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[12][13]Einleitung

Im Lexikon bedeutet Wissen so viel wie etwas »gelernt«, »erkannt«, »erfahren« oder »im Gedächtnis haben«. Wissen hängt etymologisch auch mit visere (besichtigen, besuchen, zu sehen wünschen) zusammen. Enthalten ist darin das altindische veda, das bedeutet, dass man etwas weiß oder kennt. Seit dem 16. Jahrhundert enthält der Begriff auch die Bedeutung von »durch Forschung und Erfahrung erworbene Erkenntnisse, geistige Erkenntnis«. Betrachtet man das Wortfeld, dann liegt der Begriff der Erkenntnis in der Nachbarschaft des Wissens. Im Deutschen verbindet sich damit die Differenz zwischen passivem Wissen, das man »hat«, und Erkenntnis, die man aktiv »machen« kann. (Allerdings kann Erkenntnis semantisch durchaus auch etwas sein, das als Einfluss äußerer Wirkungen erscheint, und auch Wissen kann »erworben« werden.) Im Vergleich der Sprachen ist die Nachbarschaft von Wissen und Erkennen bedeutsam, denn beide semantischen Aspekte sind im englischen knowledge vereint. Die romanischen Sprachen betonen z.B. als connaissance oder conoscenza die Kenntnisse, pflegen daneben noch die enge Nachbarschaft zum savoir oder zum sapere, in dem das Können mitschwingt. Angrenzend an das deutsche ›Wissen‹ finden wir Begriffe wie Erfahrung, Glauben, Meinung, Einbildung, Vorstellung, die andere Formen der geistigen Aktivität darstellen. Sie werden oft im Widerstreit zu Wissen angeführt, als andere »Medien« oder »Formen« des Wissens, das, wie manche meinen, in diesen Fällen dann als rational und explizit angesehen werden muss. Gefühle, Emotionen und andere psychische Zuständen stehen im weiträumigeren Umfeld des Begriffes.

Die Philosophie erhebt einen altehrwürdigen Anspruch auf das Wissen. Wissen und Erkenntnis zählen zu ihren bedeutendsten Themen, die auf höchst unterschiedliche Art behandelt werden. Manche unterscheiden zwei zentrale Modelle: Nach dem ikonischen Modell ist Wissen ein adäquates Abbild (mentaler Art) eines Wissensobjektes; nach dem propositionalen (oder nominalistischen) Modell ist Wissen eine wahre Aussage. Die erste Erklärungslinie, für die Begriffe wie Wahrnehmung und Erinnerung prototypisch sind, reicht von den Stoikern bis zu Kant und dem Idealismus. Die zweite, für die die wissenschaftliche Proposition typisch ist, reicht von Aristoteles über Leibniz und weit darüber hinaus. Neben diese könnte man jedoch zahllose andere Erklärungen stellen: idealistische, sensualistische, materialistische etc. Theorien der Erkenntnis. Ihre Vielfalt verdankt sich der Bedeutung ihres Gegenstands. Man darf wohl sagen, dass die Erkenntnistheorie eine der tragenden Säulen der Philosophie ist.

Vor dem Hintergrund der philosophischen Überlegungen wird die Besonderheit des wissenssoziologischen Zugangs deutlich. Die alte Erkenntnistheorie stellt sich Erkenntnis als einen Vorgang vor, der sich zwischen der wahrnehmenden, erfahrenden Person (bzw. dem Subjekt oder dessen Geist) und dem Erkenntnisgegenstand [14]abspielt. Erkenntnis also ist eine Art solitärer Prozess, der sich zwischen Erkennendem und Erkanntem vollzieht. Man kann das an einer Illustration veranschaulichen, die – wie weite Teile der Erkenntnistheorie – durchaus von der visuellen Metapher des Erkennens geprägt ist. Sehr allgemein gesprochen gibt es dabei zwei Richtungen der Erkenntnis: Sie besteht in einer Wahrnehmung eines Gegenstandes durch ein Subjekt oder in der Bezugnahme des Subjekts auf den Gegenstand: Unabhängig davon, ob man sich Erkenntnis als aktive Leistung des Subjekts vorstellt oder als passives Einwirken von Reizen auf das Subjekt, zeichnet sich das »erkenntnistheoretische« Modell doch vor allem durch die zweistellige Relation zwischen Erkenntnisobjekt und Erkenntnissubjekt aus:

