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4 – Mexican Lodge

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Ich folge der imaginären Staubwolke des Cowboys, der mich auf diesem Hügel am Tag zuvor ausgesetzt hat, ohne zu wissen wohin. Die Hoffnung ist mein einziger Wegweiser ansonsten… was weiß ich seit ich am Strand aufgewacht bin? Dass ich auf einer Insel bin, dass es einen Westteil mit Plantagen und einen Ostteil im privaten Niemandsland gibt, und dass hier auf Rastamans Hügel diese kaiu... -keine Ahnung- wächst, die eine tödliche Krankheit heilen kann. Aber was bitte weiß ich über mich? Eben, vielleicht dass ich auch ein Abo für mehrere Katzenleben hab? Fuck, was solls. Warum reg ich mich auf? Die Leute hier sind okay. Ich sollte mich mit diesem Paradies hier lieber arrangieren und mein Nichtwissen mit dem Schwert der Ironie bekämpfen. Vielleicht schreib ich diesen Nirwana-Trip später mal auf für überzeugte Fans von unglaublichen Geschichten. Dabei hat es auch was Märchenhaftes, dieser seelische Luxus, einfach ins Nichts zu fahren, nur mit meinem Katzenleben-Gutschein-buch im Hinterkopf eingepackt.

Dieses klapprige Stück Blech auf vier Rädern schaukelt so gutmütig dahin über das, was man mit etwas Fantasie vielleicht als Piste bezeichnen kann. Beim Blick aus dem Seitenfenster gesellt sich eine Brise von Freiheit zu meinem Gemütszustand, der mich so nachdenkungslos querfeldein dahintreiben lässt durch ein Land, das möglicherweise den Nobelpreis für ein achtes Weltwunder rechtfertigen würd. Den sanften Ausläufern der Hügel folgt eine talähnliche Ebene, in der imposante Gesteinsbrocken von der Größe eines Autobusses und variantenreich in ihrer Form, wie von Geisterhand planlos verstreut sind. Exotische Gewächse verteilen sich ungleichmäßig über das Terrain wie um des ausschließlichen Kontrastes willens. Das Staubbraun geht allmählich in ein Zartgrün über und formt sich zu einer welligen Oberfläche, die dem seidigen Charakter eines mit einem Weichzeichner nachbehandelten Fotos gleicht. Dann folgt wieder abschüssiges Gelände und eine sich darunter weit ausbreitende Ebene, die mit einem wahren Überfluss an satten Grünflächen auf sich aufmerksam macht. Die geschmeidigen Ausläufer der Westrocks rücken dabei immer näher an die Piste heran, ständig von der imposanten Kulisse dieses Gebirgsmassivs im Westen begleitet.

Das Gefühl des Entdeckers in mir ist hellwach. Meine Augen bestaunen die seltsame Vegetation, die wahllos verstreuten Bäume, die gelbblühenden Sträuchergruppen und diese kräftig roten Blumenfelder, die hier in einer Art Koexistenz von Naturgewalt und verzierender Optik um Aufmerksamkeit wetteifern. Ein fast unwirkliches Blau am Himmel, das die Intensität eines Neonhimmels besitzt, taucht diese Natur in eine Anmut, die mit Worten nicht beschreibbar ist und der jegliche Vergleichbarkeit fehlt. Und selbst wenn ich fühl, riech und atme habe ich Zweifel, ob das alles noch etwas mit Realität zu tun haben kann? Oder unterliegt meine Wahrnehmung einer gigantischen Sinnestäuschung, herbeigeführt durch implantierte science-ficition-Impressionen?

