig Feuerbach skizzieren, dem Marx und Engels die berühmt gewordenen Thesen in ihrer »Deutschen Ideologie« widmeten. Feuerbach bildet ein Bindeglied, ja eine Art Scharnier zwischen Hegel und Marx.
Wie Marx betont auch Ludwig Feuerbach die Notwendigkeit eines radikalen Bruches mit Hegel.47 Dabei sind insbesondere seine Anschauungen zur Religion folgenreich geworden. Feuerbach ist als der »Kirchenvater des modernen Atheismus« bezeichnet worden. Doch sieht er in der Religion keineswegs nur eine reine Illusion. Für Feuerbach kommt in der Religion vielmehr etwas sehr Grundsätzliches zum Ausdruck, das jedoch nicht die Religion selbst oder ein Gott ist. Im Grunde ist sie das Verhalten des Menschen zu seinem eigenen Wesen: »Das Bewusstsein Gottes ist das Selbstbewusstsein des Menschen, die Erkenntnis Gottes die Selbsterkenntnis des Menschen. […] Was dem Menschen Gott ist, das ist sein Geist, seine Seele, und was des Menschen Geist, seine Seele, sein Herz, das ist sein Gott. Gott ist das offenbare Innere, unausgesprochene Selbst des Menschen; die Religion seine feierliche Enthüllung der verborgnen Schätze des Menschen, das Eingeständnis seiner innersten Gedanken, das öffentliche Bekenntnis seiner Liebesgeheimnisse.«48 »Der Mensch«, so kehrt Feuerbach schließlich einen berühmten Satz aus der Schöpfungsgeschichte (Gen 1,27) um, »schuf Gott nach seinem Bilde«.
Allerdings wird in der Religion nur das kindliche Wesen des Menschen ›abgebildet‹, das noch nicht erkennt, dass es sich in der Religion selbst sieht. Deswegen führt die Religion zu einer illusionistischen Verkehrung elementarer menschlicher Dispositionen. Damit deutet Feuerbach nicht nur das für die Religionssoziologie bedeutsame Argument der Projektion49 an; er formuliert ein von Hegel aufgenommenes Argument, das Marx verschärfen wird – die Verdinglichungsthese: Denn der Mensch vergegenständlicht sich zwar in der Religion; indem er aber an die Religion glaubt, erscheint ihm seine eigene Erkenntnis von sich wie ein anderes, äußeres Ding. Hinter [44]der Religion also steht der Mensch selbst. Wie auch Hegel und später Marx setzt auch Feuerbach auf die Möglichkeit der Überwindung dieser Entfremdung: Der Mensch könne sich seines eigenen Wesens bewusst werden, sobald er erkenne, dass es in die Religion projiziert sei. So könne ein Anthropotheismus, eine Religion, ›die sich selbst versteht‹, begründet werden, deren Grundsatz im »Homo homini Deus est« besteht.50
Vor dem Hintergrund der verschwörungstheoretischen Religionskritik der Ideologen weisen Feuerbachs Thesen einen geradezu konstruktiven Zug auf, der an Hegel und Comte erinnert. Religion verdecke nicht nur, sie erhelle auch Wirklichkeit, sie sei eine Form der Erkenntnis. Erst die Moderne (wie wir heute sagen) könne sich von ihrer Hülle befreien und der Erkenntnis selbst zum Durchbruch verhelfen.
Feuerbach wie die idealistischen Links- oder »Jung-Hegelianer« bildeten den Ausgangspunkt, aber auch den Reibestein für Karl Marx.51 Denn in Marx’ Augen verwechselten sie den intellektuellen »Kritizismus« mit den wirklichen, materiellen Faktoren des welthistorischen Wandels. Zusammen mit Friedrich Engels52, einem anderen Junghegelianer, formulierte Marx in mehreren Arbeiten seinen Ansatz selbst wiederum als Kritik an Hegel und den Junghegelianern. Ihr erstes gemeinsames Produkt stellt die »Deutsche Ideologie« dar, die als zentrales Werk der Wissenssoziologie von Marx angesehen werden muss.53
Die »Deutsche Ideologie« setzt mit den schon erwähnten berühmten Thesen zu Feuerbach ein, in denen Marx und Engels die bisherigen Vorstellungen des Materialismus einer Kritik unterziehen: »Der Hauptmangel alles bisherigen Materialismus (den Feuerbachschen mit eingerechnet) ist, dass der Gegenstand, die Wirklichkeit, Sinnlichkeit nur unter der Form des Objekts oder der Anschauung gefasst wird; nicht aber als sinnlich menschliche Tätigkeit, Praxis […].« »Feuerbach«, so kritisieren sie weiter, »löst das religiöse Wesen in das menschliche Wesen auf. Aber das menschliche Wesen ist kein dem einzelnen Individuum innewohnendes Abstraktum. In seiner Wirklichkeit ist es das ensemble der gesellschaftlichen Verhältnisse.«54
[45]Der einzelne Mensch als Schöpfer, den Feuerbach hinter der Religion gesehen hatte, ist keineswegs alleiniger Grund für die Wirklichkeit. Es ist vielmehr die menschliche Praxis, die – und das ist der wissenssoziologische Kern der These von Marx und Engels – nicht von einzelnen Individuen, sondern in einem gesellschaftlichen Zusammenhang realisiert wird. Durch diese Hervorhebung der sozialen Grundlage des Wissens könnte man auch behaupten, dass die Wissenssoziologie in einem engeren Verstande mit Marx und Engels einsetzt. Soziologisch ist diese Vorstellung in dem Sinne, dass die Gesellschaft nicht mehr wie eine Beziehung zwischen abstrakten Ideen (wie von Hegel) oder als menschliches Bewusstsein (wie bei den Junghegelianern) gefasst wird, sondern als eine historisch determinierte Struktur sozialer Beziehungen zwischen Menschen. Marx und Engels sind also nicht materialistisch in dem Sinne wie Feuerbach, der nur das Wahrnehmbare als Grundlage der Erkenntnis ansieht. Denken und Sein bilden für sie keine zwei getrennten Bereiche, sondern sind Elemente einer und derselben Wirklichkeit, die sich weder nur dem Materiellen noch dem Geistigen unterordnen kann. Dabei akzeptierte Marx durchaus die Vorstellung, dass die Natur das Primäre, das Denken hingegen das Sekundäre sei. »Nicht das Bewusstsein bestimmt das Leben, sondern das Leben bestimmt das Bewusstsein.« So sehr hier eine Bestimmungsrichtung betont wird, sollte man das Verhältnis doch nicht so einseitig sehen, da »die Umstände ebenso sehr die Menschen, wie die Menschen die Umstände machen«.55 Die daraus resultierende Zwiespältigkeit von Marx’ und Engels’ Aussagen zum Verhältnis zwischen Materiellem und Wirklichkeit lassen sich auf zwei unterschiedliche und keineswegs miteinander verträgliche Grundprinzipien zurückführen, die ihr Werk durchziehen: Eine deterministische Vorstellung des Verhältnisses, die von einer Bestimmung des Geistigen durch das Materielle ausgeht, und eine dialektische Vorstellung, die beides in einer Wechselwirkung sieht. Man darf durchaus sagen, dass Marx und Engels die deterministische Fassung dann bevorzugen, wenn es ihnen um die rhetorische Wirkung und die politische Überzeugung geht, während sie in »wissenschaftlicheren« Erörterungen die dialektische Fassung hervorheben. Einige Autoren sind deswegen der Auffassung, man müsse den wissenschaftlichen Teil ihrer Theorie von den politisch-agitatorischen Teilen trennen.
Was nun ist der materielle Teil dieser Determination oder Wechselwirkung? Das Materielle tritt in verschiedenen Bedeutungen auf, man kann auch sagen: Es umfasst unterschiedliche Aspekte. Einmal ist es gleichbedeutend mit dem »Ökonomischen« bzw. dem ökonomischen Reproduktionsprozess. In diesem Fall bezeichnet es die Produktivkräfte, also handfeste empirische Größen, wie die Produktionsmittel Werkzeuge, Maschinen, Boden oder Kapital. Die andere Bedeutung setzt das Materielle mit der Befriedigung elementarer natürlicher Bedürfnisse gleich, die mit den äußeren körperlichen Existenzbedingungen verknüpft sind. Eine dritte Bedeutung des Materiellen verweist auf die Zwangsverhältnisse zwischen den Menschen oder soziale Prozesse im Allgemeinen.56
[46]Wie immer das Materielle und dann auch das Verhältnis des Materiellen zum Geistigen näher bestimmt wird, so besteht doch in jedem Fall ein enger Zusammenhang zwischen beidem. Für Marx gibt es keine Zweifel, dass die materiellen Grundlagen die Erzeugungen des Geistes beeinflussen. Marx zeigt das in seinen historischen Rekonstruktionen dieses Verhältnisses auf, die er in einer Analyse der Gegenwart seiner Zeit, dem modernen Kapitalismus, münden lässt: In den frühen Phasen der menschlichen Geschichte, der Urgeschichte, war die Produktion von Ideen direkt mit der materiellen Aktivität und dem Zusammenleben der Menschen im wirklichen Leben verknüpft. Die Menschen sind deswegen die ausschließlichen Erzeuger ihres Bewusstseins. Das Bewusstsein kann sich ändern, wenn sich die Verhältnisse, also Produktionsverhältnisse und die daran geknüpften Sozialbeziehungen, ändern. Daran erkennen wir, dass die Lebensform des Individuums abhängig ist von der Produktionsweise, und diese determiniert auch die sozialen Beziehungen. Auch wenn er immer wieder die materiellen und ökonomischen Aspekte betont, so ist doch soziologisch vor allem relevant, dass die menschliche Lebensform für ihn wesentlich gesellschaftlich ist »in dem Sinne, als hierunter das Zusammenwirken mehrerer Individuen, gleichviel unter welchen Bedingungen, auf welche Weise und zu welchem Zwecke« verstanden wird.57
Die Verbindung zwischen dem Sozialen und dem Ökonomischen (als zentralen Aspekten des Materiellen) ist keineswegs beliebig. Denn das »Zusammenwirken der Menschen« ist selbst eine Produktivkraft und sie steht mit den ökonomischen Produktivkräften in einem engen Zusammenhang.58 Dies liegt darin begründet, dass die wirtschaftliche Arbeitsteilung eine Form der sozialen Kooperation darstellt, die ihrerseits von der gesellschaftlichen Arbeitsteilung und den Produktionsverhältnissen abhängt. (Dabei spielen die Eigentumsverhältnisse eine entscheidende Rolle.) Die Kooperation verschiedener Individuen führt nicht nur zur Sprache, sie ist auch der Grund für das Bewusstsein. Und dies wiederum bildet das Denken: »Das Bewusstsein ist also von vornherein schon ein gesellschaftliches Produkt und bleibt es, solange überhaupt Menschen existieren.«59
