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2 – Plantage

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Ich habe mich soeben selbst besiegt, ich bin on the top, wann war ich das zum letzten Mal? Ich weiß es nicht. Seit ich diesem Albtraum folge ist meine Erinnerung ein völlig leerer Raum. Jetzt liege ich auf allen Vieren auf der Mauer und ringe nach dieser unglaublichen Aktion, die die Unmöglichkeit Lügen straft, röchelnd nach Atem. Halleluja, wo ist der Champagner? Gerad noch habe ich der trostlosen Aussichtslosigkeit in die Augen gesehen die verfluchte Wand zu überwinden, und jetzt wage ich es nicht nach unten zu sehen, was mich auf er anderen Seite erwartet. Freude, Glück und Angst sind oft nur hauchdünne Nuancen voneinander getrennt.

Im Rest des Tageslichtes fällt mein Blick nach unten. Es dämmert, ich wähne mich auf einer Art Aussichtspunkt und suche nach Anhaltspunkten. Wo gibt es eine Straße, ein Gebäude oder irgendetwas von Menschenhand Erbautes? Meine Augen tasten den Landstrich unter mir rasterförmig ab. Warum kann ich nichts davon sehen? Wer hat dann diese sinnlose Wahnsinnsmauer erbaut? Ich kann nicht das geringste erkennen, was auf eine Besiedlung hindeuten würde. Shit happens. Stattdessen breitet sich unter mir eine mit üppiger Vegetation vollgestopfte Landschaft aus. Pflanzen, Büsche und Bäume. Bei näherer Betrachtung fällt mir trotz eingesetzter Dämmerung auf, dass die Botanik auffällig gleichmäßig verteilt ist, beinahe wie in einer Stadt-Gärtnerei. Tatsächlich, es hat die Optik eines überdimensionalen Gartens, soweit das Auge reicht. Symmetrische Pflanzenreihen, in ordentlichen zentimetergenauen Abständen. Das kann doch keine Laune der Natur sein, never.

Nur kurz währt dieser euphorische Moment mit der berechtigten Aussicht auf Zivilisation, schon holen mich die rationellen Gedanken wieder auf den Boden der Tatsachen zurück. Ich bin auf diese Mauer gekommen, aber ich muss auch wieder hinunter, um in diese sattgrüne Welt voller üppiger Vegetation zu gelangen. An der Höhe hat sich auch auf dieser Seite nichts geändert und Bäume, die nahe genug sind um auf dieselbe Weise auf den Boden zu gelangen, sehe ich hier nicht. Zu schnell geht die fortgeschrittene Dämmerung in stockdunkle Finsternis über und ich bin ein weiteres Mal ein Gefangener meiner Umgebung. Meine Gefängniszelle aber ist der Scheitelpunkt der Mauer, der aus einem schmalen Grat besteht und beiden Seiten in die Tiefe führt. Gratulation my Friend.

Ich mag die Nacht, ohne zu wissen warum. Sie ist mein, aber eben nicht heute und noch weniger hier an dieser exponierten Stelle. Wann hab ich überhaupt das letzte Mal etwas gegessen? Ist es der Hunger, der mich zu quälen beginnt, oder sind es wieder die stoßartigen Magenkrämpfe. Ich vermag es kaum zu unterscheiden, aber die Intensität ist es, die mich nachhaltig foltert. Dazu kommt neue Angst, die sich aufbaut wie ein herannahendes Gewitter. Ich liege flach auf dem Bauch und versuche mich vor dem weiter zunehmenden Westwind und dem Abrutschen in die Tiefe zu schützen. Meine Hände klammern sich in der völligen Dunkelheit wie ein Käfer krampfartig beidseitig an der Mauer fest, und die Angst einzuschlafen und abzustürzen befällt mich zunehmend. Das ist doch paranoid. Ich darf nicht einschlafen, auf keinen Fall, no.

Ein fahler Lichtschein fällt auf die Mauer, ist das jetzt real? Das fahle Licht nimmt zu. Vorsichtig drehe ich den Kopf zur Seite und kann einen aufgehenden Halbmond erkennen, der in dieser auswegslosen Situation wie ein Schutzengel exklusiv nur für mich zu leuchten scheint. Warum aber auch nicht? Weshalb sollte ich es bis hierher geschafft haben um mir dann in der Nichtigkeit einer mondlosen Nacht das Genick zu brechen, ohne dass jemand davon Kenntnis nimmt.Eine Katze hat sieben Leben, wie viele Leben habe ich? Diese Erkenntnis sollte mir Mut machen um endlich etwas zu unternehmen einen Weg nach unten zu finden. Allmählich gewöhn ich mich an das schwache Mondlicht. Es reicht aus, um vorsichtig in gebückter Haltung weiterzugehen. Es reicht auch aus, um Umrisse von dem zu erkennen was unter mir ist, es reicht allerdings nicht aus, um Details wie Bodenunebenheiten oder etwas in der Ferne zu erkennen. Eine Leiter würd mir helfen, doch warum sollte ausgerechnet hier jemand eine Leiter aufstellen. An diese Art von Wunder glaub ich nicht. Bestenfalls steht eine Bretterhütte oder eine Scheune an der schützenden Wand, die die Tiefe nach unten verkürzen könnte. Wie tief wird es sein? Könnte ich einen Sprung riskieren, versuchen federnd aufzukommen und mich dann musterhaft abzurollen wie es im Lehrbuch steht? Okay, nur eine Theorie, ich werd es nicht überstürzen. Mein konzentrierter Blick sucht immer weiter nach einem Objekt, das mir den Abstieg erleichtern könnte. Da und dort mein ich einen Gegenstand zu erkennen, nur um dann festzustellen, dass es nichts anderes als ein Schatten war. Doch jetzt hat es tatsächlich den Anschein, als ob sich da unten in der Tiefe ein kleiner Hügel entgegenwölben würd. Yes, definitiv, da unten zeichnet sich eine kleine Erhebung ab, wow. Wär es lediglich hohes Gras, dann würd es sich in der Brise bewegen, wie der Hintergrund. Es muss also fester Untergrund sein. Ein paar Schritte weiter steigt die Erhebung noch ein Stück weiter an, wenn auch die Tiefe immer noch respektabel genug ist. So oder so wird sich ein waghalsiger Absprung nicht vermeiden lassen. Wenn es einen Stuntman in mir gibt, dann bauche ich ihn jetzt dringender denn je. Das Kommando lautet: Auf die Mauer setzten, dann umdrehen und sich mit den Händen abstützen, den Körper nach unten gleiten lassen, solange ich mich mit den Fingern festhalten kann. Dann loslassen, beim Aufkommen unbedingt darauf achten, dass ich mich mit den Knien abfedere und mit einer Rolle die Wucht des Aufkommens vermindere.