Was ist das? Eben fehlte noch jegliches Anzeichen von menschlicher Anwesenheit in dieser bizarren Natur, da taucht unmittelbar die Halluzination einer asphaltierten Straße völlig unerwartet vor mir auf. Handelt es sich um das unheilvolle Vorzeichen der weitverbreiteten Seuche in Form von Tourismus? Oder … die einzige Straße? Ist es eine Luftspieglung? Bin ich überhaupt noch in der Lage, den Unterschied zwischen Wirklichkeit und dem Gegenteil zu erkennen? Warum hab ich jetzt keine Zigarette, damned. Bin ich schon sowas wie paranoid? Aber ich kann mich an alles das erinnern, was die letzten Tage passiert ist, auch wenn ich es nicht erklären kann. Es … es ist nur die Unsicherheit, die mich daran hindert, diese gewaltige Portion geistiges Neuland zu akzeptieren und die Wahrheit auf mich zukommen zu lassen. Verdammt, akzeptier doch einfach dieses Stück betoniertes schwarzes Etwas, das sich vor deinen Augen in den Boden beißt, auch wenn es ein kleiner Schönheitsfehler im Kontrast zu dieser Bilderbuchlandschaft steht. Steig aus, fass es an! Okay, mach ich wirklich. Shit, die Straße ist zu echt, um unwahr zu sein, alles klar. Sie ist so echt, dass sie sich nicht einmal die geringste Mühe macht, ihren Verlauf auch nur mit der Andeutung einer Kurve zu vergeuden. Gut, wenn das so ist, dann werd ich mir auch nicht die Mühe machen, über meine Fahrtrichtung nachzudenken, sondern intuitiv dem kerzengeraden Straßenverlauf folgen.

Während sich das vorbeifliegende Panorama schon wieder verändert, gilt meine Aufmerksamkeit dem glitzernden Etwas, das sich in der Ferne auffällig vom davorliegenden Sandbraun abhebt. Ich erinnere mich plötzlich, dass mir dieses Glitzern bereits beim Blick vom Berggrat aufgefallen ist. Die Straße führt nun leicht abwärts, vorbei an spärlicher werdenden Grünflächen. Mehrere Teiche fügen sich stattdessen zu beiden Seiten dieser Road to nowhere sanft ins Landschaftsbild. Gut erkennbar sind die hochstieligen Pflanzen, die diese Gewässer beschützend einrahmen. Langbeinige rosarote Vögel haben sich im scheinbar seichten Wasser versammelt, nehmen aber keinerlei Kenntnis vom gut hörbaren Motorengeräusch meines Pickups und stochern seelenruhig im seichten Wasser nach essbarem Getier. Noch etwas weiter entfernt tauchen andere Lebewesen in der Peripherie auf. Zehn, vielleicht Fünfzehn, die Distanz ist noch zu groß. Möglicherweise sind es auch dieselben, die ich schon beim Abstieg vom Berg beobachtet hab. Das allmählich näher kommende Glitzern weckt allerdings deutlich mehr von meiner Aufmerksamkeit. Dagegen liegt die Straße in öder Langweiligkeit vor mir, bar jedem Anzeichen von Verkehrsschildern, Ampeln, Radarkontrollen oder Parkverboten, schlichtweg die absolute Jungfräulichkeit jeglicher Verkehrsreglementierung.

Jetzt kann ich sie einwandfrei identifizieren. Es sind Pferde, eindeutig. Stolz grasen sie in friedlicher Ästhetik unbeeindruckt vom Vorhandensein eines von Menschenhand erschaffenen Verkehrsweges von Nirgendwo nach Nirgendwo. Von rechts durchquert ein beachtlicher Fluss aus den Westrocks herabkommend die langgestreckte Ebene. Die beachtlichen Wassermassen fließen mit angsteinflößender Geschwindigkeit genau in Richtung dieser Straße, bedrohlich näherkommend. Bedrohlich nahe, sehr nahe. Dickicht, Gebüsch und eine unübersichtliche Strassenkrümmung versperren mir aber die Sicht auf die Stelle, wo Wasser und Straße ihr eventuell verderbliches Zusammentreffen haben. Bevor ich ein weiteres Katzenleben verbrauch entscheid ich mich daher lieber dafür, den Ford auf die Tauglichkeit einer Vollbremsung zu testen. Wowowow… Das metallische Geräusch von Eisen auf Eisen ist kein gutes Zeichen, no. Son of a Bitch, viel zu langsam bremst dieser alte Bock. Da genau vor mir muss die Stelle gleich sein. Zwanzig, dreißig Meter hinter der kleinen Kuppe, dann bekomm ich ziemlich nasse Füße. Die Kiste wird nur minimal langsamer… Komm jetzt, come on. Ist das der Punkt, an dem ein allerletztes Kapitel mich von meinen lapidaren Gedanken endlich erlöst? Und dann?