Folgen wir der historischen Rekonstruktion des Verhältnisses von Wissen und Gesellschaft weiter, dann verändert die Fortentwicklung der Produktion die Arbeitsteilung auf eine grundlegende Weise. Schon in der urgesellschaftlichen Produktionsweise entwickelt sich eine erste Form von Eigentum, die sich auf einfache Erfindungen [47]bezieht. Auf der nächsten geschichtlichen Stufe, der Sklavenhalterordnung, bezieht sich das Eigentum auf die Produzierenden selbst: Es stellt sich eine Teilung zwischen Sklaven und Sklavenhalter ein. Die Sklavenhalter bilden einen Überbau aus: Es entsteht ein staatlicher Apparat, ein Rechtssystem. Im Feudalismus werden die Sklavenhalter zu Feudalherren, die vor allem über Grund und Boden verfügen. Die Ungleichheit und Unterdrückung wird durch Religion und Recht legitimiert. Damit wird auch die Trennung von Stadt und Land, von Handel und Industriearbeit und von materieller und geistiger Arbeit ausgebaut. Diese ist wissenssoziologisch natürlich sehr folgenreich, denn nur dadurch »kann sich das Bewusstsein wirklich einbilden, etwas andres als das Bewusstsein der bestehenden Praxis zu sein, wirklich etwas vorzustellen, ohne etwas Wirkliches vorzustellen«60 – erst jetzt ist also reine Theorie und damit auch ›falsches Bewusstsein‹ (auf das wir noch zu sprechen kommen werden) möglich. Nun können die Produktionskraft, der gesellschaftliche Zustand und das Bewusstsein in Widerspruch geraten. Die Intellektuellen, die aus der Teilung von geistiger und materieller Arbeit hervorgehen, neigen generell dazu, die Interessen ihrer Klasse in einer allgemeinen Form in Begriffe zu kleiden. Im Kapitalismus schließlich wird dies zu einem Klassensystem, weil erst hier das Verhältnis der einzelnen zu den Produktionsmitteln zum entscheidenden Ordnungskriterium der Gesellschaft wird. Mit der Klassenherrschaft der Bürger ändert sich auch die Ideologie. So kommt es, dass »während der Zeit, in der die Aristokratie herrschte, die Begriffe Ehre, Treue etc., während der Herrschaft der Bourgeoisie die Begriffe Freiheit, Gleichheit etc. herrschten«.61
Vor diesem Hintergrund ist denn auch der Marxsche Begriff der Ideologie zu verstehen: Jede Ideologie (wie etwa die ›deutsche Ideologie‹) ist der Versuch einer Klasse, ihre Vorstellungen als die allgemeingültige auszugeben, obwohl sie ausschließlich von den Interessen ihrer eigenen Klasse geleitet ist. Am besten gelingt dies natürlich derjenigen Klasse, die über die gesellschaftliche Macht verfügt. Deswegen entscheidet die Machtstruktur einer Gesellschaft (Macht im Sinne von Kontrolle, Besitz der materialen Produktionsmittel) auch darüber, welche geistigen Vorstellungen vorherrschen. Dies gilt nicht nur für die mittelalterliche und neuzeitliche Kultur, an der sich dieser Zusammenhang aber sehr schön illustrieren lässt: »Für eine Gesellschaft von Warenproduzenten, deren allgemein gesellschaftliches Produktionsverhältnis darin besteht, sich zu ihren Produkten als Waren, also als Werte zu verhalten, und in dieser sachlichen Form ihre Privatarbeiten aufeinander zu beziehen als gleiche menschliche Arbeit, ist das Christentum, mit seinem Kultus des abstrakten Menschen, namentlich in seiner bürgerlichen Entwicklung, dem Protestantismus, die entsprechendste Religionsform.«62 Hier geht es Marx keineswegs nur um Religionskritik. Die Religion des Christentums ist vielmehr lediglich ein Beispiel – denn [48]religiöse Vorstellungen als treibende Kräfte der Geschichte anzusehen, ist für Marx eine typisch deutsche Krankheit. Diese Krankheit, die auch die idealistischen Junghegelianer befallen habe, verhindere die Einsicht darin, dass gerade religiöse Ideen Ausdruck der materiellen Verhältnisse sind.
Die Ideologie ist also mit der materiellen Lage der Menschen verknüpft, denn »die Gedanken der herrschenden Klasse sind in jeder Epoche die herrschenden Gedanken, d.h. die Klasse, welche die herrschende materielle Macht der Gesellschaft ist, ist zugleich ihre herrschende geistige Macht«. Es geht hier jedoch keineswegs um ausdrückliche oder absichtlich verhüllte Interessen, »denn die Klasse, die die Mittel der materiellen Produktion zu ihrer Verfügung hat, disponiert damit zugleich über die Mittel zu geistigen Produktion. […] Die herrschenden Gedanken sind weiter nichts als der ideelle Ausdruck der herrschenden materiellen Verhältnisse, die als Gedanken gefassten herrschenden materiellen Verhältnisse; also der Verhältnisse, die eben die eine Klasse zur herrschenden machen, also die Gedanken ihrer Herrschaft.«63 Ideologie ist nicht mit Absichten verknüpft, sie ist vielmehr strukturell bedingt: Sie ist abhängig von der ökonomischen Situation der sozialen Struktur. Diese Struktur verteilt nicht nur die Menschen auf unterschiedliche Klassen, sie prägt auch die Inhalte ihres Denkens. So erklärt sich zum Beispiel die »Abgehobenheit« von Ideologien, wie etwa dem Idealismus, aus der fortgeschrittenen Arbeitsteilung zwischen der geistigen und der materiellen Arbeit innerhalb der modernen Gesellschaft, »so dass innerhalb dieser Klasse der eine Teil als die Denker dieser Klasse auftritt […], während die andern sich zu diesen Gedanken und Illusionen mehr passiv und rezeptiv verhalten, weil sie in Wirklichkeit die aktiven Mitglieder dieser Klasse sind…«64
Marx’ Begriff der Ideologie radikalisiert also damit die frühere Interessentheorie der Aufklärer. Diese vertraten die Auffassung, dass kirchliche und aristokratische Eliten mehr oder weniger strategisch und absichtlich den Aberglauben über Gott verbreiteten, um die wirkliche Situation der Beherrschten zu verdecken. Für Marx dagegen sind sowohl die Beherrschten wie die Herrscher einer Ideologie unterworfen. Ideologie dient also nicht zur Verschleierung nach Art einer Verschwörungstheorie, sondern wird systematisch durch die Struktur der sozialen Beziehungen erzeugt. Jede herrschende Klasse vertritt ihre Interessen nicht deswegen als Interessen aller, weil sie die anderen übergehen möchte. Sie glaubt tatsächlich an ihre Richtigkeit. Sofern sie die Vorstellungen, die ihren partikularen Interessen entspringen, für allgemeingültig hält, vertritt sie eine Ideologie. Wenn es ihr dann noch gelingt, diese Vorstellungen auch Menschen zu vermitteln, die eine andere soziale Lage einnehmen, dann reden wir von »falschem Bewusstsein«, also einem Bewusstsein, das nicht die soziale Lage der betroffenen Handelnden und Produzenten und ihr Wissen von der Welt reflektiert.
Erst in einer kommunistischen Gesellschaft, die den Zielpunkt der gesellschaftlichen Entwicklung darstellt, würde das anders. Hier verschmölzen gesellschaftliche [49]Struktur und Wissen, denn in der kommunistischen Gesellschaft sei niemand mehr auf einen exklusiven Bereich des Handelns eingeschränkt und habe vielmehr Zugang zu allen Zweigen der Produktion. Hier werde auch die Teilung der Arbeit aufgehoben: Jeder kann sich in jedem beliebigen Kreis von Tätigkeiten ausbilden und »heute dies, morgen jenes […] tun, morgens zu jagen, nachmittags zu fischen, abends Viehzucht zu treiben, nach dem Essen zu kritisieren, wie ich gerade Lust habe, ohne je Jäger, Fischer, Hirt oder Kritiker zu werden.«65 Die kommunistische Gesellschaft ist das von Marx und Engels erwartete Ziel der historischen Entwicklung, das sich aus der Dialektik der Klassenkämpfe früherer Epochen ergeben soll.
Wenn wir bei Marx und Engels von der sozialen Lage oder von sozialen Strukturen sprechen, so stehen bei ihnen die sozialen Klassen – als soziale Entsprechungen verschiedener Formen des Bewusstseins – im Vordergrund. Als soziale Klassen bezeichnet Marx große gesellschaftliche Gruppen. Sie unterscheiden sich voneinander dadurch, ob (und in welchem Ausmaß) sie über die Mittel zur Produktion verfügen und folglich auch durch ihren Anteil am gesellschaftlichen Reichtum. Sie unterscheiden sich schließlich durch ihre Rolle in der gesellschaftlichen Organisation der Arbeit. Soziale Klassen stehen zueinander im Verhältnis des Konfliktes, wobei vor allem zwei tragende Klassen jeweils in einem stark antagonistischen Verhältnis stehen. Die menschliche Geschichte wird in den Augen von Marx und Engels im Wesentlichen durch Klassenkonflikte zwischen den zwei tragenden Klassen vorangetrieben. In einem dialektischen Prozess führt der Konflikt zweier Klassen zu neuen gesellschaftlichen und ökonomischen Verhältnissen auf einer jeweils »höheren« Stufe. (Die höchste Stufe bildet der Kommunismus.)
Auf eine sehr vereinfachte Weise, wie sie vor allem für die Propaganda der kommunistischen Partei genutzt wurde, lassen sich folgende Phasen der Entwicklung der Klassenstruktur unterscheiden: Auf eine Phase, in der die Menschen in Stämmen organisiert sind, die als Besitzer von Eigentum auftreten, und in der die Arbeitsteilung auf der Grundlage des Verwandtschaftssystems geregelt wird, folgen die antiken Gemeinde- und Staatsbesitzverhältnisse der frühen Stadtstaaten, die auf einer Arbeitsteilung zwischen den Besitzern und den Sklaven, ihrem wichtigsten Besitz, beruhen. Darauf folgt die feudale Phase einer vorwiegend landwirtschaftlichen Gesellschaftsformation, die aus Landbesitzern und einer Dienstklasse besteht. Die zeitgenössische Phase zu Marx Lebzeiten ist der Kapitalismus. Hier geht es im Wesentlichen um die industrielle Produktion von Waren. Weil dadurch auch die Arbeitskraft zu einer Ware wird, treffen hier zwei Klassen aufeinander, die sich kategorisch voneinander unterscheiden: die Arbeiter, die über nichts weiter verfügen als ihre Arbeitskraft, die sie als eine freie Ware offerieren, und die Kapitalisten, die über die Produktionsmittel verfügen und die Arbeitskraft kaufen. Durch den Mehrwert, den die Arbeiter produzieren und den die Kapitalisten ihnen vorenthalten, häufen sie Kapital [50]an. Diese beiden Klassen prägen in immer deutlicherer Weise die Struktur der industriellen Gesellschaft, und sie sind ihrerseits von der Art ihrer Arbeit geprägt.