Abb. 1: Relation zwischen Erkenntnissubjekt und -objekt

Die wissenssoziologische Betrachtungsweise unterscheidet sich von dieser erkenntnistheoretischen Betrachtungsweise grundlegend: Sie sieht die erkennenden Menschen als Teil eines sozialen Zusammenhangs, der selbst in den Prozess des Erkennens und den Inhalt des Erkannten bzw. Gewussten eingeht. Deswegen könnte man auch von einer soziologischen Erkenntnistheorie reden. Man kann diese soziologische Wende der Erkenntnistheorie anhand der Kritik an Kant deutlich machen. Hinter Kants Frage, »Wie ist wahres Wissen möglich?«, verbirgt sich die genuin soziologische Frage »Wie ist es möglich, dass in der Erfahrung eines Individuums etwas auftritt, was nicht nur seine Erfahrung ist, sondern die Erfahrung eines jeden sein könnte?«1 Wissen und Erkenntnis ist nicht nur ein individuelles Vorkommnis, sondern ein soziales Ereignis. Lesen und Schreiben etwa sind nicht weniger soziale Akte als Reden und Zuhören. Erkenntnistheorie ist immer auch Gesellschaftstheorie.2

Die Sozialität von Wissen und Erkennen ist die zentrale These und das Kernthema der Wissenssoziologie. Diese bezieht sich keineswegs nur auf Wissen generell, sondern auch auf die Philosophie und ihre Erkenntnistheorie, welche somit zur Wissenssoziologie werden. Schon in der älteren Wissenssoziologie wird die Sozialität der Philosophie gern am Zusammenhang zwischen nationalen Kulturen und Ausprägungen [15]des philosophischen Denkens aufgezeigt. Damit ist zum Beispiel die Neigung der deutschen Philosophie zur Metaphysik gemeint. Ihren sozialen Grund sieht man in der abgehobenen Lage der verbeamteten Philosophen und einem politisch wenig selbstständigen Bürgertum, das sich bei der späten Nationenbildung auf den alten Adel stützte. Bekanntlich war die deutsche Philosophie wesentlich von den protestantischen Mittelklassen, ja nicht unwesentlich vom protestantischen Pfarrhaus geprägt.

In England dagegen standen die Philosophen in einer engen Beziehung zum Handel treibenden und Waren produzierenden Bürgertum, was die Nähe der britischen Philosophie zum Empirizismus und Realismus erklärt. Andere Wissenssoziologen gehen sogar so weit, die pragmatistische Ausrichtung der amerikanischen Philosophie auf den Umstand zurückzuführen, dass die amerikanischen Universitäten schon im 19. Jahrhundert von Geschäftsleuten kontrolliert worden seien. Deren Forderungen nach nutzbarem Wissen drücke sich in dieser Philosophie darin aus, dass eine aktivistische Konzeption des Menschen vertreten wird, welche das Denken dem Primat des Handelns unterstellt. Um es plakativ auszudrücken: Wirklich ist, was sich im Handeln als nützlich bewährt.3

Auch in der jüngeren Wissenssoziologie bleibt der Zusammenhang zwischen philosophischer Erkenntnis und Sozialität ein Thema, wie etwa in Collins’ Soziologie der Philosophien.4 Collins untersucht die verschiedensten philosophischen Schulen, Bewegungen und Milieus – vom antiken Griechenland über das alte Indien bis zum Wiener Kreis und der phänomenologischen Bewegung im 20. Jahrhundert. Die spezifisch wissenssoziologische Ausrichtung seiner Untersuchung wird an seiner Leitthese deutlich: Die Geschichte der Philosophie sei im Grunde eine Geschichte der Gruppen, die philosophieren. Denn Philosophieren werde vor allem durch Kommunikation geprägt. Diese Kommunikation bestehe aus Vorträgen, Konferenzen, Symposien, Diskussionen, Debatten. Durch solche Kommunikation bildeten sich netzwerkartige Strukturen aus, die »Stars«, einen »inneren Kern«, einen »äußeren Kern«, vorübergehend Zugehörige, Publikum und Möchtegernmitglieder enthielten. Die Zusammengehörigkeit werde durch Kontakte erzeugt, die auch institutionalisiert sein können: Schulen, Akademien, Institute seien bekannte Formen, an die schließlich entsprechende Professionalisierung anknüpfe. Die innere Dynamik der Gruppen werde geprägt von Interaktionsritualketten, kulturellem Kapital, das aus den darin vermittelten Symbolen stamme, und emotionaler Energie, die aus der erfolgreichen Durchführung von Interaktionsritualen resultiere. Intellektuelle Gruppen, Ketten von Meister-Schüler-Verhältnissen und Rivalitäten in der Gegenwart bildeten das strukturierte Feld der Kräfte, innerhalb dessen philosophiert werde.