Warum reg ich mich überhaupt auf, warum mach ich mir überhaupt über so was Lächerliches wie Lebensgefahr Gedanken? Eigentlich völlig absurd. Wie selbstverständlich war da kein Abgrund und auch keine reißenden Wasserfluten, die eine Straße und alles was drauf herumfährt todbringend mit sich wegspült. Natürlich hätt ich davon ausgehen können, dass in einem Land in dem sogar Wundermedizin vorhanden ist, auch das Vorhandensein von Brücken eine logische Normalität ist. Trotzdem ein Danke an diesen Irgendjemand, -ich vermute Harveys Vorgänger- der an dieser Stelle eine unauffällige, dafür aber stabile Brückenkonstruktion gebaut hat. Noch etwas anderes ist passiert. Es war nur der Hauch eines Augenblicks. Eine nebulöse Erinnerung die mich streift, als ich wenige Meter vor der Brücke endlich zum Stehen komm. Viel zu kurz, um sie gedanklich zu vertiefen oder aufzuschreiben. Sind denn hier in diesem Blechhaufen tatsächlich nirgends Zigaretten versteckt? Unter der Sonnenblende? Unter dem Sitz? Keine Erinnerung, keine Zigaretten, kein Plan. Dafür das magisch anziehende Glitzern eines vor mir auftauchenden Sees. Nicht allzu weit, gut um mein Gemüt abzukühlen. Okay, das ist mein Ziel. Fuck, und nun? Kaum ein paar hundert Meter später, ausgerechnet jetzt und hier, in fast schon greifbarer Nähe. Genau hier endet die Straße einfach so, als ob an dieser Stelle das Baumaterial ausgegangen wär. Das Seeufer liegt aber noch etwa einen geschätzten Kilometer entfernt von hier auf einer kleinen Anhöhe. But, ich denk … das Gelände wird für den alten Ford kein großes Problem sein. Ich will jetzt dahin und er wird das schon packen, das Gelände ist auch nicht wesentlich anspruchsvoller als das Offroad-Gelände von Tuffs Hill bis zur Asphaltstraße.

Klares smaragdgrünes Wasser, das so transparent ist, dass man jeden einzelnen Kieselstein am Grund des Gewässers erkennen kann. Dazu zaubert die Mittagssonne ein magisches Funkeln auf die spiegelglatte Wasseroberfläche. Am feinsandigen Ufer des weiten Sees, der sich hinter eine langgezogenen Landzunge biegt und an seiner linken Uferseite einzelne Palmengruppen bis unmittelbar ans Wasser heranwachsen lässt, fühle ich mich lediglich wie ein unbedeutender mikroskopisch winziger Punkt. Nicht einmal die Formation tieffliegender grau-weißer Vögel nimmt Kenntnis von meiner Existenz. In der Tiefe meiner Wahrnehmung überkommt mich das Bedürfnis, diesen Eindruck zu inhallieren und in völliger Demut festhalten zu wollen. Ist das alles nur ein vom Unterbewusstsein gefaktes illusionistisches Gedankenbild oder der geografische Ursprung der biblischen Genesis? Falls beides nicht zutrifft, dann ist es die Dreidimensionalität des Begriffes -Frieden-. Inmitten meiner pathetischen Euphorie trifft es mich wieder unvermittelt. Der gnadenlose Schmerz sticht ein weiteres Mal zu, krampfartiges Zittern der Beine, der Arme, Gliederschmerzen, eiskalte Hände. Diesmal empfind ich ein zusätzliches Würgen, als ob ich mich erbrechen müsst. Ich krümm mich am Boden zusammen, einzig darauf hoffend, dass der Anfall bald wieder vorbeigeht. Nichts von der gegenwärtigen landschaftlichen Pracht kann meine Qualen lindern, nichts von dieser Schönheit lenkt mich ab. Mein Empfinden gehört allein meinem gemeinen augenblicklichen Leiden. Am Boden gekrümmt kauernd kann ich einfach nur in Ergebenheit abwarten, bis das alles von selbst nachlässt.