Diese vereinfachte marxistische Vorstellung der Klassen ist offenkundig dichotomisch angelegt. Kapitalisten und Proletariat gelten für Marx als die wichtigsten Triebkräfte der kapitalistischen Gesellschaft. In seinen eigenen historischen Betrachtungen jedoch zeigt sich, dass die sozialen Verhältnisse weitaus verzwickter sind, als es das simple Schema des Klassenkonflikts vermuten lässt. Das zeigte sich etwa an den zeitgenössischen Entwicklungen in Frankreich. 1848 hatte sich dort – wie ja auch in manchen Gebieten Deutschlands – eine revolutionäre Situation ergeben. Wider Erwarten hatte sich jedoch weder die Arbeiterschaft noch das Bürgertum, sondern das autokratische Regiment Napoleons des Dritten durchgesetzt. Marx versucht diesen seiner Geschichtsphilosophie widersprechenden Sieg einer in seinem Entwicklungskonzept »rückschrittlichen« Entwicklung nun durch eine erweiterte Klassenanalyse zu erklären. Neben dem Proletariat und den Kapitalisten treten also auch andere Klassen auf: das Lumpenproletariat, die Grundbesitzer, die Rentiers, die Kleinbauern usw., die Marx jedoch feinsäuberlich unterscheidet. Definitorisch für die Klassen ist indessen die Art des Einkommens, das sie beziehen. Die tragenden Gruppen des Napoleonischen Staatsstreiches seien kleine Bauern und das städtische Lumpenproletariat, die nun sein Klassenspektrum erweitern. Seit der Einführung des Wahlrechtes stellten die Gruppen der voneinander isolierten Parzellenbauern die Mehrheit des Wahlvolkes. Aus ihrem Klassencharakter erklärt sich auch ihre Begeisterung für einen Politiker, dessen unumschränkte Regierungsgewalt sie vor anderen Klassen schützen konnte. In den Städten sei diese Gruppe durch Vagabunden, entlassene Soldaten, Gauner, Lumpensammler und Bordellhalter unterstützt worden, so dass Bonaparte letztlich »Chef des Lumpenproletariats« wurde.66
Die Klassenverhältnisse lassen sich also keineswegs auf ein dichotomisches Schema reduzieren. Nur wenn man ein dichotomisches Schema anlegt (wie Marx es für agitatorische Zwecke tut), dann nimmt Marx’ wissenssoziologische These die erwähnten deterministischen Züge an: Die Produktionsverhältnisse, also die Verhältnisse der Menschen, unter denen sie mit gegebenen Produktivkräften ihr Leben führen, gelten nun als die primären, grundlegenden Verhältnisse. Sie umfassen die Art der Arbeitsteilung und die Form, wie der Tausch geregelt ist, wie die Produkte verteilt werden, also die wirtschaftlichen und gesellschaftlichen Beziehungen der Menschen miteinander. Dagegen sind »die ideologischen Verhältnisse von ihnen abgeleitet, abhängig […]. Die Produktionsmittel bilden die ökonomische Basis einer gegebenen Gesellschaft, und sie determinieren als solche den ganzen politisch-ideologischen Überbau dieser Gesellschaft.«67
[51]Wenn an dieser Stelle von »Determination« gesprochen wird, sollte man vorsichtig sein: Der ideologische Marx, der den Kommunismus fördern will, betont den deterministischen Aspekt des Verhältnisses, während der wissenschaftliche Marx, der vor anderen Wissenschaftlern bestehen will, das Verhältnis zwischen Basis und Überbau weitaus differenzierter sieht. Man bedenke, dass der gerade zitierte Ausschnitt dem alten marxistisch-leninistischen Wörterbuch entstammt und selbst durchaus ideologische Züge trägt. Dagegen sollte man an Marx’ wissenschaftlicher Position hervorheben, dass er die Ökonomie seiner Zeit einer radikalen Kritik unterwirft. In dieser Kritik macht er deutlich, dass die Ökonomie nicht einfach als »Basis« des Sozialen und des Geistigen angesehen werden kann. Denn schon die historische Entwicklung der Klassengegensätze macht sich vor allen Dingen am Privateigentum fest, das Besitzende und Nichtbesitzende trennt – und beim Privateigentum handelt es sich um eine soziale und rechtliche Institution. Wenn noch die zeitgenössische Ökonomie zu Marx’ Lebzeiten vom Privateigentum als einer natürlichen Gegebenheit ausgeht, dann vollzieht sie eine Anerkennung der Rechte der Besitzenden. Damit tritt die Ökonomie selbst als eine Form der Ideologie auf, die die Vermögensverhältnisse und damit die Klassenverhältnisse der gegebenen Gesellschaft grundsätzlich rechtfertigt. Sie ist Teil einer umfassenden gesellschaftlichen Ideologie, die von einer herrschenden Klasse getragen wird, welche ihre partikularen Interessen auch in der Wissenschaft verfolgt und dort als Wahrheit ausgibt. Dazu gehören selbst so unschuldig anmutende Prinzipien wie die »Freiheit« oder die »Gleichheit«. Denn solche Prinzipien, so Marx, ergeben erst in einer bürgerlichen Gesellschaft Sinn, in der die Arbeit Freier auf einem Markt zur Verfügung steht, der die Arbeitskräfte in ihrem rein ökonomischen Potenzial als gleichwertig behandelt. Weil sie eine Ideologie ist, kann diese bürgerliche Wissenschaft auch nicht den Zusammenhang zwischen der Arbeitsteilung bzw. dem Tausch und der zunehmenden Verarmung der Arbeiter erkennen. Der Wert der Arbeiter wird unterschlagen, sie setzt sie einer Ware gleich.
Wie oben bereits bemerkt, ist schon die Teilung der geistigen und körperlichen Arbeit, ja Arbeitsteilung insgesamt eine wesentliche Ursache der Entfremdung. Sie führt zur Entfremdung, denn »mit der Teilung der Arbeit ist die Möglichkeit, ja die Wirklichkeit gegeben […], dass die geistige und materielle Tätigkeit – dass der Genuss und die Arbeit, Produktion und Konsumtion in Widerspruch geraten«.68 Die Entfremdung wird jedoch durch die moderne industrielle Produktion noch verstärkt. Um dies zu verstehen, muss man an den materiellen Prozess der Objektivierung erinnern, der in Marx’ Kritik an Feuerbach angeschnitten wurde. Der Mensch nämlich erkennt sein eigenes Wesen in der Praxis, in der er die Wirklichkeit erzeugt. Die Arbeit ist gleichsam eine Art der Selbst-Verwirklichung des Menschen – da sie als sozialer Vorgang vorzustellen ist, sollten wir besser sagen: der Menschen als sozialer Wesen. Die Entfremdung setzt an der Stelle ein, an der die Möglichkeit der [52]Wiederaneignung des sozialen Erzeugungsprozesses unterbrochen wird. Weil also das, was der Arbeiter erzeugt, zu einer von ihm und seiner Praxis abgekoppelten Ware wird, kann man von Entfremdung reden. Entfremdung bedeutet, dass das im Handeln Erzeugte als ein Fremdes erscheint – »dieses Sichfestsetzen der sozialen Tätigkeit, diese Konsolidation unsres eigenen Produkts zu einer sachlichen Gewalt über uns, die unserer Kontrolle entwächst, unsere Erwartungen durchkreuzt, unsere Berechnungen zunichte macht.«69 Der von der Praxis der Arbeiter erzeugte Gegenstand wird ihm entfremdet, weil er zu einer »Ware« objektiviert wird, die nur noch abstrakte (in Kosten angebbare) menschliche Arbeit verkörpert. Die Entfremdung hat ihren Grund darin, dass das, was dem Arbeiter gehört, seine Arbeit und sein Produkt, ihm weggenommen wird. Das Geschaffene erscheint ihm dann als fremd und feindselig.
Durch die Entfremdung vom eigenen Produkt entsteht das, was Marx den Fetischcharakter der Ware nennt: Die Ware ist eigentlich das Produkt des Arbeiters, das aber, durch die Enteignung des Mehrwerts, als eigenes und unabhängiges Gut erscheint. Weil sie von ihrer Herstellung abgekoppelt sind, können Waren dann auch verehrungswürdige fetischistisch-religiöse Züge annehmen.70 »Das Geheimnisvolle der Warenform besteht also einfach darin, dass sie den Menschen die gesellschaftlichen Charaktere ihrer eigenen Arbeit als gegenständliche Charaktere der Arbeitsprodukte selber, als gesellschaftliche Natureigenschaften dieser Dinge vorspiegelt, daher auch das gesamte gesellschaftliche Verhältnis der Produzenten zur Gesamtheit als ein außer ihnen existierendes Verhältnis von Gegenständen […]. Es ist nur das bestimmte gesellschaftliche Verhältnis der Menschen selbst, welches hier für sie die phantasmagorische Form eines Verhältnisses von Dingen annimmt.«71
Die Entfremdung betrifft nicht nur Produkte und Waren, sondern die gesamte sinnliche Außenwelt, die Natur. Die sinnliche Außenwelt hört auf, ein zur Arbeit gehörendes Objekt zu sein, weil sie als Ware betrachtet wird, und sie hört auf, die physische Grundlage der Lebenserhaltung der Arbeiter zu sein. Die Natur wird zu einem reinen Produktionsfaktor. Schließlich schlägt die Entfremdung auf die Arbeiter zurück, die ihre Individualität im Arbeitsprozess verlieren und nurmehr auf ihre animalischen Funktionen reduziert werden. In einer kapitalistischen Gesellschaft werden somit Waren produziert und zugleich der Arbeiter zu einer Ware gemacht.
