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Von wegen heiler Welt!

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Als Tom ungefähr ein Jahr bei Fichthoff als Verkaufsfahrer gearbeitet hatte, kam eines Morgens die Seniorchefin Frau Fichthoff auf ihn zu. Er hatte sich gerade auf den Fahrersitz seines Lkw geschwungen und wollte zu seiner üblichen Tour aufbrechen, als sie neben dem Tieflader auftauchte. »Kommen Sie heute Nachmittag bitte mal in mein Büro, Herr Schwarzenberg?«, rief sie zu ihm hinauf. »Klar, gerne!«, antwortete Tom. Er hatte keinen blassen Dunst, was sie von ihm wollte. Ob sie schlechte Nachrichten für ihn hatte? Er wusste nur: dass die Chefin jemand ins Büro beorderte, kam eher selten vor.

Den ganzen Tag über, auf seiner Tour zu den Gaststätten, dachte er immer mal wieder an das bevorstehende Gespräch, und es wurmte ihn, dass er nicht gleich gefragt hatte, um was es ging. Am Nachmittag stellte er den leeren Tieflader in den Hof, und statt wie üblich erst mal zu den anderen zu gehen und sie zu fragen, wie ihr Tag so war, machte er sich auf den Weg in das Büro der Seniorchefin. Ihre Tür stand offen, wie immer. Er klopfte an den Türrahmen, woraufhin Frau Fichthoff an ihrem Schreibtisch den Kopf hob und ihre Brille ins Haar schob. »Ach, Herr Schwarzenberg, da sind Sie ja schon! Kommen Sie ruhig rein«, sagte sie und lächelte ihn an. Tom atmete aus. Er nahm auf einem Stuhl vor Frau Fichthoffs Schreibtisch Platz.

»Sie sind ja nun schon eine Weile bei uns«, begann Frau Fichthoff das Gespräch. »Ja«, sagte Tom. »Und das sehr gerne. Ich mag meine Arbeit hier«, schob er noch hinterher. »Ja, das merken wir alle. Sie machen Ihre Arbeit sehr gut und Sie verstehen sich bestens mit Ihren Kollegen«, sagte Frau Fichthoff. »Wir brauchen allerdings aktuell dringend jemanden, der ein gewisses technisches Verständnis hat und unsere Getränke-Automaten in Firmen betreut. Und zwar sowohl für die Heiß- als auch die Kaltgetränke. Können Sie sich das vorstellen? Sie müssen sich auch nicht sofort entscheiden. Denken Sie ruhig ein paar Tage darüber nach und geben Sie mir dann Bescheid.«

Noch Jahre später sollte Tom immer wieder an dieses Gespräch zurückdenken. Denn es markierte für ihn den Anfang seines Aufstiegs in der deutschen Coca-Cola-Organisation – und war für ihn wichtiger als die Unterzeichnung seines ersten Arbeitsvertrags. Nachdem er das Angebot seiner Seniorchefin angenommen hatte, fuhr er ein knappes Jahr von Kunde zu Kunde, reparierte und bestückte die Getränkeautomaten, die in deren Unternehmen standen. Ende 1992 hatte er ein erneutes Gespräch mit Frau Fichthoff. Daraufhin wechselte er dann in den Verkauf. Das bedeutete für ihn: Mit den Preislisten und einem Karteikasten im Gepäck fuhr er die unterschiedlichen Kunden an und notierte deren Bestellungen auf Karteikarten. Zu Hause übertrug er dann die Bestellungen in spezielle Listen, die sie in der Firma auf DIN-A4-Format ausgedruckt hatten. Diese Listen brachte er schließlich nach Greventrop ins Verkaufsbüro, und dort übertrug Sylvie die Bestellung in die »EDV«, wie betriebliche Computersysteme damals überall noch genannt wurden.

Kurz nach seinem Wechsel in den Verkauf nahm Tom an seiner ersten Verkäufer-Tagung teil. Zwölf Kollegen waren es in seinem Unternehmen. Der Verkaufsleiter hieß Herbert. Er arbeitete schon 30 Jahre bei Fichthoff, hatte sich dort hochgearbeitet, war angesehen bei Kunden und Kollegen. Für Tom wurde er zu einer echten Vaterfigur, von der er viel lernte. Tom konnte sich auch noch Jahre danach an die erste gemeinsame Verkäufersitzung erinnern, die Herbert leitete. »Ich stelle euch jetzt erst mal die Agenda vor« – das waren die Worte, mit denen er die Sitzung eröffnete, während er gleichzeitig versuchte, den Tageslichtprojektor in Gang zu setzen. »Was, bitte, ist denn eine Agenda?«, fragte sich Tom im Stillen. Er kannte bisher nur Agenten, und die auch nur aus dem Kino. James Bond 007 und so. Tom hoffte, dass niemand merken würde, wie ahnungslos er noch war.

Seine Lernkurve war sehr steil in dieser Zeit. In der Runde mit seinen Verkaufskollegen fühlte er sich extrem wohl. Nach Feierabend tranken sie gerne ein Bierchen zusammen, sammelten in einem »Coca-Cola-Club« Geld, um sich zu ihren Geburtstagen immer ein Geschenk machen zu können. Die Partys, die sie feierten, waren legendär. Genau wie zuvor unter den Verkaufsfahrern fühlte sich Tom auch hier wie zu Hause. Sie waren eine Familie.