Unbemerkt von meiner Aufmerksamkeit ist draußen am See ein Segel aufgetaucht. Ebenso unbemerkt nimmt ein Boot Kurs auf den Uferabschnitt, an dem ich immer noch mit meinen Beschwerden kämpf. Nicht nur die Wahrnehmung der Umgebung ist mir in diesem Zustand abhanden gekommen, auch die Zeit ist zu einem Nichts verkümmert. Dabei hätt es durchaus etwas zum Beobachten gegeben. Das Näherkommen eines Zweimasters zum Beispiel. Trotz wenig Wind, doch überraschend zügig. Ich hätt auch den weit ins Wasser hinausreichenden Steg erkennen können, auf den das Segelboot in diesem Moment zuzusteuern scheint. Und ich hätt die weiße Farbe des eleganten Bootes mit seinen schwarzlackierten Aufbauten erkennen können. Ja, hätt ich, wenn meine Schmerzen mir keine Auszeit aufgenötigt hätten. Erst jetzt endlich verfolgen meine mittlerweile an Überraschungen gewohnte Augen das Anlegen des Bootes am Steg. Zum Glück sind meine Beschwerden nun so gut wie abgeklungen. In Sitzposition kann ich die ganze Szene verfolgen, neugierig aber abwartend, was sich als Nächstes ereignen wird. Jemand klettert über die Reling. Eine einzelne Person, zierlicher Körperbau, vielleicht weibliches Geschlecht? Tatsächlich täuscht mich mein geübtes Auge nicht. Soweit es sich aus der Distanz erkennen lässt sieht das, was über die Schultern fällt, aus wie feminines schulterlanges glänzendes Haar. Durch das blendende Licht der Sonne lässt sich die Farbe nicht eindeutig bestimmen. Ein anderes Detail bestätigt allerdings meine berechtigte Vermutung. Ein Kleidungsstück. Selbst aus dieser Entfernung ist es zweifelsfrei ein enganliegendes Kleid, grau, oder anthrazitfarbig, das ihre schlanke Figur vorteilhaft betont. Mit einem Mal erwacht auch mein fleischliches Interesse zu neuem Leben. Beeindruckend schick, wie sie über den Steg zu schweben scheint. Das Schauspiel gleicht eher einer Filmszene, nur das Kamerateam ist außer Sichtweite. Sie ist ganz offensichtlich die Hauptdarstellerin. Unvorstellbar, wenn sie zu mir herüberkommen würd? Welche Nebenrolle wär im Drehbuch für mich vorgesehen gewesen? Ein wirklich amüsanter Gedanke. Natürlich alles nur abwegige Tagträume. Vermutlich wär so jemand wie ich, der die Brücken der Vernunft bereits hinter sich gelassen hat, nicht mal in der Lage eine halbwegs vernünftige Statistenrolle auszufüllen, oder doch?