Ich lieg am Boden, noch unentschlossen ob ich mir eine Verletzung zugezogen hab. Kann ich aufstehen? Der Adrenalinstoß lässt nach und eine Reihe von Körperstellen beginnen zu schmerzen als ob mich ein brutaler Boxer zusammengeschlagen hätte. Ich kann es im Augenblick nicht exakt lokalisieren. Es ist eine ganze Armee von dumpfen Schmerzen, keine stechenden. Mein Rücken, meine Schulter, meine Brust, meine Beine und meine Arme. Benommen lieg ich in einem Dickicht aus irgendwelchen Blättern, nachdem ich auf dem Hügel aufgekommen und wie ein Ball von dieser kleinen Erhebung hinuntergerollt bin. Ich realisiere plötzlich dieses intensive zitronenduftartige Aroma das mich umgibt als ob ich mitten in einem Gewächshaus sitzen würde. Leuchtende Glühwürmchen schwirren tanzend herum. Es lenkt mich ab an schwerwiegende Verletzungen zu denken und ich rapple mich ungelenkig auf, so wie ich es an diesem Tag schon einmal am Strand getan habe. Mit dem Gefühl, von einer Million blauer Flecken verunstaltet zu sein, kann ich mehr oder weniger aufrecht stehen. Wieder hab ich eines meiner Katzenleben verbraucht, sei es drum. I`m alive. Ich will gar nicht wissen, was mich als nächstes auf diesem Survival-Trip erwartet. Doch nun brechen mit einem Mal all die Erlebnisse dieses Desaster-Tages in einer Summe auf mich herein. Würd ich jetzt an dieser Stelle einfach so sterben, es wär mir egal. Ich bin einfach nur müd, so unbeschreiblich und unendlich müd. „Hey Mister!“ Ist das jetzt der Pförtner an der goldenen Himmelstür oder die Stimme, die einem lebendigen Menschen gehört? Obwohl mich die Morgensonne blendet erkenn ich unmittelbar vor mir das schwarzfarbige Gesicht des Prototyps eines mindestens zwei Meter großen Muskelpakets. „Hey, Weißbrotgesicht, was machst du da?

Ich weiß nicht, an wen mich dieser kahlgeschorene Mann mit der Figur eines Bären erinnert. „Ich, ich bin …. eingeschlafen.“

„Ist nicht zu übersehen Mister“

Wo kommt das Strohdach über meinem Kopf her? Ich liege auf zwei Strohsäcken, um mich herum Stauden, jeden Menge Stauden, Bananenstauden, und noch intensiver dieser ätherische Duft von Zitronen und Lavendel.

„Kein guter Platz zum Schlafen Mister.“

„Sorry Mann, das war die einzige Suite in der Gegend.“

Schmunzelt Black Man oder hat seine Mimik einen sarkastischen Unterton?

„Dann glaubst du wohl, dass ich der Zimmerservice bin?“

Black Man erinnert mich an diesen Sklavenroman von… Ich komm nicht drauf. „Sorry, ich weiß ja nicht mal wo ich hier bin.“

„Willst du mich auf den Arm nehmen Mister?“

„Seh ich so aus? Sieh dir meinen zerschundenen Anzug an Mann, dann weißt du, dass ich nicht mit dem Taxi gekommen bin.“

„Bist ja ein witziges Kerlchen. Keine Ahnung, was du dir ins Hirn gepustet hast. So wie du läuft hier keiner rum, und schon gar kein Neuer.“

„Ein Neuer was?“

Statt einer Antwort, bekomme ich nur einen noch eigenartigeren Blick, der alles Mögliche bedeuten kann. Unbeeindruckt einer möglichen Gefahrensituation beschwert sich mein Magen lautstark mit einem unüberhörbaren Knurren über seinen fehlenden Inhalt. Die Augen des Black Man sind immer noch zugekniffen und ich habe keine Vorstellung was in seinem Hinterstübchen gerade vorgeht. Ist es seine spezielle Art zu lachen, oder …ist sein undurchschaubares Gemüt zu einer barbarischen Gräueltat imstande? Was macht er jetzt, er greift in das Innere seiner umgehängten Tasche? Messer oder Pistole, was werde ich als letztes in meinem Leben zu Gesicht bekommen?

„Da hat wohl einer mächtig Hunger“, resümiert er folgerichtig und holt ein Sandwich von beachtlicher Dimension aus seiner Tasche. „Hier Mister, kannst meinen Happen haben, und in dieser Flasche ist noch was zum Runterspülen. Vielleicht wird davon deine Birne klar. Ich habe da vorne ein paar Bewässerungsschläuche in Ordnung zu bringen, dann komme ich wieder zu dir.“

Seit meinem eigenartigen Erwachen als Treibholz befinde ich mich in einem ständigen on-off-Modus zwischen Sein und Nicht-Sein, einem gerade-dem-Tod-entkommen und einem mein-letzter-Atemzug. Black Man ist verschwunden, ich liege immer noch auf den beiden Strohsäcken, unfähig mich aufzurichten. Ich muss es in der letzten Nacht offensichtlich vom Blätterdickicht doch noch bis hierher geschafft haben, ohne mich an die geringste Kleinigkeit zu erinnern.

Nun liegt dieses verführerische Stück Nahrung vor meiner Nase, das ich nach zwei oder vielleicht sogar mehr verpflegungslosen Tagen hinunterschlinge wie ein Raubtier. Absolut deliziös, dieses weiche Brot, herzhaft dieses einmalig schmackhafte Aroma eines delikaten Schinkens, butterweicher Käse, ein sensationelles Dressing mit Zutaten, die mir bislang unbekannt waren und reife Tomaten die von der Sonne geküsst wurden. Das dürfte wohl das exklusivste Sandwich meines Lebens gewesen sein. Dabei hab ich noch nicht mal seinen -zum-Runterspülen-Saft gekostet. Wow… viel Saft ist da mit Sicherheit nicht enthalten, dafür eine umso reichhaltigere Dosis von Rum, gemixt mit einer Mischung aus Minze, Kokos und was-weiß-ich-für-spezielle Tropenfrüchte.