[16]Aus dieser Perspektive sind philosophische Gedanken nicht Ausfluss einzelner Denker; vielmehr sei es die innere Struktur der intellektuellen Netzwerke, die Gedanken gestalte, und zwar sowohl durch die Koalitionen und Oppositionen der gleichzeitig lebenden Beteiligten (also »horizontal«) wie auch durch die Allianzen mit historischen Vorläufern (»vertikal«). Gruppenstrukturen ordneten nicht nur das Denken; sie seien auch die Motoren der Kreativität. Kreativität werde durch den Wandel in der Struktur der intellektuellen Gemeinschaften erzwungen, und zwar vor allem durch zwei Mechanismen: Rivalitäten und Allianzen. Die Rivalitäten und Aufspaltungen zwängen Denker dazu, ihre Eigenheiten zu maximieren, Allianzen dagegen förderten eine Kreativität der Synthesis, die schwächer werdende Gruppen und entsprechende Gedanken zusammenführten.

Natürlich bewegen sich philosophische Gruppen auch in einem organisatorischen, politischen und ökonomischen Kontext, so dass sich die Frage stellt, in welchem Verhältnis Größe und Struktur der Gruppen zu diesem Kontext stehen. Da es sich in beiden Fällen um soziologische Kategorien handelt, stützt Collins das wissenssoziologische Argument, dass das philosophische Denken (und damit auch die Erkenntnistheorie) in hohem Maße von der sozialen Struktur abhängt, so dass diese gar die »Logik« der philosophischen Gedankenentwicklung bestimmt.

Collins Betrachtungsweise ist keineswegs so revolutionär, wie sie sich auf den ersten Blick ausnimmt. Schon in der älteren deutschen Wissenssoziologie gab es mehrere Versuche, die Inhalte insbesondere der griechischen Philosophie auf ihre soziale Struktur zu beziehen.5 Wissen, so die zentrale These der Wissenssoziologie, ist wesentlich sozial.

Die Erläuterung und Erklärung der Sozialität des Wissens wird deswegen eines der zentralen Themen dieses Buches sein. Sie erweist sich als überaus bedeutsames, jedoch keineswegs einziges durchgängiges Thema der Wissenssoziologie. Auch ein anderes ihrer Themen steht in der Tradition der Erkenntnistheorie. Es handelt sich dabei um eine Unterscheidung, die schon Platon vorgeschlagen hat. Eine Form des Wissens ist sprachlicher Natur, die andere Form ist dagegen unmittelbar, also eine Art der Erkenntnis, die nicht den »Umweg« über die Formulierung von Sätzen nehmen muss. Zentral ist für ihn die Unterscheidung von Wissen (έπιστήμη) und Meinung (δοξα). Meinung bezieht sich nie auf Wahrnehmung selbst, sondern auf etwas Wahrgenommenes; sie ist wandelbar und zwiespältig, d.h. entweder wahr oder falsch. Sie führt nicht zu Wissen. Wissen oder έπιστήμη (»episteme« – daher auch der Begriff der Epistemologie) verhält sich zur Meinung wie Augenzeugenerfahrungen zu Aussagen. Wissen unterscheidet sich von Meinungen durch Erfahrungen im Bereich der wahrnehmbaren Welt.6 Der wissenssoziologische Zugang unterscheidet sich überdies vom philosophischen dadurch, dass er die »Meinung« im platonischen Sinn der »δοξα« [17](»doxa«, »sensus communis«, »common sense« etc.) keineswegs notwendig als Abfallprodukt des Wissens ansieht. Ganz im Gegenteil rücken zahlreiche Wissenssoziologen die »Meinungen« in den Mittelpunkt ihrer Aufmerksamkeit, ja manche gehen sogar soweit, alles Wissen zur Meinung zu erklären.7 Um diese Perspektive zu charakterisieren, könnte man von einem kritischen Wissensbegriff in der Wissenssoziologie (etwas radikaler könnte man auch von epistemologischem Agnostizismus) reden. Sehen wir einmal von den positivistischen Vertretern der Wissenssoziologie (und der »Wissensgesellschaft«) ab, wird Wissen nicht auf »wahres« Wissen reduziert. Die Wissenssoziologie stellt immer die Frage danach, wer denn welches Wissen für wahr hält. Wahrheit also ist Geltung, und diese Geltung ist sozial bestimmt.