Bin ich plötzlich mein eigener Regisseur geworden, oder warum passiert genau das, was sich ein unausgesprochener Gedanke in der demolierten Abstellkammer meines Gehirns aus der Hüfte heraus zusammenfantasiert hat? Mag auch sein, dass das alles arrangiert ist. Die Art, wie sie sich auf mich zubewegt ist keinesfalls eine Laune des Zufalls, keine Gelegenheitsbegegnung, never. Dafür eine weitere unerklärliche Begegnung auf meinem Trip, bei der ich die Zielscheibe eines unbekannten Gegenübers bin. Nicht unangenehm in diesem Fall, beileibe nicht. Ihr Näherkommen macht mir ganz plötzlich etwas anderes bewusst. Weibliche Reize, die sich gerade auf mich zubewegen, eine sagenhafte Figur, dieses enganliegende Kleidchen, das mehr eine zweite Haut als ein zweckdienliches Stückchen Stoff ist, und eine verführerisch verspielte Art über den Sand zu schlendern. Ihre ganze Erscheinung, unglaublich attraktiv. Es weckt augenblicklich ganz andere Körperregionen in mir. Das ist gut. Yes, es ist absolut beruhigend zu wissen, dass die Gehirnabteilung, die für die Vorstellungskraft unterhalb der Gürtellinie verantwortlich ist, trotz meiner unfreiwilligen Gedächtnis-Vollbremsung seine Einsatzfähigkeit nicht verloren hat. Ein kräftiger Hormonschuss entfacht ein Feuerwerk triebhafter Instinkte in mir und will meine eigentlich konfuse Momentsituation mit den Farben der Wollust schönmalen. Why not? Soll er doch. Ein Film läuft in meinem Kopfkino. Ich sitz dabei in der allerersten Reihe. Wir sind allein, ungestört. Viel zu verschwenderisch, dass ein Kleid genau das bedeckt, was ich genau jetzt so absolut gern und aus nächster Nähe begutachten würd. In der nächsten Gedankenszene stell ich mir ihren braungebrannten makellosen Körper darunter vor, wähne mich in der Rolle des lüsternen Piraten, der dieser Lady das enganliegende Kleidchen abstreift, die Unterwäsche begierend vom Körper reisst, ihre festen erregten Brüste ergreift, und seine ungezügelte Leidenschaft heftig zustoßend in ihrem zuckenden Unterleib versenkt, bis lustvolle Schreie die umgebende Stille vibrieren lassen.

Nur einen viel zu kurzen Moment lang ist mir diese erotische Illusion vergönnt, dann zerplatzt das Klischee des lasterhaften Piraten, der in der blauen Lagune mit seiner erbeuteten Sklavin den sexuellen Liebensakt zelebriert, jäh wie eine Seifenblase. Ihre großen braunen Augen finden sich unmittelbar den meinen gegenüber. Ein Gesichtsausdruck, ausgefüllt mit einer natürlichen Leichtigkeit und samtweichen sinnlichen Lippen. Nur einen Wimpernschlag lang überkommt mich eine vage Erinnerung die sich umgehend wieder verflüchtigt, bevor sie den Weg in mein Erinnerungszentrum erreicht hat. Sind es die gleichen Lippen, die mich im Traum verfolgt haben? Nein, diese andere Frau war blond, sie hatte Lippenstift, es war zu viel Rot auf ihren Lippen, und sie war tot, oder? Verdammt, ich hasse diese Unwissenheit, die mich ständig umgibt wie in bunkerartiges Gefängnis, fuck.

Das Gegenüber ist die Realität, auch wenn ich nicht weiß welche. Sie besteht aus einem wunderschönen Gesicht mit strahlenden, weißen Zähnen, die wie Perlen glänzen. Sie fixiert mich mit ihrem Blick, zuerst lächelnd, dann fragend und zuletzt nachdenklich, oder ist es ein Hauch von Verlegenheit? Dort, wo meine sündigen Gedanken gerade noch in Wolllüstigkeit gebadet haben ist jetzt eine beschämende Befangenheit getreten. Mein Emotionsbarometer, das mich gerade noch mit Leichtigkeit erfüllt hat, ist umgeschlagen auf Verzweiflung. Ich steh einfach da, wie eine Statue, steif und gedanklich ungelenkig wie eine Straßenlaterne. Die Lady scheint darauf zu warten, dass ich etwas sage. Ist sie irritiert, weil ich stumm bleib? Oder muss sie nachdenken, was in ihrem Drehbuchtext als nächstes steht? Ich werd es nicht sein, der die Konversation beginnt.