Auch dieser Runterspül-Drink stellt sämtliche Cocktails, die ich eventuell mal genossen hab in den Schatten aller Schatten. Allmählich werden meine Lebensgeister wach. Sie bestaunen die Üppigkeit der Bananentrauben, die direkt vor meiner Nase an den Stauden hängen. Ein paar Reihen weiter, seh ich Ananas, Orangen und sind das … Mangos..? Auch wenn ich überhaupt nichts begreife wo und warum ich hier gelandet bin, befinde ich mich definitiv in einem Paradiesgarten. Fehlt nur noch, dass Eva gleich um die Ecke kommt, Adam war ja vorhin gerade da. Dann war es wohl auch die sündige Eva, von der ich letzte Nacht geträumt hab. Große dunkelbraune Augen, ein anmutendes Gesicht, ihre weiche Haut. Sie summte eine Melodie, die mir bekannt vorgekommen ist. Und Black Man Adam, was ist mit ihm? Was meinte er mit dem „Neuen“? Meine Erinnerung ist komplett gelöscht, Stromausfall im Gehirn, nicht die geringste Erinnerung an Namen, Gesichter und Vergangenheit. Die Sonne dagegen grinst mich unbeeindruckt meines persönlichen Dilemmas gnadenlos an, so wie sie es bereits am Strand getan hat, als Blacky wieder auftaucht.

„Hast du eine Zigarette für mich?“

Es ist das erste Mal, dass dieser big black Man wie ein ganz stinknormales menschliches Wesen lacht. „Eine Zigarette? Du meinst Kinderkram?“ Beim Lachen blitzen seine weißen Zähne wie in einer Fernsehwerbung, seine Figur könnte einem Bodyguard oder einem Rausschmeißer gehören, er wird wohl etwa um die vierzig sein. „Du bist vielleicht ein schräger Vogel, genau so schräg wie deine Aufmachung. Wir rauchen hier nur happy-Islands, bis auf unseren Boss, der raucht fette Zigarren.“

„War wohl die falsche Frage!“

Sein Blick wurde wieder nachdenklicher. „Du gibst auch die falschen Antworten, Mister. Was mach ich mir denn mit dir? Komm ich nehme dich erst Mal mit zu mir und dann sehen wir weiter.“

Big Man hilft mir beim Aufstehen, oder ist es eine Abführung, der eine Ablieferung bei der Polizei folgt? Beim ersten Schritt merke ich, dass ich mit dem linken Bein nur mit deutlichen Schmerzen auftreten kann und zucke merklich zusammen.

„Was ist Mister?“

„Nur mein Fuß. Hab mich scheinbar beim Sprung von der Mauer verletzt.“

„Welche Mauer? Du meinst doch nicht … „

„Doch, meine ich schon. Woher glaubst du, dass ich meine blauen Flecken habe, und warum meinst du, dass ich mich hier im Grünzeug und nicht in einem Grand-Hotel mit Room-Service übernachtet habe.“

„Ich kenne ja viele Spinner die phantasieren und abgefahrene Lügengeschichten erzählen, aber dass jemand von dieser Mauer runter ist… Da kommt keiner rauf, wozu auch? Was wolltest du denn überhaupt dort oben? Mein Säftchen hat dir wohl auch nicht gut getan Mister.“

„Du musst mir glauben.“

„Pah, alles was ich glaube ist, dass du nicht alle Tassen im Oberstübchen hast.“

„Auch wenn es sich noch zu verrückt anhört, ich kann es dir nicht erklären Mann. Ich weiß nicht, wo ich hier bin, wer ich bin, und wie ich hierher gekommen bin, eigentlich weiß ich gar nichts. Ich bin unten am Strand wachgeworden, angespült wie eine Flaschenpost, über die Mauer geklettert und jetzt bin ich hier.“

„Okay, du willst mir also wirklich verklickern, dass du über diese mindestens 7 Meter hohe Mauer geklettert, und vorher als lebendige Flaschenpost gelandet bist. Und dann soll ich dir selbstverständlich auch noch abkaufen, dass du etwas geschafft hast, was noch keinem einzigen in den Sinn gekommen ist seit ich lebe, und das ist schon mächtig lange? Ach ja, und natürlich dass sie dein Gehirn gelöscht haben. Kann ja mal vorkommen, alles klar Mister!“

„Hey hör zu, warum sollte ich eine Story erfinden Mann? Welchen Grund hätt ich denn? Ich würd selbst gerne herausfinden, ob ich der einzige Überlebende einer Schiffskatastrophe bin, ob ich ein one-way-Ticket auf eine Insel im Niemandsland gebucht hab, oder was mich sonst hierher verschlagen hat, verstehst du?“

„Flaschenpost, Filmriss, Blackout, soll ich darüber lachen Mister Flaschenpost? Meine Weiber sollen sich um dich kümmern, denen gefällt deine Geschichte bestimmt.“

Black Man hüllt sich in Schweigen, während wir mit seinem verblassten Pick-Up durchs Plantagengelände holpern bis wir fünfzehn Minuten später ein kleines Farmhaus aus Bambus erreichen. Eher hätt ich vermutet, dass er mich in eine vergammelte Kakerlaken-Baracke verschleppt, die er sein Zuhause nennt. Aber da hab ich mich wohl gründlich geirrt. Es ist ein wirklich nettes strohbedecktes Haus. Nicht einmal klein. Davor befindet sich eine einladende Veranda mit ein paar verteilten Hängematten und einem obligatorischen Schaukelstuhl, das Ganze eingebettet in einen malerischen Blütenzauber buntfarbiger Hibiskusblüten, filmkulissenreif und kitschig wie ein Postkartenmotiv.

Wo ist die Kamera, der Regisseur der „cut“ ruft, und wo ist der Regieassistent, der die Filmklappe zuschlägt? Fehlanzeige! Dieser Film endet auch hier nicht. Stattdessen stürmen drei schokoladenbraune Frauen aus dem Haus heraus und umringen den Pickup überfallartig. Black-Man-Töchter?

„Meine drei Frauen, Sheila, Stella und Judy.“

Okay, Blacky ist also kein Kostverächter, kann ich in diesem Fall gut nachvollziehen. Er kommandiert sie sofort wieder ins Haus zurück und bringt mich immer noch humpelnd auf die Terrasse, wo ich in einen der bequemen Korbstühle hineinsack.

„Jetzt trinken wir mal was Vernünftiges, und dann lass uns quatschen Mister.“

Er meint damit wohl eher, er will mich verhören. Er verschwindet für einen Moment im Haus und kommt mit zwei Gläsern voll ich-weiß-nicht-was zurück.