Zusammenfassend kann man sagen, dass Marx’ Materialismus einen entscheidenden Beitrag für die Entwicklung der Wissenssoziologie geliefert hat. Auch wenn Marx’ Glaubenssystem gescheitert ist, enthält sein wissenschaftliches Modell eine bedeutsame und grundlegende wissenssoziologische Erkenntnis: Dass alle Vorstellungen von sozialen Gruppen abhängen und in einer engen Beziehung mit den typischen [53]Interessen dieser Gruppierungen stehen. Diese Erkenntnis regte Marx dazu an, die Grundlagen der Bewusstseinsformen zu identifizieren. Für Marx ist Wissen ein Ausdruck der jeweils vorherrschenden sozialen, vor allem aber ökonomischen Verhältnisse. Es gehört zum »Überbau«, der die ökonomische und soziale »Basis« der Gesellschaft widerspiegelt. Zum Überbau zählt die Religion, aber auch die Philosophie oder die Kunst. Seine gesellschaftliche Basis bildet die ökonomische Struktur der Gesellschaft. Kennzeichnend für die Basis ist vor allem die vorherrschende Art der Produktion (z.B. agrarisch oder industriell) und die damit verbundenen Verhältnisse der Produzenten (Bauern, Arbeiter) zu denen, die über die Mittel der Produktion verfügen (feudaler Adel, Unternehmer). Man kann dieses Modell auf folgende Weise illustrieren:
Abb. 2: Basis-Überbau-Modell
Wie schon erwähnt, lässt Marx durchaus einige Fragen offen. So muss gefragt werden, in welcher Weise soziale und wirtschaftliche Aspekte aufeinander einwirken. Können wir wirklich von einer Determination des Denkens durch die Wirtschaft reden? Und wenn nicht, auf welche Weise fassen wir dann die »Dialektik« oder »Wechselwirkung«, die wir hier bildlich mit Pfeilen andeuten. Wie das Schaubild zeigt, rechnet Marx die ideologischen Phänomene – also Recht, Politik, Kunst, Ethik, Philosophie, Wissenschaft etc. – pauschal einer Ebene zu. Man muss fragen, ob dies statthaft ist. Sollte man nicht zwischen den verschiedenen Überbauphänomenen unterscheiden? Bedenkt man etwa die Rolle der rechtlichen Regelung des Eigentums [54](und seiner Bedeutung für die bürgerliche Ökonomie), dann muss man doch einräumen, dass auch die Aspekte des Überbaus (politische Aspekte des Klassenkampfes, Verfassungen der herrschenden Klasse, Rechtsprechung, religiöse Ideen und ihre dogmatische Ausformung) tiefen Einfluss auf die historische Entwicklung der Produktionsverhältnisse und die damit verbundenen Klassenkämpfe ausüben. Offen bleibt also vor allem die wissenssoziologisch zentrale Frage, in welchem Verhältnis Basis und Überbau stehen. In der langen und ereignisreichen Wirkungsgeschichte der marxistischen Theorie gab es zahlreiche Versuche, dieses Verhältnis näher zu bestimmen. Ein prominentes Beispiel für ein deterministisches Verständnis dieses Verhältnisses bietet der russische Physiker, Philosoph und Soziologe Alexander A. Bogdanov. Er betrachtete soziale Anpassung als dasselbe wie biologische Anpassung. Variationen der sozialen Formen sind für ihn durch natürliche Veränderungen determiniert. Die wichtigsten Formen der sozialen Anpassung sind technisch und ideologisch, wobei ideologische Anpassungen von technischen determiniert seien. Eine andere deterministische Fassung stammt von Otto Bauer, der seine empirische Interpretation der Genese von Weltanschauungen auf Marx zurückführte. Weltanschauungen seien vor allem von der Arbeitserfahrung des Menschen bestimmt. Bürger in kapitalistischen Gesellschaften zeichneten sich durch eine gemeinsame Arbeitserfahrung aus, die vor allem im Planen von Arbeit besteht, die andere verrichten. Deswegen entwickeln sie eine Weltanschauung, in der ein umfassender Plan enthalten ist, wie im Idealismus. Die Arbeiter dagegen hätten eine Arbeitserfahrung, die sie in unmittelbaren Kontakt mit der materiellen Natur bringen. Deswegen sei ihre Weltanschauung materialistisch.72
Solch deterministische Konzeptionen werden von Remmling dem »positivistischen« Zweig des Marxismus zugeschrieben. Sie gelten dem anderen, »historizistischen« Zweig als »vulgärmarxistisch« – ein Vorwurf, der sicherlich eine große Zahl der späteren marxistischen Literatur treffen dürfte.73 Zu diesen Historizisten zählt etwa die Theorie Georg Lukács’, an den wiederum eine ganze marxistisch orientierte Linie der Diskussion anschließt, die wir im Zusammenhang mit der kritischen Theorie wieder aufnehmen werden. Der Frage nach dem Verhältnis von Basis und Überbau, also das Thema der Korrelation von Wissen und Gesellschaft, die in beiden Linien aufgeworfen wird, werden wir im Folgenden immer wieder begegnen.
[55]4 | Die Triebe und der Irrationalismus des Wissens |
Im Großen und Ganzen gehen die geschichtsphilosophisch angelegten Konzepte, wie die oben dargestellten, von der Annahme einer steten Fortschreitens der Vernunft und der Ausweitung des menschlichen Wissens aus. Diese Annahme bildet das Fundament des westlichen Fortschrittsglaubens, den die Aufklärung begründete und der zum Allgemeinwissen geworden ist. Gegen diese Vorstellung zunehmender Rationalität regte sich jedoch schon im Zuge der Aufklärung massiver Widerstand von Seiten der konservativen, antiaufklärerischen Denker (in Deutschland etwa Justus Möser, der den hiesigen Konservativismus begründet), die sich für den Erhalt der traditionellen Strukturen einsetzten. Die Kritik wandte sich vor allem gegen die Annahme der Vernünftigkeit des Menschen, die als Motor den Fortschritt der menschlichen Vernunft antreiben sollte. Im Widerspruch dazu behauptete eine Reihe von Intellektuellen die grundlegende Unvernünftigkeit, den Irrationalismus des Menschen. Vernunft und Wissen erscheint für sie bestenfalls aufgesetzt. Für die Wissenssoziologie sind diese Intellektuellen deswegen von besonderer Bedeutung, weil sie den naiven Glauben an die schlichte Gültigkeit von Wissen und Wahrheit angreifen (der noch unsere »Wissensgesellschaft« beherrscht). Und obwohl sie die Quelle allen Tuns in nichtsozialen Trieben verankern, sehen sie darüber hinaus die vermeintliche Geltung von Wissen nicht in der Erkenntnis selbst begründet, sondern in sozialen Prozessen, in denen der Schein von Wahrheit erzeugt wird.
Einen entscheidenden Beitrag zur Prägung dieses Irrationalismus lieferte Friedrich Nietzsche.74 Er hebt vor allem die Rolle der Triebe hervor: Die Menschen schaffen sich eine künstliche Ideenwelt hinter der Erscheinungswelt, weil sie ihre ureigensten niederen Triebe übertünchen wollen. Diese Triebe bilden die eigentliche Grundlage der Erkenntnis, denn erst ihre Konfrontation mit der Wirklichkeit bringt Erkenntnis hervor, ja erzwingt sie. Wissen ist folglich nicht schon Teil der menschlichen Natur. Es folgt aus dem Trieb und ist Ausdruck gesellschaftlicher Machtverhältnisses: »Wenn wir Erkenntnis wirklich begreifen wollen, wenn wir wirklich wissen wollen, was sie ist, wenn wir ihre Wurzel und Fabrikation erfassen wollen, müssen wir uns vielmehr an den Politiker halten und uns klarmachen, dass es sich um Verhältnisse des Kampfes und der Macht handelt.«75 Wissen besteht also nur in Handlungen, in denen Menschen sich Dinge gewaltsam aneignen und auf [56]Situationen reagieren.76 Wahres Wissen ist »somit nicht etwas, das da wäre und das aufzufinden, zu entdecken wäre – sondern etwas, das zu schaffen ist und das den Namen für einen Prozess abgibt […] es ist ein Wort für den ›Willen zur Macht‹.«77
Deswegen stellen falsche Urteile für den Menschen ebenso wenig ein Problem dar wie falsches Wissen. Ganz im Gegenteil: Die Vorstellung, es gebe so etwas wie Wahrheit, ist in Nietzsches Augen ein kolossaler Irrtum. Erkenntnis ist für ihn nämlich keine bestehende Größe, sondern eine Erfindung. Denn »der Gesamtcharakter der Welt ist […] in alle Ewigkeit Chaos, nicht im Sinne der fehlenden Notwendigkeit, sondern der fehlenden Ordnung, Gliederung, Form, Schönheit, Weisheit[…]«78 Die Menschen begehen diesen Irrtum, um sich in Sicherheit zu wähnen. Die Wahrheit selbst ist nur für die wenigen Gelehrten von Interesse. Für die breite Masse der Menschen dagegen ist allein das Wissen von Bedeutung, das lebensfördernd wirkt. Die »Wahrheit« ist somit eine Verkleidung des »Willens zur Macht«, jener Kraft, die uns am Leben erhält und unseren Bestand sichert. Die eigentliche Funktion des Geistes ist die Verstellung des Lebens so, dass es uns lebenswert erscheint, und die Verführung zum Leben.
Wahrheit und Wissen sind jedoch nicht nur eitle Hülle. Denn was den Menschen auszeichnet, ist dass er gegen sich selbst, gegen seine Triebe und seinen »Willen zur Macht« Stellung beziehen kann. Die Instanz nun, die es ihm ermöglicht, sich gegen seinen Ursprung aus der Natur und gegen seine naturhafte Determination zu wehren, ist der Geist, der Wissen schafft. Durch seine Fähigkeit der Verkleidung kann er eine »Umwertung der Werte« bewirken, die in die Dekadenz, zum endgültigen Zerfall führen kann: Weil der Mensch schlecht ist, schafft er die Idee des Guten, weil er lügt, schafft er die Wahrheit, weil er hässlich ist, schafft er das Schöne. »Will jemand ein wenig in das Geheimnis hinab- und hinuntersehen, wie man auf Erden Ideale fabriziert? […] Diese Werkstätte, wo man Ideale fabriziert – mich dünkt, sie stinkt vor lauter Lügen.«79 Jede Gesellschaft hat in seinen Augen eine herrschende und eine beherrschte Schicht. Den beiden Schichten sind zwei verschiedene Moralen zugeordnet: die »Herrenmoral« und die »Sklavenmoral«.
Besonders »verlogen« erscheinen Nietzsche jene Wissensformen, die die grundlegende Machtbeziehung bestreiten. Das Christentum ist ihm dafür ein sehr wichtiges Beispiel, betont es doch die Nächstenliebe und verleugnet es den Machttrieb. Genau hierin jedoch, so betont Nietzsche, liegt das Perfide des Christentums: Es predigt eine Religion der Schwachen, Kranken und Armen, Machtlosen – um genau [57]damit an die Macht zu kommen und sich an der Macht zu halten. Die Religion der Nächstenliebe ist ihm eine Übertünchung von Machtinteressen.