Genau an dieser sozialen Geltung entzündet sich eine Debatte, die das dritte, für die Wissenssoziologie konstitutive Thema beschreibt: die »soziale Determination« oder »Prägung« des Wissens. Auch hier lassen sich zwei grundlegend verschiedene Positionen beobachten. Der ersten Position geht es um das Verhältnis von Wissen als eigenständiger Kategorie zur Gesellschaft als ebenso abgeschlossene Einheit. Zwar gibt es außerordentlich scharfe Kontroversen darüber, wie dieses Verhältnis gefasst werden soll, doch besteht über alle Kontroversen hinweg die Auffassung, dass diese zwei Größen zunächst voneinander getrennt werden müssten, bevor man sie aufeinander beziehen könnte. Deswegen möchte ich dieses Modell als korrelationistisch bezeichnen.8

Die zweite Position wird vor allem mit der Erneuerung der Wissenssoziologie durch Berger und Luckmann in Verbindung gebracht.9 Wissen wird hier nicht von der Sozialstruktur getrennt. Vielmehr gilt es als konstitutiv für die soziale Ordnung und die gesamte Wirklichkeitskonstruktion. Dies gelingt dadurch, dass Wissen auf Handeln bezogen oder sogar in einzelnen Begriffen (»Praxis«, »Habitus«, »Diskurs«) miteinander verschmolzen wird. Ich werde eine solche wissenssoziologische Betrachtung als integrativ bezeichnen.

Die zentrale Fragestellung der Wissenssoziologie lässt sich also grob durch drei Kategorienpaare bestimmen, die auch ihre Geschichte leiten: Wie und in welchem Ausmaß ist Wissen sozial? (Sozialität vs. Subjektivität)? Ist diese Sozialität ein Bestimmungsverhältnis oder ist Wissen grundsätzlich sozial (Integration vs. Korrelation)? Und in welchem Maße haben wir es dabei mit »Wissen« zu tun und nicht vielmehr mit Glauben (Episteme vs. Doxa)?

[18]Freilich muss man einräumen, dass die verschiedenen Ansätze der Wissenssoziologie noch weit mehr Fragen ansprechen. Eine der immer wiederkehrenden Fragen richtet sich auf das »verborgene«, »selbstverständliche« oder »verdeckte« Wissen. Es handelt sich um ein Wissen, das »in der Kultur« angelegt sein kann, in der Sprache verankert ist, in der Tradition oder den Institutionen verkörpert wird, wie etwa die »Paradigmen« der Wissenschaft oder die »sozialen Topoi« des Denkens; oder es kann sich um Wissen handeln, das im Individuum oder Subjekt lungert, wie etwa die Lebenswelt oder das »implizite« Wissen. Eine ebenso bedeutende Frage betrifft die Unterscheidung des Parmenides in »wahres« und »falsches« Wissen, die Widerspruch ausschließt und einen ganz eigenen Wissensbegriff einführte. Diese Unterscheidung deckt sich zwar für manche mit der zwischen Episteme und Doxa, sie kann aber auch Überschneidungen mit der Sozialität bzw. Individualität des Wissens aufweisen: Nur individuelles Wissen kann als perspektivisch, aber nicht intersubjektiv erscheinen. Dagegen kann auch Soziales (etwa Macht) als Geltungsgrund für die Wahrheit gelten. Hierunter kann man das gebilligte und nichtgebilligte Wissen fassen, aber auch das subjektiv erworbene Erfahrungswissen und das gesellschaftlich über andere vermittelte Wissen, das zuweilen als Ideologie erscheinen kann. Überdies überschneidet sich die Scheidung von Wahrem und Falschem mit der zwischen nützlichem, funktionalem und unnützem, dysfunktionalem Wissen.

Man könnte diese Liste verlängern. Es zeigt sich jedoch, dass all die zusätzlichen Dimensionen gleichsam in einem Raum verortet werden können, der durch die drei erwähnten Achsen gebildet wird. Sozialität-Subjektivität, Doxa-Episteme und Integration-Korrelation stellen die Extreme der drei Achsen dar, an denen entlang sich die Wissenssoziologie entwickelt und durch die sie bestimmt werden kann: Wollte man sich dies geometrisch vorstellen, so könnte die Sozialität (oder Individualität) des Wissens als Abszisse dienen, die Differenz von Episteme und Doxa spannte die Ordinate auf, und mit der Achse Integration bzw. Korrelation öffnete sich die wissenssoziologische Fragestellung zu einem dreidimensionalen Raum, den das folgende Buch beschreiben will.