„Jetzt erzähl mal Mister!“

„Was soll ich erzählen?“

„Auf alle Fälle nicht die Märchengeschichte von der Flaschenpost, sondern die richtige.“

So ist es also um meine Glaubwürdigkeit bestellt, hätt ich mir durchaus denken können, dass das alles ziemlich absurd klingt.

Noch bevor ich antworten kann, stößt Blacky sein Glas gegen meins, „cheers, also raus mit der Sprache Mister.“

Dieses Getränk, ich hab damit gerechnet, ist eine reinrassige Alkoholbombe. Damit will er mich also aus der Reserve locken. „Cheers. Ich muss dir danken Mann, dass du mir geholfen hast. Du bist der erste, der mir begegnet ist, seit ich unten am Strand…“

„Quatsch, ich kauf dir nicht ab, dass du da unten aus der Flasche geschlüpft und über die unüberwindbare Mauer gekrabbelt bist. Sag endlich die Wahrheit.“

„Ehrlich, so wahr ich hier sitze und diesen köstlichen Drink zu mir nehmen kann, ich hab keine andere Wahrheit. Ich würd dir gerne alles erklären, aber mein Gedächtnis ist momentan nichts anderes als ein schwarzes Loch, das alles an Erinnerung geschluckt hat. Verstehst du? Ich weiß nicht wer ich bin und was ich hier mache.“

Mein Gegenüber sitzt nachdenklich vor mir. Ohne ein weiteres „cheers“ leert er sein Glas in einem Zug, gefolgt von einem üppigen Rülpser. „Aha, so ist das, dann bleibst du also bei deiner Geschichte.“

Fast wirkt er destingiert, als er mit seinem leeren Glas in der rechten Hand spielt. „Komm trink aus Mister, ich hol uns zwei neue Drinks.“

Einerseits notgedrungen, anderseits aus Verlegenheit an Argumenten wie ich meine Glaubwürdigkeit erhöhen könnte, stürze ich den Rest meines Glases ebenso in einem Schluck hinunter.

„Okay Mister, ich geb dir ein bisschen Nachhilfe-Unterricht, vielleicht hilft dir das auf die Sprünge. Ist auch ganz einfach, im Prinzip spielt es keine Rolle wer du bist. Ich kann es dir auch nicht sagen. Fest steht, jeder, der hierher kommt, egal woher auch, er muss auch für immer bleiben, auch du. So ist das Gesetz, und der Rest ist egal, weil du sowieso nicht wegkommst, cheers.“

„Welches Gesetz?“

„Das Gesetz, das ich dir gerade erklärt habe, Mister.“

„Meinst du das ernst Mann?“

„Ist das heute der Tag der dämlichen Fragen? Natürlich ist das ernst, ernster geht gar nicht Mister. Aber warum soll das was

Schlechtes sein? Sieh dich doch mal um. Du bist mitten im Paradies, ein wahrer Garten Eden. Hier will sowieso keiner mehr freiwillig weg. Du zahlst weder Miete noch Essen oder Trinken. Hier gibt es nicht mal ein Straf-Ticket für Falschparken. Das ist ein absolut steuerfreies all-you-can-live-Ding hier. Dafür muss man woanders eine Menge Zeitungen austragen, hat mein Vater erzählt. Und falls du es immer noch nicht bemerkt hast Mister, das hier ist eine Insel. Da ist nichts in der Nähe, wo du mal kurz rüberschippern kannst, kein Festland, keine andere Insel weit und breit. Nicht mal irgendeine Schiffslinie ist hier in der Nähe. Das hier ist eine eigene Welt, die mit der anderen Restwelt nichts zu tun hat, so als ob du auf einem anderen Stern leben würdest.“

Die drei Blacky-Frauen beobachten uns vom Eingang aus neugierig, bis die augenscheinlich älteste sich wie der Blitz in Bewegung setzt, als wir unser zweites Glas geleert haben, um unverzüglich flüssigen Nachschub zu besorgen.

„Und wer ist der Chef in diesem sagenhaften all-inlcusive-Paradies?“

„Klar gibt es einen Boss, aber genaugenommen brauchen wir keinen Chef. Das läuft hier alles wie in einer Big Family. Mein Dad hatte damals einen Chef. Das war ein Gefängniswärter in einem verwahrlosten Knast in Alabama. Doch dann hat er einen Deal mit der Regierung gemacht, und seine lebenslängliche Strafe in dem alten Drecksloch gegen Arbeitsleistung im Straßenbau auf dieser Insel eingetauscht.“

„Du bist gesessen und hier gibt es Straßen?“

„Langsam Mister. Mein Vater ist gesessen.“

„Aber nicht nur, weil er einen Kaugummi-Automaten geknackt hat, oder doch?

„Sieh mich an Mister, fällt dir was auf? Ich bin schwarz, mein Vater also auch, okay. Das hat damals schon gereicht um dich strafbar zu machen und um deine nächste Frage zu beantworten, als Junge habe ich Menschenohren gesammelt.“

Hab ich mich gerade verhört? Black Man lacht plötzlich wie ein Irrer und klatscht zweimal in die Hände.

„Mein Name ist Harvey, so wie mein Dad, und das mit den Men-schenohren war Quatsch.“

Drink Nummer vier steht auf dem handgefertigten zierlichen Verandatischchen, obwohl mein Drink Nummer 3 noch fast voll ist. Aha Harvey also, ich hätt ihm einen anderen Namen gegeben. Harvey ist nach einem weiteren „Cheers“ und Drink Nummer vier in eine richtige Plauderlaune verfallen. „Du hast gefragt ob es Straßen gibt. Klar, drüben auf der Ostseite der Insel, hinter der Gebirgskette die du hinter uns sehen kannst. Mein Vater hat fleißig mitgeschuftet. Als dann alles fertig war, musste, oder besser gesagt durfte er hierbleiben in diesem Territorium, das bis zu den Westrock-Mountains und zum Rio Dos im Osten reicht. Sein Glück. Alles wegen der strengen Geheimhaltung der Regierung damals, weil das im Auftrag eines Präsidenten gebaut wurde. Aber ansonsten wusste niemand, um welches Geheimnis es eigentlich ging.“

„Und was ist mit deinem Vater?“

„Er ist tot, so wie die anderen.“

„Welche anderen Harvey?“

„Du hast wirklich keinen blassen Schimmer.“

Ich warte darauf, dass Harvey in die Hände klatscht, um anzudeuten, dass sein Drink Nummer 5 fällig ist. Mein Drink Nummer vier ist immer noch unberührt.