So geht Nietzsche mit dem Hinweis auf den Zusammenhang von Religion und Machtinteressen über einen psychologischen Ansatz des Wissens als bloß subjektiver Projektion hinaus, den er in seinen früheren Schriften vertritt und schließt an die Interessentheorie an: Religiöse Vorstellungen dienen dazu, die Interessen derer durchzusetzen, die sie vertreten. Das Christentum ist ihm eine Religion des Ressentiments der Schwachen gegen die Starken. Weil die Schwachen und Zukurzgekommenen Träger dieser Religion seien, komme der Erfolg des Christentums einem ›Sklavenaufstand der Moral‹ gleich. Er entspreche somit einer ›Vergeltungsreligiosität‹, die die Starken und Erfolgreichen bestrafe, einem, wie Nietzsche es nennt, Ressentiment. Max Scheler, der den Begriff später aufnimmt, definiert das Ressentiment als eine »seelische Selbstvergiftung«, die durch eine »systematisch geübte Zurückdrängung von Entladungen gewisser Gemütsbewegungen und Affekte entsteht […] und die gewisse dauernde Einstellungen auf bestimmte Arten von Werttäuschungen und diesen entsprechenden Werturteilen zur Folge hat«.80 Die Zurückdrängung der vornehmen Werte durch das Ressentiment hat sich in einem historischen Prozess abgespielt, der vom antiken Rom bis zur Reformation und zur französischen Revolution reicht. In dieser Zeit wurden Ideale verbreitet, die den Menschen Schuld und schlechtes Gewissen einredeten, mit denen die Triebe unterdrückt werden sollten. Diese Ideale entfalteten eine »ungeheure Macht«, indem sie ein System der Interpretation errichteten, mit dem erst das festgestellt wurde, was Wahrheit sei.
Man kann sich dennoch fragen, mit welchem Grund Nietzsche, der ja als Verächter der (positivistischen) Soziologie gilt, hier in der Ahnenreihe der Wissenssoziologie auftritt.81 Dafür gibt es mehrere Gründe. Zum einen spielt Nietzsche eine bedeutende Rolle in den wissenssoziologischen Überlegungen Webers, Paretos und Schelers, ja auch bei Elias und Foucault. Zum Zweiten sind für ihn Erkenntnis und Wissen gerade wegen ihrer vermeintlichen Geltung unmittelbar und fundamental sozial: »Die Bedingung von Wahrheit und Wahrhaftigkeit ist die Gesellschaft.«82 Denn da der Mensch (»aus Not und Langeweile«) gesellschaftlich (und, wie Nietzsche verächtlich formuliert: »herdenweise«) existieren muss, ist er auch zu einem Friedensschluss gezwungen, der das gemeinsame Leben ermöglicht. Dieser Friedensschluss erst fixiert jenes etwas für alle Gemeinsame, das eine verbindliche Geltung haben soll. Hier also entsteht Wahrheit – als eine moralische Größe.83
[58]SIGMUND FREUD ist ein weiterer, ebenso wie Nietzsche weltberühmter Autor, der die triebhafte Ausstattung des Menschen in den Vordergrund stellt.84 Auch Freud wird nicht im engeren Sinne der Soziologie zugerechnet, zielt er doch auf eine psychologische Theorie, in der drei Instanzen (»Ich«, »Es«, »Über-Ich«) unterschieden werden. Von soziologischer Relevanz ist Freuds Theorie dennoch, denn die psychischen Instanzen werden vor allen Dingen im sozialen Kontext der Familie ausgebildet. Vater und Mutter bilden die wesentlichen Bezugsgrößen der kindlichen Psyche. Von zwei Trieben geleitet (dem Liebestrieb und dem Todestrieb), entwickelt sich jedoch nicht nur die Psyche in der Auseinandersetzung mit Vater und Mutter. Diese Konstellation ist auch prägend für das Wissen und die menschliche Kultur. Die Auseinandersetzung mit der von Vater und Mutter repräsentierten Sozialwelt führt zur Entwicklung eines »Über-Ich«, das die sozialen Normen und Werte ins Ich verlegt. Mit dem Begriff des »Es« setzt Freud zugleich eine von den Trieben beherrschte Instanz ein, die sich vor allem durch »unbewusstes Wissen« auszeichnet. Dazu zählen die vom Ich zurückgewiesenen Elemente, die das Verdrängte als Teil des Unbewussten ausmachen.
Eine elementare Form des Wissens über die Welt bestehe in der Projektion innerer Wahrnehmungen nach außen: »Innere Wahrnehmungen [werden] nach außen projiziert, zur Ausgestaltung der Außenwelt verwendet, während sie in der Innenwelt verbleiben sollen.«85 Diese Projektion des Inneren nach Außen kennzeichnet vor allem das primitive Denken. Entsprechend tritt es auch in primitiven Kulturen als mythologische Weltauffassung auf, die »nichts anderes ist als in die Außenwelt projizierte Psychologie«. So versteht er die Mythen vom Paradies und Sündenfall, vom Guten, vom Bösen und von der Unsterblichkeit als Projektion. Ganz besonders deutlich wird der projektive Charakter des menschlichen Wissens für ihn an der Religion, die er mit pathologischen individualpsychologischen Fällen vergleicht: »Man könnte den Ausspruch wagen, eine Hysterie sei ein Zerrbild einer Kunstschöpfung, eine Zwangsneurose ein Zerrbild einer Religion, ein paranoischer Wahn ein Zerrbild eines philosophischen Systems.«86 Und er geht noch weiter und kehrt das Verhältnis sogar um: »Nach diesen Übereinstimmungen und Analogien könnte man sich getrauen, die Zwangsneurose als pathogenes Gegenstück der Religionsbildung aufzufassen, die Neurose als eine individuelle Religiosität, die Religion als eine universelle Zwangsneurose zu bezeichnen.«87 Religiöse Wissensformen sind also Illusionen, [59]Erfüllungen alter und elementarer menschlicher Wünsche. Wie Wunschdenken ein Merkmal kindlicher Wirklichkeitsbewältigung ist, sucht sich der Erwachsene Götter, die ihm diesen Schutz gewähren. Es ist eine Folge der Projektionsfähigkeit der Psyche, dass der Mensch, wenn er nicht fähig ist, die Realität zu ertragen, eine Illusion an die Stelle der Realität setzt. Wieder ist die Religion für Freud das beste Beispiel: Sie ist im Grunde eine regressive, also in der seelischen Entwicklung rückwärtsgewandte, »infantile Illusion«, und da die Richtung dieser Illusion von der Familienstruktur geprägt ist, kann man Gott als eine psychologische Überhöhung des Vaters ansehen.
Nicht nur können die Götter als Ausdruck der Vatersehnsucht angesehen werden. Letzten Endes beruht die gesamte Kultur und unser Wissen auf einer solchen Projektion, die aus der Erfahrung der Hilflosigkeit angesichts der Natur geboren wird – eine Erfahrung, die wir als hilflose Kinder schon einmal gemacht haben: »So wird ein Schatz von Vorstellungen geschaffen, geboren aus dem Bedürfnis, die menschliche Hilflosigkeit erträglich zu machen, erbaut aus dem Material der Erinnerungen an die Hilflosigkeit der eigenen und der Kindheit des Menschengeschlechts.«88
Wir sollten beachten, dass nicht nur die Einflüsse auf die psychische Trieb-Dynamik in der sozialen Situation der Familie verankert werden; diese Triebdynamik wirkt sich auch ihrerseits wieder auf unser Wissen von der Welt aus. Dabei sollte man doch die vehemente Kritik an der Psychoanalyse nicht verschweigen. So wird zum einen eingewandt, dass Freuds Darstellung der familialen Verhältnisse sehr kulturspezifisch ist und stark die Züge des patriarchalen bürgerlichen und autoritären 19. Jahrhunderts trägt. Darüber hinaus haben Deleuze und Guattari sogar argumentiert, dass nicht die Psyche einen besonderen Zwang auf uns ausübt, sondern dass es die Psychoanalyse ist, die Macht über die Menschen erlangen will.89
Einen im engeren Sinne soziologischen Zugang zum Irrationalismus schafft erst VILFREDO PARETO.90 Irrationalistisch ist auch er, denn die menschliche Natur ist in seinen Augen für keine Aufklärung offen, sondern weist einen auf Triebe zurückgehenden ideologischen Hang auf. Dieser Irrationalismus findet einen sehr deutlichen Ausdruck in Paretos allgemeiner Soziologie: Als ausgebildeter Ingenieur und Volkswirt beschäftigt er sich zunächst mit den logischen Handlungen, die sich dadurch auszeichnen, dass dabei Mittel gewählt werden, die den Zielen adäquat sind. Diese Adäquatheit folgt den positivistischen Forderungen logisch-experimentellen Denkens, ließe sich also, wie man meint, prinzipiell mit den Methoden der Naturwissenschaften stützen. Logische Handlungen zeichnen sich dadurch aus, dass das Ziel, das die Handelnden verfolgen, mit den Mitteln erreicht wird, die sich aufgrund des [60]verfügbaren wissenschaftlich-experimentellen Wissens als passend erweisen. Mehr und mehr jedoch bemerkt Pareto, dass viele Handlungen dieses strenge Kriterium in Wirklichkeit gar nicht erfüllen. An dieser Stelle nun tritt für ihn erst die Soziologie auf den Plan. Sie ist es nämlich, die erklären soll, warum so viele Handlungen nicht logisch verlaufen. Sie behandelt also die nicht-logischen Handlungen, die weitaus in der Mehrzahl seien. »Die Illusionen, die sich die Menschen hinsichtlich der Motive machen, die ihre Handlungen bestimmen, haben mannigfaltige Quellen. Eine der wichtigsten ist die Tatsache, dass sehr viele menschliche Handlungen nicht die Konsequenz rationalen Denkens sind. Diese Handlungen sind rein instinktiv, der sie vollziehende Mensch empfindet indes Vergnügen, wenn er ihnen – übrigens willkürlich – logische Ursachen zugrunde legt. Er ist im Allgemeinen nicht gerade anspruchsvoll bezüglich der Qualität dieser Logik und gibt sich sehr leicht mit dem Anschein von logischer Überlegung zufrieden. Aber es wäre ihm unangenehm, ganz darauf zu verzichten.«91 Diese nichtlogischen Handlungen übersehen zu haben, zähle zu den großen Irrtümern in den bisherigen Wissenschaften. Zu den nichtlogischen Handlungen zählen genauer (a) instinktives, unbewusstes und habituelles Verhalten, (b) magische und religiöse Praktiken sowie (c) intentionales Handeln mit nichtbeabsichtigten Folgen. Das Gefühl ist neben der »Suche nach Erfahrungswerten« eine wichtige Quelle des menschlichen Handelns: Die Gefühle und Instinkte, die nichtlogischem Handeln zugrunde liegen, treten gesellschaftlich als Residuen in Erscheinung. Man muss sich die Residuen wie eine Art geistige Gewohnheiten vorstellen, die sich, auf einer instinktiven und emotionalen Grundlage, über die Zeit kulturell verfestigen.