Ein unverfängliches Lächeln nimmt wieder den Platz in ihrem schönen schmalen Gesicht ein. „Nimmst du mich mit?“

Ich hab mit allem Möglichen gerechnet, aber nicht mit dieser Frage. Kein Wunder also, dass ich nur ein automatisches „wohin?“ formulieren kann.

„Wohin?“ wiederholt sie meine Antwort und lacht herzhaft belustigt. Es zaubert zwei kleine Grübchen ihr samtbraunes Gesicht und macht es noch hübscher, als es ohnehin schon ist. „Hm, okay, wenn du mich so fragst, dann möchte ich in diesem Fall nach … New York City…5th Avenue“, begleitet von einem mädchenhaften Kichern.

Ich weiß wirklich nicht, was ich darauf antworten soll. Ich brauche mich nicht ahnungslos stellen, ich bin es. Genausogut könnte ich den kompletten Friedhof meiner Gedanken von hinten bis vorne umgraben, ich würd nicht einmal Staubkörnchen von Erinnerungen finden. „Okay Lady, und wie genau sollen wir da hinkommen nach New …?“

Sie schließt kurz die Augen. Eine Heimlichkeit schleicht sich dabei in ihren Blick, der sich in Form kleiner kaum sichtbarer Falten auf ihrer Stirn zeigt, was wohl nur bedeuten kann, dass das die ziemlich falsche Antwort und die genauso falsche Frage war. Sie zögert etwas, bevor sie weiterspricht, dabei blitzen Ihre Augen von links nach rechts, als ob sie versuchen würde etwas in meinen Augen zu lesen. Dann wechselt sie das Thema.

„Ist ja ein eleganter Schlitten, mit dem du da durch die Gegend fährst.“

Obwohl ich mich nicht kenne, geh ich intuitiv davon aus, dass mir der Umgang mit dem weiblichen Geschlecht im Normalzustand keinerlei Probleme bereitet. Dieses feminine Gegenüber allerdings ringt mir eine Aufmerksamkeit ab, die mich verunsichert und irritiert.

„Immerhin bin ich damit hierher gekommen.“

„Du meinst, dieses … Ding fährt tatsächlich?“

„Wenn du mir verrätst, wie wir in dieses New … kommen, dann werd ich mein Bestes versuchen, Lady.“

Verdreht sie ihre dunkelbraunen Augen, in denen nun klitzekleine Fragezeichen auftauchen, oder scheint es mir nur so?

Sie mustert mich nachdenklich. „Heilige Mutter Gottes, nein … dann nicht nach New York, nein … nach … Mexiko.“

Welche Rolle spielt es für mich, ob New … oder Mexico, sie könnte genauso gut zum Nordpol oder einmal zum Mond und zurück wollen. „Mexico?“

„Mexico, okay. Dann lass uns fahren, Fremder.“

Fremder, wow. Dann bin ich wohl um einen neuen Titel in meiner Sammlung reicher. Ein -Mister-, ein -hey-, ein -Bruder- war ich bereits, jetzt endlich zutreffend das, was ich tief in mir selbst fühle, seit ich meinen Fuß auf diesen Punkt Erde in der Mitte eines Ozeans gesetzt habe, ein -Fremder-. Danke.

„Auf was zum Himmel wartest du noch, fahr los.“

Wann bekomme ich endlich eine verdammte Zigarette, vielleicht in Mexico? Immerhin lässt mich die Anwesenheit dieser Lady mein körperliches Leiden völlig in Vergessenheit geraten.