„Pass auf Mister, die haben damals nicht nur meinen Vater, sondern viele andere Gefangene hergebracht, um das ganze Zeug auf der Insel zu bauen, die Brücken, die Straßen, das Kraftwerk, die Gebäude, den Hafen, und alles was sie gebraucht haben, um die Insel zu kolonisieren. Auch diese gigantische Mauer haben sie damals gebaut. Dafür mussten sie auch nicht mehr zurück ins Kittchen in die Staaten, wie mein Dad. Und dann haben sie sogar Frauen für die Gefangenen hergebracht, nur um sicherzugehen, dass hier keiner mehr freiwillig weg wollte oder den Versuch unternahm auszubüchsen. Es wäre abgesehen davon sowieso aussichtslos gewesen. Im Lauf der Jahre sind dann daraus Kinder und Kindeskinder geworden, so wie ich. Diese Kinder hätten sogar das Recht gehabt, zurück auf das Festland zu kommen, unmittelbar nach der Geburt. Aber natürlich waren die Eltern dagegen und nun leben wir hier im Westteil seit drei Generationen. Und wir wollen auch gar nicht zurück, warum auch.“

Jetzt endlich klatscht Harvey in die Hände, nicht ohne mich etwas strafend zu betrachten, dass ich mit meinen Drinks offensichtlich mächtig im Rückstand bin.

„Was hast du heute morgen mit dem Neuen gemeint, Harvey?

„Eigentlich Quatsch Mister, es kommen schon lange keine neuen mehr. Ich dachte, du bist bei den Ranchern drüben abgehauen.“

„Rancher?“

„Okay Mister, dann erzähl ich dir auch noch den Rest vom Insel-Einmal-Eins, kommt ja nicht so oft vor, dass ich Zuhörer habe.“

Noch bevor er in der Lage ist weiterzusprechen muss ich ihm es auf sein „cheers“ bei meinem Drink Nummer vier wohl oder übel gleichtun und ihn in einem Zug leeren.

„Nachdem alles fertig gebaut war, wurde es ziemlich ruhig auf der anderen Seite. Die Arbeiter im Westen wurden einfach ihrem Schicksal überlassen, das Versorgungsschiff blieb aus. Sie mussten Äcker anbauen und Vieh züchten um zu überleben. Es war zwar ein einfaches Leben, aber ein Erträgliches. Mein Dad erzählte, dass zu dieser Zeit die Menschen auf der anderen Seite die Insel verlassen haben. Keiner wusste warum, vielleicht ist auch eine Seuche ausgebrochen. Erst vor mehr als vierzig Jahren sind wieder neue Leute gekommen. Da war ich noch ein kleiner Junge. Aber wir haben uns in den ganzen Jahren danach hier ein Stück hübsches Land aufgebaut. Heute gibt es hier ein kleines Village, ein paar Kneipen, ein Kino. Jede Familie hat eine eigene Hacienda. Die einen bauen sich Koks an, die anderen brennen Schnaps. Wieder andere haben mehrere Frauen und manche alles zusammen. Wir feiern reichlich Partys und jeder kann tun und lassen was er will. Bingo, was willst du mehr.“

Harvey sieht mich fragend an. Ich bleib in der Rolle des Zuhörers und stoße meinen fünften Drink gegen seinen Drink Nummer sieben oder acht. Es hat den Anschein, dass Harvey seine Rolle als Lehrmeister offensichtlich genießt.

„Macht es endlich klick bei Dir Mister?“

Ich schüttle den Kopf wahrheitsgetreu, meine Gedanken fischen weiterhin im Trüben ohne eine Kleinigkeit der Erinnerung.

„Okay, die andere Seite, wir nennen es Privatland. Ich weiß nicht viel darüber. Das war für uns immer verbotenes Land, und das ist es heute auch noch. Die Leute im Osten wollen für sich sein, nennen es Privateigentum, haben Schilder aufgestellt „betreten verboten“, und wir respektieren das. Die Grenze oben in den Bergen war sogar bewacht gewesen. Heute haben wir ein perfektes Arrangement zwischen der Ost- und der Westinsel. Wir erzeugen auf unseren 20 Farmen und Ranches die Lebensmittel und das Fleisch für die komplette Insel, im Gegenzug bekommen wir von der anderen Seite alles was wir sonst brauchen, egal ob Klamotten, Elektrogeräte, Werkzeug, Bücher und ärztliche Betreuung. Das Einzige was wirklich knapp ist, das ist der Sprit.“ Harvey beginnt müde zu wirken, er spricht immer langsamer. Nur allzu verständlich bei der Menge von Alkohol, die er in sich unermüdlich hineingießt.

„Noch was. Bei uns… gibt es keinen … Stress, keinen Rassenhass, keinen … Khu Klux Clan, keinen Ärger. Nicht einmal ….

eine Polizei. Es hat mal … eine Security …“ Harvey ist kurz eingenickt. Doch einen kurzen Moment später „… ist echt ein Schlaraffenland hier… Es gibt nur eines… was wir nicht …. dürfen, und das … ist die Insel verlassen. So ist das Gesetz, und dieses Gesetz …. gilt für die ganze Insel……“

Wieder nickt Harvey ein, und wieder wird er wach „….so ist das Gesetz Mister Flaschenpost … und … eines Tages, wenn … es so weit ist, dann… werden wir auch … in dieser Inselerde …“ Harvey nickt ein weiteres Mal ein. Dieses Mal einige Minuten, bis er wiederum die Augen weit aufreißt und in die Hände klatscht.

Sofort sind die Mädchen wieder da. Doch statt einem weiteren Tablett mit einem gefüllten Glas bugsieren sie Harvey behutsam aus seinem Korbsessel ins Haus hinein, ohne dabei auf seinen Widerstand zu stoßen.

Muss ich mir Gedanken machen, ob ich ebenfalls ein Verbrechen begangen habe? Meine Träume, da ist immer so viel rot, ist es Blut? Ist mein Erinnerungsvermögen aus diesem Grund in den Streik getreten, um eine schlimme Tat in den Gedanken zu annullieren? Oder bin ich ebenfalls der Sohn eines Straftäters, dem sein Vater diese Tat in allen Einzelheiten geschildert hat? Neue Zweifel und neue Fragen, mit denen ich mich zu beschäftigen hab. Die Frauen kommen wieder aus dem Haus, sie sprechen nicht mit mir, sondern flüstern sich gegenseitig etwas zu was ich nicht hören kann. Dann höre ich doch nochmal Harveys Stimme aus dem Haus, ohne seine Worte zu verstehen.