Pareto unterscheidet sechs Klassen von Residuen, die helfen können, den Begriff etwas besser zu verstehen. Eine Klasse etwa bilden die sexuellen Residuen. Dieses Residuum fügt der (instinktiven) sexuellen Aktivität einen erotischen Charakter hinzu. Ein weiteres Residuum ist die »Persistenz der Aggregate«. Es bindet die einzelnen Individuen an seine sozialen Gruppen, also an Familie, Heimatort oder soziale Klasse sowie ihre Werte und Normen. Dies ist das Residuum, das die Rentier-Mentalität leitet. Nicht zu verwechseln ist dieses Residuum mit dem, das die Beziehung zur Sozialität durch Konformismus, Mitleid oder Selbstaufopferung herstellt. Auch der Drang, die eigenen Gefühle durch Handlungen anzuzeigen, bildet ein Residuum, das die Funktion hat, die menschliche Persönlichkeit in den Mittelpunkt zu stellen. Der »Instinkt der Kombination« gilt ihm als ein Residuum, das zu Innovationen führt. Und schließlich sorgt ein Residuum für die Wahrung der Würde des Individuums.
Stimmen bei den logischen Handlungen die Begründungen der Handlungen mit den Beweggründen und Motiven überein, so sucht der Mensch auch für die Beweggründe der nichtlogischen Handlungen häufig logische Begründungen. Obwohl er also aus Gefühlen, Affekten und Emotionen heraus handelt, versucht er eine, wie man sagen könnte, Rationalisierung dieser Handlungen. Solche Scheinbegründungen [61]nennt Pareto Derivate bzw. Derivationen (also Ableitungen). Man hat es nach Pareto mit Derivationen zu tun »immer dann, wenn man sein Augenmerk darauf richtet, auf welche Weise die Menschen danach streben, die Merkmale, die bestimmten ihrer Handlungsweisen eigen sind, zu verbergen, zu verändern, zu erklären.«92 Zwar hat auch das Tier Instinkte, doch nur der Mensch »empfindet das Bedürfnis zu argumentieren und außerdem einen Schleier über seine Triebe und seine Gefühle zu breiten«.93 Als Derivationen bezeichnet er den »Komplex von Argumenten und Handlungen, mit denen das nicht-logische Handeln als logisches präsentiert wird«.94
Derivationen sind keineswegs Mystifizierungen oder gar Betrug, da sie von den Menschen in der Regel selbst geglaubt werden. Derivationen sind vielmehr jene pseudo-logischen Argumentationen, mit denen Handlungen, wie Freud sagen würde, »rationalisiert« werden. Sie setzen sich aus Trugschlüssen und Illusionen, Glauben, Vorurteilen und Fehlurteilen zusammen, mit denen menschliches Handeln häufig verknüpft ist. Ihre Überzeugungskraft besteht weniger in der logischen Schlüssigkeit als im Appell an Gefühle. Im Unterschied zu Freud jedoch verdanken sie sich selbst nicht den Gefühlen, sondern dem sozial eingespielten Gemeinsinn, auf den auch die Rhetorik zurückgreift. Ein Beispiel dafür sind »Wortbeweise«, die durch die Wahl einzelner Worte entschieden werden. Im Falle des Verharrens im eigenen Glauben nennt man dies »›Standhaftigkeit‹, wenn [es] häretisch ist, ›Verstocktheit‹. Ein anderes Beispiel dafür: Im Jahre 1908 nannten die Freunde der russischen Regierung, wenn sie einen Revolutionär töteten, ihr Vorgehen ›Exekution‹, das der Revolutionäre, wenn sie ein Regierungsmitglied töteten, ›Mord‹. Die Feinde der Regierung kehrten die Bezeichnungen um: das erste Vorgehen war ›Mord‹, das zweite ›Exekution‹.«95
Diese Derivationen gliedert Pareto in vier Klassen auf. Zum Ersten nennt er die Behauptungen, die Geschichten mit großer oder geringer Überzeugungskraft beinhalten können. Sie rechtfertigen aufgrund der bloßen Affirmation. Zum Zweiten finden sich Argumente, die auf Autorität beruhen (wenn man etwa die Bibel zitiert). Die Anrufung einer Autorität dient als Rechtfertigung. Übereinstimmungen mit Gefühlen und Prinzipien bilden die dritte Klasse der Derivationen, zu der auch der Common Sense gehört. Man bezieht sich auf ein Prinzip oder ein Gefühl, um eine Handlung zu begründen. Und schließlich führt er noch das schon angeführte Beweisen mit Worten an, also Begründungen, die auf ungenauen Wörtern, auf Sprichwörtern, Metaphern, Allegorien oder Analogien aufbauen.
Während die Residuen das Handeln leiten und recht konstant bleiben, wirken sich die Derivationen nicht unmittelbar auf das soziale System aus. Zudem verändern [62]sie sich mit dem soziohistorischen Kontext. Die Residuen determinieren die Derivationen, doch haben auch diese Einfluss auf die Residuen.96 Die Derivationen gehorchen also dem, was man heute wohl eine »Rhetorik« nennen würde, wie sie typischerweise innerhalb der Wissenschaft zu finden ist.
In Paretos Wissenssoziologie bilden die im engeren Sinne ideologischen Systeme einen weiteren Schwerpunkt, da sie direkt auf den Derivationen und Residuen aufbauen. Denn die Verwandlung von nichtlogischen in logische Handlungen gelingt vor allem durch Berufung auf moralische, religiöse und metaphysische Theorien und Lehren. Ideologien sind also keineswegs identisch mit Derivationen; Ideologien sind selbst selten Teil von Handlungen und auch nicht unbedingt emotional, ja verhüllen Emotionalität eher. Weder den Derivationen noch den Ideologien geht es um die Wahrheit, sondern nur um Wirksamkeit und Nutzen. Die Wirksamkeit wird durch die Frage bestimmt, warum Menschen an ein bestimmtes geistiges Gebilde glauben. Sie bemisst sich daran, was sie davon haben. Auch Weltanschauungen, wie etwa das Christentum oder der Sozialismus, sollten deshalb nicht auf ihre Wahrheit hin befragt werden, »der Wert der heiligen Bücher aller Religionen liegt nicht in ihrer historischen Präzision, sondern in den Gefühlen, die sie im Herzen ihrer Leser erwecken können«.97 Gesellschaften sind nicht rational, sondern werden durch Ideologien und Mythen geleitet und verändert. Jeder Versuch der Wissenschaft, diese Mythen zu entzaubern, schafft nur selber wiederum neue Mythen.
Wie Marx blickt auch Pareto auf eine sozialstrukturelle Größe, die wesentlich für die Ideologien verantwortlich ist: Sind es bei Marx aber die proletarischen Massen, so stehen bei Pareto die Eliten im Vordergrund. Gesellschaftliche Fortentwicklung kommt für ihn im Wesentlichen durch den Kampf der Eliten um die Macht zustande, der zu einem Kreislauf der Eliten führe. »Selbst im tiefsten Frieden kommt der Prozess der Zirkulation der Eliten nicht zum Stillstand; sogar die Eliten, die durch den Krieg keine Verluste erleiden, verschwinden und manchmal geschieht dies ziemlich rasch. Es handelt sich nicht nur um den Untergang der Aristokratien durch das Übergewicht der Todesfälle über die Geburten, sondern auch um den inneren Verfall der Elemente, aus denen sie sich zusammensetzen.«98 Dabei zeigten sich immer zwei Kräfte: zentripetale Eliten, die die Zentralgewalt stärken, und zentrifugale Eliten, die ihre Auflösung anstreben.
Die Eliten sind gleichsam die wissenssoziologisch relevanten Akteure, denn in der Auseinandersetzung der Eliten spielen die Residuen und Derivationen eine entscheidende Rolle. Dies ist natürlich besonders in der politischen Rhetorik der Fall, die sich ja durch ihre persuasive Absicht von der philosophischen Abhandlung unterscheidet. Denn sie dient zur Durchsetzung von Machtinteressen, die vor allem von den Eliten verfolgt werden. Sie bilden, neben den politischen Intellektuellen, die [63]wichtigsten Trägergruppen der politischen Kommunikation. Herrschende Gruppen und Gegeneliten befinden sich im Kampf um die Macht, der, sozusagen als Derivat, immer auch ein Kampf der Ideen ist. Die verschiedenen Gruppen nutzen jedoch nicht nur Ideen, sie verkörpern und interpretieren immer auch unterschiedliche Residuen der Gesellschaft. Es sind also nicht nur »Scheingefechte«, die über Residuen ausgetragen werden, sondern auch Kämpfe zwischen den zugrunde liegenden Prinzipien.
Durch die Zirkulation der Eliten ändern sich Ideologien und Derivate fortwährend. Allein wenn man hinter sie blickt, entdeckt man die eigentlichen Beweggründe, die Residuen. Weil die menschliche Natur über die Geschichte hinweg im Wesentlichen gleich bleibt, ändern sich auch die Residuen nicht über die Zeit. Doch auch die ansonsten sehr wandelhaften Derivate enthalten einen festen, konstant bleibenden Kern und veränderliche symbolische Ränder. Diesen Kern hält Pareto für universale geistige Strukturen. Sie sind die eigentlichen Residuen, wie etwa der Totemglaube, Heiligenanbetungen, Askesepraktiken. Diese mentalen Strukturen, die Pareto in verschiedene Klassen unterteilt, bilden für ihn eine Art vortheoretische Ordnung des Bewusstseins – eine Ordnung des verborgenen Wissens, der wir in der Wissenssoziologie unter verschiedenen Begriffen immer wieder begegnen.
Eine Fortsetzung über Pareto hinaus erfährt der wissenssoziologisch relevante Irrationalismus durch die Arbeit von Georges Sorel, dessen wissenssoziologischer Beitrag vor allem um den Begriff der Mythen kreist.99 Im Unterschied zur gängigen Vorstellung, die diesen Begriff mit archaischen Erzählformen verbindet, bezeichnet er damit eine Art politisches Wissen der Straße. Geiger fasst Sorels Verständnis dieser Mythen als »Ideologien, die sich auf die Gesellschaft beziehen«.100 Die Menschen benötigen ein orientierendes Gesamtbild der Gesellschaft. Weil ein wirkliches Abbild jedoch nur unter großen Mühen hergestellt werden könnte, hält sich der Durchschnittsmensch lieber an verzerrte Mythen. Würde die Kenntnis der wirklichen Verhältnisse lähmend wirken, so förderte die begrenzte Einseitigkeit der Mythen die Bereitschaft zur Handlung. Auch gesellschaftliche Bewegungen, die von Gesellschaftstheorien geleitet sind, finden in der Masse nur dann Resonanz, wenn sie einen mythologischen Gehalt aufweisen. »Je weniger Wahrheit und je mehr Mythos, desto besser.«101 So wirkt etwa der Mythos vom Generalstreik für die Arbeiter nicht aufgrund von materialistischen Erklärungen im Rahmen der marxistischen Theorie, sondern deswegen, weil er in eine bildhaft komprimierte Version gebracht wird, die eine Menge zu einer Gemeinschaft zusammenschweißt und sie zu kollektiven Handlungen bewegt. Vom Urchristentum bis zur französischen Revolution sei jeder Versuch der Massenmobilisierung von solchen Mythen ausgegangen.