Geben wir einen kurzen Überblick über den argumentativen Aufbau des Buches: Die Darstellung beginnt mit einem historischen Abriss, der – wie auch die Soziologie – den Schwerpunkt auf die Moderne legt.10 Ein deutliches Kennzeichen der entstehenden Moderne in der frühbürgerlichen Phase ist die Ausdifferenzierung von Religion und Wissenschaft. Ein pathetischer Begriff der Erkenntnis entsteht neben einem (an die Religion gebundenen) aufkommenden Ideologiebegriff, der hinter unwissenschaftlichem Wissen immer die Frage stellt: cui bono? In der folgenden [19]Phase wird dann die Natur von der Geschichte so abgelöst, dass sie als abgegrenzte Entität zum Gegenstand der Naturwissenschaft und Technik werden konnte. Der Gegenwart der selbst fabrizierten Wirklichkeit der Geschichte widmet sich die allmählich aufkommende Soziologie (selbst ein Ergebnis der Ausdifferenzierung), die die Zusammenhänge zwischen dem Menschengemachten und dem menschlichen Verstande erkennt. Zu Beginn des 20. Jahrhunderts kommt es zu einem offenen Umbruch und einer ideologischen Zersplitterung bzw. (wie man es später nennen wird) einer kulturellen Pluralisierung der Gesellschaft, die den Anlass für einen ersten Höhepunkt der Wissenssoziologie im engeren Sinne gibt. Auf diese dritte Phase folgt schließlich die konstruktivistische Wissenssoziologie, die gesellschaftliche Institutionen als verdinglichtes Handeln, als vergegenständlichtes Wissen behandelt. Die Theorie der ›gesellschaftlichen Konstruktion‹ bildet nicht nur einen zweiten Höhepunkt, sie bildet einen regelrechten Wendepunkt der Wissenssoziologie. Indem sie die integrative Perspektive begründet, erlaubt sie einen Blick auf die zentrale Rolle des Wissens für die Gesellschaft, das nun keineswegs mehr in Verbindung mit der Ideologie gedacht werden muss.

Wir werden uns in diesem II. Teil des Buches mit einer Reihe von Ansätzen beschäftigen, die sich teilweise parallel, teilweise nacheinander entwickelt haben. Bei aller Vielfalt der Ansätze lassen sich doch einige große thematische Richtungen entdecken, die diese wissenssoziologische Forschung genommen hat. Insbesondere in der deutschsprachigen und teilweise auch in der angelsächsischen Wissenssoziologie können wir eine starke Tendenz der Verlagerung von Wissen zur Kommunikation beobachten. Das mag zum Teil mit dem bekannten »linguistic turn« zusammenhängen, also jener Wende, die durch die Erkenntnis der zentralen Rolle sprachlicher Formen, Prozesse und Handlungen für das menschliche Denken bewirkt wurde. (An dieser Erkenntnis war, wie wir gesehen haben, auch die phänomenologische Tradition spätestens seit Schütz mit beteiligt, selbst wenn Wittgenstein oder Austin häufig als ihre wesentlichen Initiatoren genannt werden.) Die Bedeutung der Sprache war auch für die französische Wissenssoziologie prägend, wenngleich in einer davon abweichenden Linie. Hier war der von de Saussure begründete und von Lévi-Strauss auf die Sozialwissenschaften angewandte Strukturalismus ausschlaggebend. Die Ansätze von Foucault und Bourdieu sind ohne diesen Hintergrund nicht zu verstehen. Sowohl Foucault wie auch Bourdieu sind nicht nur vom Funktionalismus geprägt. Sie haben sich so stark gegen den Strukturalismus gewandt, dass sie als »Poststrukturalisten« bezeichnet wurden. Dies gilt ebenso für einen angelsächsischen Ansatz, der unter dem Titel »Cultural Studies« bekannt wurde.

Beschäftigt sich das II. Kapitel mit theoretischen Ansätzen, so widmet sich das III. Kapitel einer Reihe von substantiellen Themen, die von der gegenwärtigen Wissenssoziologie behandelt werden. Dazu gehört zum einen die Wissenschaft (III A), deren Geltungsansprüche nun selbst wissenssoziologisch untersucht werden. Auch die Debatte um die Informations- und Wissensgesellschaft (III B) muss hier erörtert werden. Zu den bedeutsamen Themen der Wissenssoziologie zählt auch die gesellschaftliche [20]Verteilung des Wissens (III C): In welcher Beziehung steht die gesellschaftliche Zugänglichkeit des Wissens mit der Struktur der sozialen Ungleichheit und der Ordnung der Institutionen? Wir kommen in diesem Zusammenhang auch auf die Träger von Sonderwissen zu sprechen, wie etwa Intellektuelle, Experten und Professionelle, sowie auf die soziale Verteilung des Wissens.