Was den Alkoholkonsum an diesem Nachmittag betrifft, kann ich mich weiß Gott nicht beklagen. Ich lass es daher auch völlig entspannt über mich ergehen, dass mich die beiden jüngeren Frauen auf die große Liege hinüber stupsen und beginnen, mit einem feuchten Tuch an mir herum zu handhaben. Bild ich es mir ein, oder bin ich nun tatsächlich bekleidungsfrei? Ich schlaf nicht, mein Empfindungssinn ist zwar leicht betäubt, aber die Berührungen eines feuchten Schwammes empfind ich als äußert angenehm. Ich hab keinerlei Vorstellung, welche Prozedur gerade an mir vorgenommen wird, ich lasse es einfach geschehen. Nach einer Weile bin ich mir gar nicht mehr sicher, ob ich träume, dass ich massiert werde, dass auf meinem Rücken, meinen Armen und meinen Beinen eine ölhaltige Tinktur aufgetragen wird, die sich sanft über meinen ganzen Körper verteilt. Völlig egal, auch wenn es nur ein Traum sein sollte, ist es beileibe ein wahrhafter Genuss.

Als ich meine Augen wieder öffne, ist es bereits dunkel geworden. Meine Augen gewöhnen sich schnell an das unscheinbare Licht der Kerzen, die überall auf der Terrasse flackern. Ein unwirklich romantisches Flair liegt in dieser lauen Luft. Es ist still, ich bin allein. Bild ich mir das ein? Nein, unter der Decke bin ich splitternackt. Was ist mit meinem Anzug? Da, neben mir liegen saubere Kleidungsstücke. Mein linkes Bein ist verbunden, ich fühl dort keine Schmerzen mehr. Ich will gar nicht wissen, mit welchem Zeug mich die beiden mit ihren feingliedrigen Fingern einbalsamiert haben, aber ich fühl mich völlig entspannt, nahezu wie ein neuer Mensch. Kurios, aber in gewisser Weise bin ich das tatsächlich. Ich kenn mich nicht, weiß weder meinen Namen, noch meine Vergangenheit.

Was ist das dort auf dem Tischchen? Irgendjemand meint es richtig gut mit mir. Unter einer Servierglocke warten Sandwiches, ein großes Stück Käse, Weintrauben, ein Stück Melone und Früchte, die ich nicht im Entferntesten kenne, auf mich. Im Heißhunger schlinge ich, immer noch vollkommen nackt, die Hälfte der übergroßen Portion in mich hinein, ohne mir richtig Zeit zum Zerkauen zu nehmen. Die körperlichen Lebensgeister in mir sind erwacht, die Anprobe der Hose und des Hemdes sind zufriedenstellend, sogar die Schuhe passen. By the way, ungewohnt und befremdlich ist allerdings dieses Outfit aus Leinenstoff. Aber was heißt schon ungewohnt in meinem Fall. Es trifft fast auf alles zu, was seit meiner Landung als Treibholz passiert ist. Und nun? Wieder kommt diese Unruhe in mir auf, die mich packt und mir Fragen stellt, die ich nicht beantworten kann.

War das gerade ein Abendmahl, oder war es eine Henkersmahlzeit? Was hat Harvey mit mir vor? Bin ich Gast, oder Eindringling, will er einen Plantagenarbeiter aus mir machen, oder will er mich für Lösegeld an die Farmer oder an die „Anderen im Privatland“ verkaufen? Hab ich wirklich ein Verbrechen begangen? Falls ja, war es wegen einer Frau, war es aus Eifersucht? Ich hatte vorhin wieder einen Traum in dem man eine vermisste Frau gesucht hat. Was ist mit Harveys Leuten, sind sie wirklich alle harmlos, oder schlummert das Verbrecher-Gen ihrer Vorfahren in ihnen? Sie laufen alle einfach so frei herum wie eine Herde Schafe. Mein Bauch sagt mir ich gehör nicht hierher in Harveys Welt, so täuschend reizvoll sie im ersten Moment auch sein mag. Ich glaub meinem Bauch, yes I do. Also gilt es, die Nacht zu nutzen und dem zunehmenden Mond zu folgen, ohne es rationell begründen zu können. Mein Ziel sind die Berge und die Grenze. Vielleicht ist es zugleich auch die Grenze zu meinen Erinnerungen. Ich kann nur hoffen, dass ich dort Antworten finden werde, crazy, ich weiß. Allerdings macht mich diese Hoffnung stark genug, um Unglaubliches zu tun, genauso wie ich diese unüberwindbare Mauer im Auf und im Ab bezwungen hab.

Im matten Mondlicht schimmert die Silhouette der Bergkette, der ich einem kleinen Bach entlang kontinuierlich folge. Beim Anblick der Gipfelkulisse weckt es ein angedeutetes Gefühl der Erinnerung, aber auch nicht mehr. Sie kommen nur zeitlupenartig näher, obwohl ich schon die ganze Nacht ohne Pause hindurchmarschiere. Zum Glück kann ich dem Bachlauf weiter ohne größere Hindernisse folgen. Erst im Morgengrauen mach ich Stopp, um mich mit dem Rest der Terrassenmahlzeit für den weiteren Weg zu stärken. Ich habe ein Waldgebiet erreicht, es duftet angenehm nach Eukalyptus. Unwissend was mich auf diesem Trip als nächstes erwarten wird, treibt es mich weiter. Im Lauf des Vormittages wird es allmählich bergiger. Für mich ein gutes Zeichen, dass ich meinem Ziel näher komme, und tatsächlich tun sich die Bergzacken immer mächtiger vor meinen Augen auf. Mein Begleiter und Wegweiser ist immer noch der Bach, der mir treu zur Seite steht, als ob ein Drehbuch es so vorsehen würde. Ungehindert und ohne jegliche Zwischenfälle stehe ich nun in der Mittagssonne am Fuß des respektablen Bergflankens, der mir einiges abverlangen wird. Ist meine Kondition dazu ausreichend? Das ist die falsche Frage, ich muss da hinauf, um auf die andere Seite zu kommen. Es gibt keinen anderen Weg, um meine Vergangenheit herauszufinden.