Die Tragweite seines Ansatzes wie auch der anderer wissenssoziologisch relevanten Irrationalisten wird in jüngerer Zeit wieder sehr deutlich. Denn seit dem Ende der [64]1970er-Jahre breitet sich eine ausdrücklich irrationalistische Vernunftkritik sehr stark aus, die die Vernunft und den Glauben an rationales Wissen kritisch hinterfragt. Sie behandelt Wissen als etwas, dessen Anspruch auf Wahrheit soziale Gründe hat oder verortet ihre eigentliche Geltung in einer der rationalen Geltung nur bedingt zugänglichen Dimension des unausgesprochenen, selbstverständlichen, tradierten oder triebhaft verankerten Wissens.
1 Xenophanes aus Kolophon, in: Hermann Diels, Die Fragmente der Vorsokratiker. Hamburg 1957, Fragment 16. Xenophanes nutzt dieses Argument übrigens, um für den Monotheismus zu argumentieren.
2 Mit Montaigne beginnt die Einführung von Franco Crespi und Fabrizio Fornari, Introduzione alla sociologia della conoscenza, Rom 1998
3 Karl Mannheim, Ideologie und Utopie, Frankfurt 1985 (EA 1929). Francis Bacon, 22.1. 1561-9.4. 1626. Philosoph, Schriftsteller, Politiker (Mitglied des Parlaments) und Anwalt, hatte sich zu Karrierezwecken in den Dienst des Königshauses Elisabeths gestellt. 1621 wurde er aus allen Ämtern entlassen.
4 Francis Bacon, Neues Organon der Wissenschaften, Leipzig 1830, S. 32
5 Vgl. hierzu Gunter W. Remmling, Francis Bacon and the French Enlightment Philosophers, in: ders., Towards the Sociology of Knowledge, New York 1973, S. 47-59
6 Eine ähnliche Vorstellung wurde später unter dem Begriff der kognitiven Dissonanz formuliert: Dasjenige, was wir nicht erwarten, nicht wissen oder nicht wünschen, wird auch aus unserer Wahrnehmung ausgeblendet; vgl. Leon Festinger, Henry W. Riecken und Stanley Schachter, When Prophecy Fails, New York 1956
7 Bacon nach Hans Barth, Wahrheit und Ideologie, Erlenbach-Zürich und Stuttgart 1961, S. 36
8 Eigentlich hieß Voltaire François Marie Arouet. 21.11.1694–30.5.1778. Er war Schriftsteller und Philosoph.
9 Friedrich Jonas, Geschichte der Soziologie 1, Reinbek 1976, S. 37
10 Theodor Geiger, Ideologie und Wahrheit. Eine soziologische Kritik des Denkens, Stuttgart u. Wien 1953, S. 13
11 Vgl. Bernhard Groethuysen, Die Entstehung der bürgerlichen Welt- und Lebensanschauung in Frankreich. 2 Bde, Frankfurt 1978, Bd. 1, S. 61
12 Paul Heinrich Dietrich Baron von Holbach, System der Natur oder von den Gesetzen der physischen und der moralischen Welt, Frankfurt 1978 (EA 1770), S. 352
13 Baron Paul-Henry Dietrich d’Holbach (1723-1789) war ein französischer Philosoph deutscher Abstammung, der mit den wichtigsten Aufklärern (Rousseau, Diderot) in Kontakt war und an der Enzyklopädie mitarbeitete; vgl. Holbach, System der Natur, op. cit., S. 223ff u. 415ff
14 Ebd., S. 130f
15 Claude Adrien Helvétius, De L’esprit, Paris 1959, S. 140
16 Kurt Lenk, Problemgeschichtliche Einleitung, in: ders. (Hg.), Ideologie. Ideologiekritik und Wissenssoziologie, Frankfurt u. New York 1984, 13-49, S. 19
17 Theodor Geiger, Ideologie und Wahrheit, op. cit., S. 12
18 Claude-Adrien Helvétius (1715-1771) war französischer Philosoph sowie Freund von Voltaire und Montesquieu. Er wird sowohl von Nietzsche wie von Marx als prägend bezeichnet.
19 Barth, op. cit. 1961, S. 53
20 Werner Stark, The conservative tradition in the sociology of knowledge, in: Remmling, op. cit., S. 68-77. Fuhrman kennt hingegen nur eine kritisch-emanzipatorische und eine sozialtechnologische Wissenssoziologie. Ellsworth R. Fuhrman, The Sociology of Knowledge in America 1883-1915. Charlottesville 1980
21 Giovanni Battista Vico gilt als Rechts- und Geschichtsphilosoph. Er wurde 1668 in Neapel geboren und starb ebenda im Jahre 1744. Er war ab 1697 Professor für Rhetorik und wurde 1734 Historiograph König Karls von Neapel.
22 Wie Max Adler argumentiert, »hindert der scheinbar theologische Ausgangspunkt Vicos ihn ganz und gar nicht, das Prinzip der Kausalbestimmtheit als die eigentliche Methode seiner neuen Wissenschaft mit aller Entschiedenheit auszusprechen.« Max Adler, Die Bedeutung Vicos für die Entwicklung des soziologischen Denkens, in: Archiv für die Geschichte des Sozialismus XIV (1929), S. 280-304, S. 291
23 Giambattista Vico, Die neue Wissenschaft von der gemeinschaftlichen Natur der Nationen, Frankfurt 1981, S. 30
24 Seine Methode der inneren Analyse menschlicher Tatsachen erinnert in manchen Punkten an die Verstehensmethode Diltheys und gilt als einer der Ausgangspunkte für den Historismus, auf den wir später eingehen werden.
25 Diese Vorstellung beeinflusste auch Wilhelm von Humboldt und mit ihm eine lange Tradition in der Linguistik, die von der Prägung des Denkens durch die Sprache ausgeht. Eine neuere Variante dieser Vorstellung findet sich im Konzept der »linguistischen Ideologie«, das Michael Silverstein geprägt hat. Dabei handelt es sich um die in die Sprache eingeschriebenen sozialen Perspektiven, die im Gebrauch der Sprache wie eine Ideologie wirkten. Michael Silverstein, Language structure and linguistic ideology, in: P. Clyne, W. Hanks und C. Hofbauer (Hg.), The Elements: A Parasession on Linguistic Units and Levels. Chicago 1979, S. 193-247
26 Johann Gottfried von Herder wurde 1744 in Mohrungen geboren und starb 1803 in Weimar. Er war Dichter, Philosoph und Theologe, der vor allem für seine Sprach- und Literaturphilosophie bekannt wurde. Er übte einen starken Einfluss auf die Romantik aus.
27 Eine Folge dieses Gedankens war die Erforschung der Sprachentwicklung und ihrer Gesetze, aber auch die Suche nach volkstümlichem Erzählgut, wie es die Gebrüder Grimm etwa in den Märchen fanden. Dieser von Vico abgeleitete Herdersche Gedanke ist dann auch Teil der verschiedenen europäischen nationalistischen Bewegungen geworden, die damit die modernen Nationen »erfanden«; vgl. dazu auch Eric J. Hobsbawm, Nationen und Nationalismus. Mythos und Realität, Frankfurt u. New York 2004
28 Jean Duvignaud, Préface, in: ders. (Hg.), Sociologie de la connaissance, Paris 1979, S. 9
29 Widerspruch fand Condorcet besonders bei Saint Simon, der für Marx von Bedeutung werden sollte. Auch Saint Simon ging von einer Konstanz des Verhältnisses zwischen den sozialen Institutionen und den Ideen aus, hielt sie beide jedoch für gleichgewichtig. Die kollektiven Anstrengungen beziehen sich sowohl auf die Erzeugung materieller Güter wie auf die Erzeugung von Wissen und moralischen Lehren.
30 Antoine Nicolas Condorcet, Sketch of the Progress of the Human Mind, in: Peter Gay (Hg.), The Enlightment. A Comprehensive Anthology, New York 1973, S. 805
31 Auch Marx zitiert – wenigstens ein Mal – Vico, den er wohl aus Frankreich kannte.
32 Georg Wilhelm Friedrich Hegel wurde 1770 in Stuttgart geboren und starb 1831 in Berlin. Er hatte in Tübingen studiert und war Professor in Berlin.
33 Eine detailliertere Darstellung der Dialektik bietet Joachim Israel, Der Begriff Dialektik. Erkenntnistheorie, Sprache und dialektische Gesellschaftswissenschaft. Reinbek 1979.
34 Georg Wilhelm Friedrich Hegel, Grundlinien der Philosophie des Rechts. Hamburg 1955, §260; hier wie in den folgenden Zitaten wurden die Kursivsetzungen Hegels nicht übernommen.
35 Hegels berühmter Satz »Was vernünftig ist, das ist wirklich; und was wirklich ist, das ist vernünftig« (aus der Vorrede zu den Grundlinien der Philosophie des Rechts, a.a.O. § 14) hat deswegen auch eine soziologische Bedeutung: Normen und Werte sind nicht mehr aus der Perspektive einer besonderen Gruppe zu erfassen (Staatsmänner, Gelehrte, Priester), sondern aus der Perspektive aller, die erkennen, dass sie diese Ordnung selbst erzeugt haben.
36 Ebd., § 270
37 Ebd., § 258
38 Auguste Comte wurde 1798 in Montpellier geboren und starb 1857 in Paris. Ursprünglich Mathematiker und Physiker, gilt er als einer der Begründer der Soziologie. Bekannt wurde er auch als Begründer des Positivismus, der jede Metaphysik ablehnt.
39 Später setzt der im Alter religiös gewordene Comte den Fetischismus mit der Theologie gleich.
40 Schon die Physiokraten hatten drei Klassen unterschieden, nämlich die »produktive Klasse«, die Klasse der Grundeigentümer und die »sterile Klasse«. Comte konnte sich vor allem auf die frühsozialistischen Lehren von Saint Simon (dessen Sekretär er war) stützen, der die Gesellschaft in Produzierende und Nichtproduzierende einteilte, wobei er die erste Kategorie als »Industrielle« bezeichnete.
41 Auguste Comte, Plan der wissenschaftlichen Arbeiten, die für eine Reform der Gesellschaft notwendig sind, München 1973, S. 88
42 Raymond Aron, Hauptströmungen des klassischen soziologischen Denkens. Bd. 1, Reinbek 1979, S. 110
43 Comte, op. cit., S. 67
44 Aron, op. cit., S. 77
45 Denn für Comte hätten die wichtigsten Fortschritte des menschlichen Geistes von einem überlegenen Geist vorausgesehen werden können, da sie einer Art gottgegebenen Notwendigkeit folgen; Auguste Comte, Soziologie, Stuttgart 1974, S. 470f
46 Vgl. Peter Hamilton, Knowledge and Social Structure. An Introduction to the Classical Argument in the Sociology of Knowledge, London u. Boston 1974, Kap. 2 und 3
47 Ludwig Feuerbach wurde 1804 in Landshut geboren. Er studierte u.a. Philosophie bei Hegel. Er lehrte an verschiedenen Orten, erhielt jedoch – auch aufgrund seiner religionsphilosophischen Schriften – nie eine Professur und starb 1872 in der Nähe Nürnbergs.