Ich folg dem Lauf der Straße, mein scheuklappenartiges Blickfeld ist der schwarze Asphalt, der da und dort von ein paar Grasbüscheln durchlöchert ist. Dabei kann ich den unablässigen Blick meiner attraktiven Beifahrerin, der an meinem Gesicht haftet, förmlich fühlen. Eine Wolke des Schweigens hat sich zwischen dem Lenkrad und den beiden Vordersitzen des Pickups breit gemacht und knisternde Anspannung ersetzt jegliche Konversation. Wieder hat das Wort Zeit jegliche Dimension verloren. Es ist vielmehr so, als ob das abgehalfterte Stück Auto im zeitleeren Raum mit mir dahinfährt, nicht umgekehrt.

„Grundgütiger, du bist vorbeigefahren,!“

Da hab ich doch glatt Mexico übersehen, man glaubt es kaum. Aber sie muss es an der Unschuldigkeit meines Gesichtsausdru-ckes unschwer ablesen können. Tatsächlich ist im Rückspiegel etwas wie eine gut getarnte Abfahrt zu sehen. Kommentarlos setz ich den Wagen zurück und nehme den kerzengeraden Uralt-Highway ostwärts unter dem unangenehmen Beigeschmack eines strafend wirkenden Blickes, der mich weiter pausenlos fixiert. Was will diese Lady von mir? Hätt dieses fahrende Antiquariat wenigstens ein Radio, dann würde die unterhaltungslose Stille erträglicher sein. Kaum gedacht, vernehm ich ein melodisches Summen vom Beifahrersitz. Kann denn jeder hier einfach so meine Gedanken lesen wie ein öffentliches Telefonbuch? Die Melodie klingt harmonisch. Gut möglich, dass ich sie schon einmal gehört hab, vielleicht ein alter Gospelsong? Vielleicht auch nicht, ich vermeid es besser nachzufragen, meine verbale Reaktion ist ohnehin wie gelähmt, was ich nicht von ihrer Stimme behaupten kann. Sie akzentuiert jeden einzelnen Ton in einer perfekten Art und Weise, die meine ganze Aufmerksamkeit in Anspruch nimmt. Bald vergess ich das vorbeifließende Drumherum der immer noch menschen- und gebäudelosen Gegend.

„Fahr langsamer, da vorne….“

Die Lady spricht wieder mit mir.

„Bei dem großen Kaktusbaum geht es rein.“

Erst jetzt registrier ich die vielen verschiedenen Kakteen, die die Straße an beiden Seiten alleenartig einrahmen. Der große Kaktusbaum gibt einen etwa zwei Meter breiten Weg mitten durch ein Gestrüpp aus weiteren Kakteen frei. Dann lichtet sich das Dickicht aus Stacheln und wir stehen vor einem Platz in dessen Zentrum eine stattliche Hacienda auftaucht.

„Wir sind da, Fremder.“

Aha, Mexico. Man muss es den Leuten hier schon lassen. Das, was sie bauen, hat durchaus Größe und Klasse. Exakt verarbei-tete Natursteine, die sich nahtlos an- und aufeinanderfügen zu einem massiven Bauwerk mit wetterfestem Ziegeldach. An der Frontseite fallen 40 oder 50 Sombreros auf, die offensichtlich zu dekorativen Zwecken wie eine Art Girlande unterhalb des Giebels an der Hauswand angebracht sind, albern und crazy zugleich. Auf dem Platz vor dem Gebäude wachsen drei riesige Westernfilm-Kakteen aus dem steinigen Boden, wobei der Blickfang dem wuchtigen krummen abgestorbenen Baum unmittelbar neben dem Eingang gilt, der mit hunderten von leeren Flaschen drapiert ist. Über dem Eingang hängt ein verblichenes Blechschild mit der nur mehr schwach lesbaren Aufschrift: ME IC N LOD E

Baker Island

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