So wie die kümmerlichen Krümelreste des Abendmahls zur Neige gehen, verabschiedet sich auch der Bach mit einem zauberhaften Anblick eines in der Sonne glänzenden Bergsees, dem er entspringt. Mein Fuß! Nicht ein einziges Mal hab ich an meinen linken Fuß gedacht. Erst jetzt fällt er mir wieder ein, als ich auf den Verband hinunterblicke. Egal, ich werd vorsichtig sein, so vorsichtig wie möglich. Vor mir taucht etwas einem Steig ähnlich sehenden schmalen Pfad auf, vielleicht von Ziegen oder anderen Tieren in den Hang getreten. Ich komme gut voran und es ist nicht der steile Hang der mir zu schaffen macht, sondern die brutale Hitze. Ein Hut wär gut gewesen zum Schutz vor der Sonnenglut, hätte ich wohl bei Harvey vorher bestellen sollen? Ich mach mich über mich selber lustig, das hilft. Einfach gehen, langsam gehen, nicht nachdenken. Hab ich Zweifel? Nein, das Ziel kommt immer näher, bald ist es zum Greifen nah. Mit ein bisschen Glück schaffe ich es bis zum Sonnenuntergang.

Stopp! Ein gelbes Schild. Es ist bereits verblasst, vermutlich bleicht es schon jahrezehntelang in der Sonne dahin. Sie sind dennoch nicht zu übersehen, diese gelben Schilder hier, in beachtlicher Höhe im Abstand von circa 100 Metern in den felsigen Steinboden gerammt. Ich hätt mir Schlimmeres vorgestellt. Zäune und Stacheldraht zum Beispiel, so wie man es von Grenzen gewohnt ist, die bewacht werden. Nichts davon. Es scheint wirklich so zu sein, wie Harvey trotz acht Gläsern Hammerdrinks geschildert hat. Keine Wachposten, zumindest keine, die man sehen kann. Es dämmert als ich das Stoppschild mit einem etwas flauen Gefühl im Magen überschreite. Ich setzte mich über das Gesetz hinweg, einfach so. Und? Nichts passiert. Kein Schuss, keine Sirene, kein Suchscheinwerfer, nothing. Und ich? Ich stehe nach einem anspruchsvollen Aufstieg nun völlig unbehelligt oben auf diesem massiven Bergrücken, der die Insel in zwei Teile trennt. Allein der Blick hinunter bleibt mir aufgrund der eingesetzten Dunkelheit verborgen. Was ist mit einem bequemen Bett für die Nacht? Und welche Hände werden meine strapazierten Muskeln massieren? Welch idiotischer Gedanke, einfach lächerlich. Ein vom Wind geschützter Felsvorsprung tut`s auch als Nachtlager. Wow, der Fels ist überraschend warm, I`m proudly surprised. Die Sonne hat ihn für mich aufgeheizt und die Wärme gespeichert. Müsst ich nicht zufrieden sein mit diesem Tag? Yes, bin ich, halleluja. Der Schlaf der Erschöpfung kommt über mich, ohne dass ich es mitkrieg.

Nicht das Licht des Sonnenaufgangs weckt mich. Nein, wieder quält mich ein penetranter stechender Schmerz im Magen, begleitet von einem Muskelzittern in den Armen und in den Beinen. Die Anstrengung des Vortages? War es richtig, mich so heimlich aus dem Staub zu machen, auf die Bewirtung und die köstliche Versorgung von Harvey`s Frauen zu verzichten und auf den Weg zu machen? Wohin eigentlich? Trübe Gedanken beschäftigen mich im Moment des Zu-sich-Kommens, bis endlich die Sonne im Osten aufgeht und die vor mir liegende Landschaft ins Licht taucht, das meine trüben Gedanken vertreibt. Welch atemberaubender Blick sich mir dabei auf eine grandiose Inselwelt bietet, die für mich momentan einfach nur Niemandsland auf meiner Odyssee ins Unbekannte ist. Der entfernteste Punkt Festland ist ein beeindruckender Berg ganz im Osten, der die Sonne seitlich zu streifen scheint. Rechts davon ist eine Hügellandschaft zu erkennen, die fast bis zur Küste reicht. Unter mir breitet sich ein weites Tal aus. Die Farben in der gleißenden Morgensonne wechseln zwischen unterschiedlichen Grüntönen und hellen, sandfarbigen Flächen. Auch die Ebene ist durchsetzt mit imposanten Bergrücken, die einzeln in der Landschaft verstreut sind. Mein Blick zur linken Seite lässt mich einen Fluss erkennen, der die Berge hinunterschießt bis zum Meer. In der anderen Richtung fallen mir glänzende Flecken auf, die wie Silberpapier in der Sonne schimmern. Könnt ich meine prekäre Situation an dieser Stelle einfach ausblenden, dann wär ich in diesem Lebensmoment nichts anderes außer der Entdecker eines neuen Kontinentes, oder bin ich das etwa? Ich kann wahrlich nicht sagen, ob ich mich mitten im südamerikanischen Hochland oder in einer von einer einzigartigen Bergwelt eingerahmten afrikanischen Steppe befinde. Hätt ich jetzt nur einen winzigen Funken der Erinnerung an meinen eigenen Namen, dann würd ich diesem Land sogleich meinen Namenstempel verpassen. Privatland, no, definitiv kein Name für eine Insel mit einer paradiesischen Topographie wie dieser. Tief beeindruckt von dem was sich vor meinen Augen auftut und doch bedrückt angesichts der Tatsache meiner Erinnerungsleere stehe ich hier wie eine Statue auf dem wild gezackten Berggrat, den Harvey die Westrock-Mountains genannt hat.

Mein Blick fällt noch einmal zurück auf die Palmenwälder und die Küste im Westen weit unter mir. Ich suche nach dieser von mir verdammten Mauer, aber ich kann sie von hier nicht sehen.

Zu üppig ist die tropische Vegetation, die sich hinunter bis zur Westküste zieht, wo ich vor drei Tagen diese unfreiwillige Reise angetreten bin und von der ich jetzt ebenso wenig weiß wohin sie mich führen wird. Ist es paranoid, trotzdem in mehr oder weniger misslicher Lage zumindest auf meine körperliche Leistung stolz zu sein? Ich denk schon, dass ich die Ausgabe eines sportlichen menschlichen Exemplares sein muss, nachdem ich diesen Punkt hier oben auf dem Gipfel erreicht habe, der mir diesen wohl kaum übertreffbaren Fernblick zum exklusiven Geschenk macht. Noch einmal fällt mir ein, wie Harvey die Lage der Insel wörtlich beschrieben hat: „Da ist nichts in der Nähe, wo du mal kurz rüberschippern kannst, kein Festland, keine andere Insel weit und breit.“ Auch damit hatte Harvey also Recht, soweit mein Auge hier an diesem Aussichtspunkt in alpiner Höhe reicht, der Horizont ist das Meer, sonst nichts, nothing.