48 Ludwig Feuerbach, Das Wesen des Christentums. Bd. I, Berlin 1956, S. 51
49 Diese wissenssoziologischen Thesen sind, wie eingangs schon bemerkt, keineswegs Neuschöpfungen, sondern finden sich sogar schon bei den Vorsokratikern wie auch in anderen Fällen der internen oder externen Religionskritik. So meint etwa Xenophanes: »Doch wähnen die Sterblichen, die Götter würden geboren und hätten Gewand und Stimme und Gestalt wie sie […] wenn die Ochsen und Rosse und Löwen Hände hätten oder malen könnten mit ihren Händen und Werke bilden wie die Menschen, so würden die Rosse rossähnliche, die Ochsen ochsenähnliche Göttergestalten malen und solche Körper bilden, wie jede Art gerade selbst ihre Form hätte.« Xenophanes aus Kolophon, in: Diels, op. cit, S. 14f
50 Sinngemäß: Der Mensch ist des Menschen Gott.
51 Karl Marx kam 1818 in Trier in einer alten Rabbinerfamilie zur Welt. Er studierte Recht, Nationalökonomie und Philosophie in Berlin. Unter dem Einfluss von Feuerbach wandte er sich von Hegel ab. Während er seine Kritik der Wirtschafts- und Gesellschaftsordnung entwarf, lebte er zunächst in Paris, dann in Belgien und schließlich in London, wo er auch im Jahre 1883 starb.
52 Friedrich Engels kam 1820 als Sohn eines pietistischen Textilfabrikanten bei Wuppertal zur Welt. 1844 begegnete er Karl Marx, den er später auch finanziell unterstützte.
53 In den »Pariser Manuskripten« entwickelte Marx den Begriff der Entfremdung, der für seine gesamte Wissenssoziologie zentral ist. Und hier bildet er seine Form des Materialismus aus, namentlich durch die Verbindung der idealistischen Philosophie mit den ökonomischen Vorstellungen von Kapital, Arbeit und Privateigentum. In der mit Engels gemeinsam verfassten »Deutschen Ideologie« nimmt er diese Argumente auf. Daneben entfaltet er eine langatmige Kritik an Bauer, Strauss und Stirner, die uns hier nicht zu interessieren braucht. Trotz der Hervorhebung der »Deutschen Ideologie« sollte man beachten, dass Marx im Laufe seiner Arbeit deswegen immer stärker die ökonomischen Aspekte in den Vordergrund hebt, weil er von ihnen eine wissenschaftliche Begründung seiner Thesen erhoffte.
54 Karl Marx und Friedrich Engels, Thesen über Feuerbach, in: Werke Bd. 3, Berlin 1969, S. 5f
55 Karl Marx und Friedrich Engels, Die deutsche Ideologie, in: Werke Bd. 3, Berlin 1969, S. 27 u. S. 38
56 Diese Unterscheidungen trifft Jürgen Ritsert, Ideologie. Theoreme und Probleme der Wissenssoziologie. Münster 2002. Auch hinsichtlich des Ideellen unterscheidet er mehrere Bedeutungen: Darunter werden Handlungsregeln, Normen, schriftlich oder mündlich überlieferte Inhalte und schließlich Werte wie Wahrheit, Schönheit und Sittlichkeit verstanden.
57 Marx/Engels, Deutsche Ideologie, op. cit., S. 29
58 Darunter fasst Marx diejenigen Kräfte, die in den Dienst der Produktion gestellt werden: körperliche und geistige Fähigkeiten der Menschen, Naturkräfte und -stoffe sowie die Kräfte, die aus der sozialen Anlage der Produktion resultieren.
59 Marx/Engels, Deutsche Ideologie, op. cit., S. 31
60 Ebd.
61 Marx/Engels, Deutsche Ideologie, op. cit., S. 47
62 Karl Marx und Friedrich Engels, Das Kapital, Bd. 1, Berlin 1982, S. 93
63 Marx/Engels, Deutsche Ideologie, op. cit., S. 46
64 Marx/Engels, Deutsche Ideologie, op. cit., S. 47
65 Ebd., S. 33
66 Marx, Karl, Der achtzehnte Brumaire des Louis Bonaparte, in: Karl Marx und Friedrich Engels, Studienausgabe. Bd. 2: Geschichte und Politik, Frankfurt 1966, S. 34-121
67 Georg Assmann u.a. (Hg.), Wörterbuch der marxistisch-leninistischen Soziologie, Berlin 1977, S. 509
68 Marx/Engels, Deutsche Ideologie, op. cit., S. 32
69 Marx/Engels, Deutsche Ideologie, op. cit., S. 33. Eine detaillierte Darstellung der Entfremdung bietet Istvan Meszaros, Der Entfremdungsbegriff bei Marx, München 1973.
70 Wie leicht zu erkennen, knüpft Marx beim Gedanken des Fetischismus der Ware an die Religionskritik an, wie wir sie etwa von Holbach kennen: Hausgemachte Produkte der Menschen erscheinen ihnen als fremde Mächte, die sie in ihrer vermeintlichen Ohnmacht verehren.
71 Marx, Das Kapital. Bd. 1, op. cit., S. 85
72 Alexander A. Bogdanov, Die Entwicklungsformen der Gesellschaft und die Wissenschaft, Berlin 1924; Otto Bauer, Das Weltbild des Kapitalismus, in: O. Jenssen (Hg.), Der lebendige Marxismus. Jena 1924
73 Gunter W. Remmling, Marxism and Marxist Sociology of Knowledge, in: ders., op. cit., S. 135152, S. 143. Während sich die Positivisten vor allem auf die Spätschriften von Marx stützen, halten die »Historizisten« die Frühschriften in hohen Ehren.
74 Friedrich Nietzsche wurde 1844 in Sachsen geboren. Er studierte in Bonn und Leipzig klassische Philologie und wurde 1869 als außerordentlicher Professor an die Universität Basel berufen. 1889 erlitt Nietzsche einen Zusammenbruch und verbrachte die letzten elf Jahre seines Lebens bis zu seinem Tod im Jahr 1900 in geistiger Umnachtung. Er kam zwar aus einem protestantischen Pfarrhaus, kritisierte das Christentum jedoch sehr heftig. Nietzsche schloss an den Arbeiten von Arthur Schopenhauer an, der in seiner »Kritik der Vernunft« anstrebt, die Vernunft aus ihrem religiöschristlichen Rahmen zu befreien.
75 Michel Foucault, Die Wahrheit und die juristischen Formen, Frankfurt 2002, S. 24
76 Es ist zu bedenken, dass Nietzsche in seiner Auffassung der Erkenntnis auch vom Materialismus (in diesem Fall Friedrich Albert Langes) beeinflusst war, von dem er die Auffassung übernahm, dass unsere Sinnenwelt ein Produkt unserer körperlichen Organisation sei, so dass die Welt wie eine Art Black Box erscheint, die nur in ihren Wirkungen auf uns erkennbar sei.
77 Hans Barth, Wahrheit und Ideologie, op. cit., S. 226
78 Friedrich Nietzsche, Die fröhliche Wissenschaft. Kritische Gesamtausgabe (hgg. v. G. Collin und M. Montinari), Berlin u. New York 1973, § 109
79 Friedrich Nietzsche, Zur Genealogie der Moral, München 1973, S. 37 (§14)
80 Max Scheler, Das Ressentiment im Aufbau der Moralen, in: ders., Vom Umsturz der Werte, Bern und München 1972, S. 38
81 Vgl. dazu auch Horst Baier, Die Gesellschaft – Ein langer Schatten des toten Gottes, in: Nietzsche-Studien 10-12, S. 6-33
82 Barth, Wahrheit und Ideologie, op. cit., S. 218
83 Der Wille zur Wahrheit findet jedoch auch andere, weniger friedliche soziale Formen: als Eroberung und Kampf mit der Natur, als Widerstand gegen regierende Autoritäten und als Kritik des in uns Schädlichen.
84 Sigmund Freud (1856-1939), Wiener Arzt und Neurologe, ist der weltberühmte Begründer der Psychoanalyse, in der das Unbewusste in die psychologische Forschung und Therapie einbezogen werden sollte.
85 Sigmund Freud, Totem und Tabu. Gesammelte Werke. Bd. 9, Frankfurt 1968 (4. Aufl.), S. 81
86 Ebd., S. 91; Vgl. auch Sigmund Freud, Der Mann Moses und die monotheistische Religion, in: Gesammelte Werke 16, Frankfurt 1968 (3. Aufl.)
87 Sigmund Freud, Zwangshandlungen und Religionsübungen, in: Gesammelte Werke. Bd. 7, Frankfurt 1964 (4. Aufl.), S. 138f; unter einer Neurose versteht er eine krankhafte Fehlentwicklung des Seelenlebens, die durch unverarbeitete seelische Konflikte verursacht wird. In der Zwangsneurose äußern sie sich in Zwangsgedanken oder -handlungen.
88 Sigmund Freud, Werke aus den Jahren 1925-1931, in: Gesammelte Werke. Bd. 14, London 1948, S. 340
89 Gilles Deleuze und Félix Guattari, Kapitalismus und Schizophrenie. Antiödipus, Frankfurt 1981
90 Vilfredo Pareto wurde als italienischer Staatbürger 1848 in Paris geboren und starb 1923 bei Genf. Er war Professor für Nationalökonomie in Lausanne und Mitbegründer der Lausanner Schule für Grenznutzen.
91 Vilfredo Pareto, Ausgewählte Schriften, München 1975, S. 121
92 Vilfredo Pareto, Trattato di sociologie generale, Mailand 1964, § 1397
93 Ebd., § 1400
94 Carlo Mongardini, Paretos Soziologie um die Jahrhundertwende, in: Pareto, Ausgewählte Schriften, op. cit., S. 5-54, S. 25
95 Vilfredo Pareto, System der allgemeinen Soziologie. Eine Einleitung. Texte und Anmerkungen von Gottfried Eisermann, Stuttgart 1962, S. 107
96 Crespi und Fornari, Introduzione, op. cit., S. 89
97 Pareto nach Mongardini, Paretos Soziologie, op. cit., S. 37
98 Ebd., S. 48f
99 Georges Sorel, Über die Gewalt, Innsbruck 1928
100 Theodor Geiger, Ideologie und Wahrheit, op.cit., S. 18
101 Ebd., S. 19