Das blieb auch so, als das Verkäufer-Team beschloss, das Verkaufsprozedere zu ändern und den Vorverkauf telefonisch abzuwickeln. Sprich: Kein Verkäufer würde mehr mit dem Karteikasten unter dem Arm zum Kunden fahren, dessen Bestellung aufnehmen, händisch in Listen übertragen und ins Verkaufsbüro tragen. Sondern die Verkäufer würden ihre Kunden anrufen und die Bestellung aufnehmen. Für die Kunden war dies eine große Umstellung. Waren sie es doch gewohnt, dass die Verkäufer zu ihnen ins Haus kamen, gemeinsam mit ihnen die Bestände inspizierten und auch gemeinsam mit ihnen überlegten, welche Getränke-Mengen sie nun ordern sollten. Dass dabei auch immer die eine oder andere Gratis-Leistung abfiel, gehörte schon fast zum guten Ton. Von diesen Privilegien mussten sich die Kunden nun verabschieden und sich daran gewöhnen, dass sie die Bestellung telefonisch durchgaben. Auch in den Verkaufsbüros bei Fichthoff änderte sich dadurch einiges. Die Bestellungen liefen schneller durch, denn sie waren weit weniger zeitaufwendig. Die Verkäufer konnten sich mindestens zehn Prozent der bisherigen Arbeitszeit mit den Bestellzetteln sparen, hinzu kam die Fahrtzeit, die sie nun ebenfalls einsparten. Und die Gespräche mit den Kunden liefen wesentlich kürzer ab. Tom hatte zwar den direkten persönlichen Kontakt zu ihnen geliebt, aber er sah auch ein, dass diese umständlichen Prozesse nicht ewig so aufrechterhalten werden konnten. Die Umstellung des Vorverkaufs auf den neuen Prozess wurde ihm übertragen. Er stieg zu Herberts Assistenten auf. Er, der Jahre zuvor als Verkaufsfahrer angefangen hatte. Tom war unglaublich stolz auf sich und das Unternehmen, dem er angehörte.

Es gab jedoch Kunden und auch Kollegen, die überhaupt nicht verstanden, warum der Verkaufsprozess dergestalt geändert wurde – es war doch alles immer rundgelaufen, warum also musste daran herumgeschraubt werden? Tom tat sein Bestes, um allen verständlich zu machen, warum diese Veränderungen nötig waren und welchen Nutzen sie ihnen allen brachten. Die Änderungen am Verkaufsprozess waren jedoch ein Kindergeburtstag gegen die Veränderung, die ihnen im Lauf des Jahres 1998 blühte.

Alles begann damit, dass die Konzernzentrale in Atlanta den Anstoß an die deutschen Konzessionärsgesellschaften gab, sich zu konsolidieren. Das eigenmächtige Wirtschaften der Konzessionäre war Atlanta mittlerweile ein Dorn im Auge, denn es schwächte die Verhandlungsposition gegenüber großen Kunden. 1997 wurde dann die erste große deutsche Konzessionärsgesellschaft gegründet, die Coca-Cola Erfrischungsgetränke GmbH. Toms Seniorchefin, Frau Fichthoff, hatte früh erkannt, dass ihr auf die Dauer nichts anderes übrigbleiben würde, als ihre Konzession und die entsprechenden Stimmrechte abzugeben. Zum 1. August 1998 hatten Tom und seine Kollegen also einen neuen Arbeitgeber. An diesem Tag kam ihre Seniorchefin morgens mit versteinerter Miene ins Büro. Sie begrüßte alle, wie sie das seit beinahe 27 Jahren jeden Morgen getan hatte, und ging in die Buchhaltung, um sich die Kontoauszüge des Tages geben zu lassen.

Statt sich nun aber wie üblich in ihr Büro zurückzuziehen und ihr Tagwerk aufzunehmen, verließ sie wortlos das Haus. Sie verschwand einfach. Und setzte nie wieder einen Fuß in das Firmengebäude. Tom und seine Kollegen standen unter Schock. Die Seniorchefin hatte sich nicht verabschiedet – von keinem von ihnen! Wie schwer musste es ihrer Seniorchefin gefallen sein, das Unternehmen zu verlassen, dass sie zum Abschied nicht einmal ihren langjährigen Mitarbeitern in die Augen sehen konnte. Niemand im Unternehmen wusste, wer nun ihr neuer Vorgesetzter war. Nicht nur die Seniorchefin war weg, sondern auch die ganze obere Führungsetage. Tagelang befanden sie sich in einer Art Vakuum – bis jemand kam, sich als ihr neuer Chef vorstellte und sagte: »Ich bin hier für euch verantwortlich!«

Dann ging alles ganz schnell: Es gab Zusammenschlüsse und Neuverteilungen von Vertriebsgebieten. Die ehemals rivalisierenden Verkaufsgebiete Greventrop und Ahrsee wurden zusammengelegt – und Tom nach Ahrsee beordert. Mit seinem neuen Chef kam er gut klar. Und auch sein neues Büro gefiel ihm gut. Die Kollegen aus dem Verkäufer-Team waren zum größten Teil dieselben wie bei Fichthoff, von daher sah er auch kein Problem. Aber der EDV-Mensch mochte ihn offenbar nicht. Denn anders konnte sich Tom nicht erklären, dass er wochenlang warten musste, bis sein neuer Rechner eingerichtet war und er endlich ungehindert arbeiten konnte. So schnell wurden aus Rivalen dann doch keine neuen Partner. Unter dem Strich dauerte es Jahre, bis die Animositäten aufhörten. Ganz so weit her war es mit der heilen Familie dann vielleicht doch nicht.

Tom blieb noch einige Jahre in seiner Funktion als Assistent des Verkaufsleiters. Zusammen mit einem Vorgesetzten entwickelte er viele neue Ideen und führte das Verkaufsteam auf eine Art und Weise, die schnell bei allen Coca-Cola-Konzessionären und der Muttergesellschaft Aufsehen erregte. Der Erfolg gab ihnen recht. Wovon dieser Erfolg sie jedoch nicht abhielt: die Welt um sich herum gründlich zu vergessen. Und die drehte sich einfach weiter.

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