Ein ausgetrocknetes Bachbett ist mein Weg nach unten ins Privatland. Neugier auf eine Zivilisation, von der ich genauso wenig weiß wie von mir, ist meine Nahrung. Fast leichtfüßig geht es sich auf dem deutlich flacheren Abstieg hinunter ins Tal. Kaum anstrengend, sondern eher ein Hinabgleiten in ein Tal, das darauf wartet, von einem Individuum wie mir erkundet zu werden. Nach einer Weile sind meine depressiven Gedanken ebenso verflogen wie diese Magenschmerzen und das Zittern in den Muskeln. Die Hoffnung, dass ich hier endlich die Wahrheit über mich herausfinden werde, steigt mit jedem Schritt und jedem Atemzug in der würzig nach Kiefern duftenden Bergluft. Mein Blick gleitet in dieses vor mir ausgebreitete Tal. Sind das Tiere? Aus der Entfernung sieht es so aus, als ob eine Herde mit mehreren Vierbeinern im Gras weidet, noch nicht deutlich genug erkennbar, ob es sich um Rinder, Schafe, oder Ziegen handelt? Mein Schritt wird schneller, mein Optimismus wächst und meine Neugier wird größer. Unerwartet trifft mich urplötzlich ein Schmerz wie ein Messerstich im linken Bein. Dabei bin ich nicht einmal gestolpert oder gestrauchelt. Nur die Unaufmerksamkeit im Bruchteil eines Augenblicks war ausreichend, um seitlich vom Stein abzurutschten. Mein Problembein schmerzt mit einem Mal höllisch. Warum habe ich beim Aufstieg nichts gespürt? Hat die Wirkung dieser Zaubersalbe plötzlich nachgelassen? Es wird nicht leichter, ich kann kaum auftreten, auch nach einer Pause nicht. Das weitere Vorwärtskommen ist lediglich ein zaghaftes Humpeln auf Raten, manchmal ein Kriechen, ein Rutschen. Ich wundere mich, dass ich in diesem Zustand doch noch ein beachtliches Stück nach unten schaffe. Jetzt ist allerdings endgültig Schluss. Der Schmerz tobt und mein innerer Schweinehund weigert sich, noch einen einzigen schmerzenden Schritt weiterzugehen. Depressive Gedanken holen mich ein weiteres Mal ein, wie sie es schon mehrmals auf dieser Tour gemacht haben. Ich möcht wenigstens eine Zigarette, verdammter Bullshit. Wie lang hab ich nicht mehr geraucht?

Eine eigenartige Stille umgibt mich. Wäre es nicht herrlich, einfach aufzuwachen und festzustellen, dass alles das ein XXL-Albtraum gewesen ist. No, keine Zigarette, kein Traum. Flüsternd, nahezu lautlos streicht ein leichter Windhauch über den an dieser Stelle kargen Felsboden. Die Tierherde ist aus meinem Blickfeld verschwunden, sicherlich weitergewandert. Einsamkeit breitet sich aus, die profanen Bedürfnisse wie Hunger, Durst, Müdigkeit nehmen Oberhand. Einfach auf einem Stein dasitzend denk ich an… nichts. Die Zeit hat aufgehört, eine Bedeutung zu haben, sogar die Gedanken haben aufgehört Bilder zu malen…. Lethargie überzieht mich wie ein bleierner Mantel. Nur der etwas zunehmende Wind spielt mit mir. Er treibt kleine Staub-Wölkchen vor sich her, besonders hinter dem direkt vor mir liegenden Bergrücken, der mir die Sicht ins Tal versperrt. Die Luft flimmert intensiv und lässt den Staubwolken unmittelbar das Trugbild eines näherkommenden Fahrzeugs folgen. Stink-normale Hirnfantasie in der Vorkammer des Hitzschlagtodes, oder eine klassische Fatamorgana? Vielleicht sollte ich über diese Art von Ironie lachen. Eine Luftspiegelung, die so täuschend echt wirkt? So echt wie Wirklichkeit.

Ein blitzend blankpolierter weißer Mitsubishi-Geländewagen bleibt wenige Meter vor mir stehen. Die Fenster sind aus verdunkeltem Glas. Ist es Harvey? Nein, der hatte einen völlig heruntergekommenen Ford. In aller Seelenruhe steigt ein Mann aus, schlacksig, groß, weiße Hautfarbe, unauffällig gekleidet. Sein Gesicht verbirgt sich hinter einer gespiegelten Sonnenbrille und unter einem breitgekrempelten Cowboyhut, der an einen Western-Star erinnert. Lediglich der Revolvergürtel fehlt. Ein Security-Mann? Er geht auf mich zu ohne mehr als „Howdy“ zu sagen, bleibt einen Augenblick stehen, betrachtet mich mit einem prüfenden Blick von oben bis unten und hilft mir in den Wagen. „Taxi“ ist das zweite Wort des auffällig wortkargen Cowboys, das ohne erkennbare Mimik aus seinem Mund kommt. In seinem Gesicht ist mit Ausnahme eines längst aus der Mode gekommenen Schnauzbartes nicht viel zu erkennen. Dafür scheint er derjenige zu sein, der versucht meine Gedanken lesen zu wollen. Stumm fährt er den leicht abfallenden Hang hinunter, um hinter dem Hügel eine Staub-Piste zu erreichen, die durch eine gefällige Hügellandschaft führt. Wortlos reicht er mir eine gefüllte Wasserflasche auf dem Beifahrersitz, die ich gleichtuend wortlos in Empfang nehme und bis auf den letzten Tropfen leere. Bald zweigt er ein weiteres Mal ab, es geht einen anderen Hügel wieder hinauf. Sein dritter und letzter Satz „Tuff`s Hill “ nach zwanzigminütiger Fahrt bedeutet vermutlich, dass hier für mich so was wie Endstation ist. Doch statt dankbar zu sein, dafür, dass ich schon wieder ein Katzenleben verbraucht hab, stell ich mir die Frage, wer zum Henker soll Tuff sein.

Baker Island

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