Wie dann gezeigt wird, beschränkt sich die wissenssoziologische Betrachtungsweise keineswegs auf die professionell betriebene Soziologie. Vielmehr zeigt schon die Debatte um die Wissensgesellschaft oder die Wissenschaftsforschung, wie sehr die wissenssoziologische Frage nach dem Zusammenhang von Wissen und Gesellschaft zu einem Thema auch für andere Disziplinen geworden ist und zuweilen sogar in die Öffentlichkeit hineinspielt. Diese wachsende Bedeutung einer wissenssoziologischen Forschung außerhalb der Wissenssoziologie skizziere ich unter dem Titel der Wissensforschung (III D). Erwähnenswert ist hier die Debatte um das kollektive Gedächtnis, die in der Soziologie einsetzt, dann aber vor allem in der Geschichtswissenschaft und den »Kulturwissenschaften« aufgenommen wird. Eine große Rolle spielt auch die anthropologische und sozialpsychologische Kognitionsforschung, deren Fragestellungen sich mit denen der Wissenssoziologie deutlich überlappen. Ebenso hat die Heraufkunft der neuen Medien die Frage aufgeworfen, inwiefern Medien bestimmte Formen des Wissens präferieren oder prägen. Und abschließend werde ich auch kurz auf die Diskussionen des Wissensmanagements zu sprechen kommen, die klassische Fragen der Wissenssoziologie bis tief in die organisatorische und wirtschaftliche Praxis hineintragen.

Die »tour d’horizon« der Wissenssoziologie mündet in einen Schluss, der die Entwicklungen der Wissenssoziologie in groben Umrissen skizziert, die sich seit der Erstveröffentlichung des Buches im Jahre 2005 abzeichnen. Zum Abschluss möchte ich einen Versuch unternehmen, den zentralen Begriff des Wissens zusammenfassend zu bestimmen.

1 Vgl. Max Adler, Marxismus und Kantischer Kritizismus, in: Archiv für die Geschichte des Sozialismus, 1925

2 Auch in der Philosophie wird das Problem der Sozialität des Wissens aufgenommen, etwa unter dem Titel der »Social Epistemology«. Allerdings ist dort die Rezeption der Wissenssoziologie noch nicht sehr weit fortgeschritten; vgl. dazu Frederick F. Schmitt (Hg.), Socializing Epistemology. The Social Dimensions of Knowledge, Boston u. London 1994

3 Werner Stark, The Sociology of Knowledge. An Essay in Aid of a Deeper Understanding of the History of Ideas, London 1958, S. 19f

4 Randall Collins, The Sociology of Philosophies. A Global Theory of Intellectual Change, Cambridge 1998

5 Paul Ludwig Landsberg, Wesen und Bedeutung der platonischen Akademie. Eine erkenntnissoziologische Untersuchung, Bonn 1923

6 Wolfgang Wieland, Platon und die Formen des Wissens, Göttingen 1982

7 Vgl. dazu James T. Borkeh und Richard F. Curtis, A Sociology of Belief, New York 1975

8 Die Schwierigkeiten, die eine solche »korrelationistische« Wissenssoziologie aufwirft, hat Geertz auf eine etwas polemische Weise auf den Punkt gebracht: »The sociology of knowledge […] is not a matter of matching varieties of consciousness to types of social organization and then running causal arrows from somewhere in the recesses of the second in the general direction of the first – rationalists wearing square hats sitting in square rooms thinking square thoughts, they should try sombreros[…]« Clifford Geertz, The way we think now: Ethnography of modern thought, in: Local Knowledge, New York 1983, S. 153

9 Diese Meinung wird auch vertreten von McCarthy, op. cit., S. 12, die eine der wenigen jüngeren Übersichten zur Wissenssoziologie verfasst hat.

10 Sehr plausibel erschien mir die Skizze der wissenssoziologischen Entwicklung von Michael Meuser und Reinhold Sackmann, Zur Einführung: Deutungsmusteransatz und empirische Soziologie, in: dies. (Hg.), Analyse sozialer Deutungsmuster. Beiträge zur empirischen Wissenssoziologie, Pfaffenweiler 1992, S. 9-37.

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