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3 - Garten der Medizin

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Der Widerhall der Hupe liegt noch abnehmend in der immer noch flimmernden Luft dieses heißen Nachmittags, während eine kleine Staubwolke die Richtung markiert, wohin sich der Taxi-Cowboy, unmittelbar nachdem er mich abgesetzt hat, buchstäblich aus dem Staub gemacht hat. Nicht unsympathisch auf seine Art, aber andererseits doch wiederum ein eigenartiger Typ, der so etwas wie seinen Job gemacht hat, einen Auftrag erledigt hat, oder zumindest wollte, dass es danach aussieht.

But now, sitz ich hier, wie auf`s Neue ausgesetzt auf einer wie von Kinderhand knallbunt bemalten Parkbank, umrahmt von einer Vielfalt wuchernder Blüten, an denen hunderte von Schmetterlingen gierig Nektar saugen wie Säuglinge an einem Schnuller. Von einem Tuff-Hill oder einem wer-auch-immer-das-sein-mag-Tuff dagegen nicht die geringste Spur von Anwesenheit. Was wird mich wohl als nächstes in diesem Spiel erwarten? Darf ich etwa darauf hoffen, dass ein Begrüßungskomitee des Niemandslandes den roten Teppich ausrollt, oder doch eher den Polizeiwagen mit einer Hundertschaft und einem Haftbefehl? Es ist mir irgendwie egal, wenn sich nur endlich jemand um meine Befindlichkeiten kümmert. Die Angst hat sich verkrümelt, an ihrer Stelle wächst ein zunehmendes Gefühl der Gelassenheit und der Neugier in mir. Noch bevor ich mich in zu großer Sicherheit wiege, oder wieder in den gedanklichen Fragemodus wechseln kann, nehm ich aus noch undefinierbarer Quelle ein näher kommendes Sing-Sang wahr. What`s goin on? Und urplötzlich sehe ich mich direkt in zwei extrem leuchtende Augen blicken. Dazu vernehm ich als Begleitmusik ein für meine augenblickliche Erwartung beinah schon zu vorbehaltloses „Howdy Bruder!“

Tuff? Schmales Gesicht, intensivbraun, schulterlange graue Deadlocks, ein genauso grauer Kinnbart. Er ist gegenteilig von übergewichtig, also schlaksig, trägt ein gelbes Fußball-Trikot mit einer Aufschrift, deren Schrift ich nicht lesen kann, und eine mehrfarbige zerknitterte Leinenhose. Nur einen Erinnerungsblitz lang meine ich, das Gesicht zu erkennen, um es ebenso blitzartig wieder zu vergessen.

„Hast du eine Zigarette für mich Mann?“, hör ich mich die Frage stellen, die ich bereits beim Cowboy loswerden

wollte, sofern dieser einen Tick wortreicher gewesen wär.

Sein Blick klebt förmlich auf meinem Gesicht, während er mich mit einem unablässigem big-easy-smiling fixiert

und dabei seinen Rastalockenkopf hin und her wiegt. Ich fühl mich dabei so was von durchgeröntgt, als ob

sämtliche Zahnrächen in seinem Oberstübchen meine DNA entschlüsseln wollten. Mustert er mich in dieser

außergewöhnlichen Intensität, um mein Gesicht mit der Fahndungsliste abgehauener Häftlinge oder anderer

unerwünschter Personen geistig abzugleichen? Falls ja, und ich doch ein Straftäter bin, dann wurde ich

ausgesetzt, entfernt aus diesem sogenannten Paradies, über irgendwelche versteckten Kameras gesichtet,

dann von diesem Cowboy-Deputy ohne Polizeimarke aufgeschnappt und stehe nun unmittelbar vor einem

Verhör oder einer neuen Festnahme durch den obercoolsten Insel-Sheriff den man sich vorstellen kann.

Vielleicht erfahre ich auf diese Weise endlich, who I am. Ohne auf meine Zigarettenfrage einzugehen liegt sein

observierender Blick immer noch wie ein Abziehbild auf meinem Gesicht wie auf der Suche nach konkreten

Spuren in meinem Hirn, das so leer ist wie ein ausgelöffelter Suppenteller. Endlich verliert sein Blick eine

Wenigkeit des undeutsamen Grinsens. Stattdessen mischt sich ein kaum wahrnehmbares Zucken seiner

Mundwinkel in seinen Ausdruck. Wie auf Knopfdruck wendet er sich abrupt um, die Hand, mir den Rücken

bereits zuwendend, ein eindeutiges Zeichen gebend, ihm zu folgen.

„Komm, lass uns ein Stück gehen.“

„Warte Mann, mein Fuß!“

Aus dem Nichts zaubert er plötzlich einen Stock zu Tage, den er mir reicht. „Nimm den Bruder!“ Vermischt mit einem sing-sang humpelt er murmelnd vor mir her, wobei ich nicht weniger lädiert versuche, ihm zu folgen. Erst jetzt fällt mir auf, dass ein künstliches Rasta-Bein der Grund seines schlürfenden Ganges ist. Ich hätt es wohl kaum bemerkt, wenn seine Prothese nicht mit diesen bunten Schmetterlingen bemalt gewesen wär. Ein echt abgefahrener Typ mit seinem Schmetterlingsbein.

War das gerade das ganze Verhör? Dann auch keine Polizei, keine Zelle? Statt Tür mit Schloss, Riegel und Gitter passieren wir zwei Humpelmänner einen Torbogen, der durch das Blütengestrüpp verdeckt war. Gleich dahinter gelangen wir auf einen Steg aus wuchtigen Holzdielen, der sich kurvig durch das Gelände windet. Zu beiden Seiten üppiges Grün ähnlich einer Allee verhindert die Sicht auf die weitere Umgebung. Tuff bleibt kurz stehen, da ich ihm nur mit verzögertem Tempo folgen kann. Als ich ihn erreiche, stehen wir wieder vor einem Torbogen. In einer der schweren Bodendielen kann ich ein eingelassenes Schild lesen: „Garden-of Woods-Schild (Garten der Wälder). Wir betreten weiter dem Steg folgend ein Terrain, das eine irrsinnig abwechslungsreiche Ansammlung unterschiedlichster Baumarten aufweist.

„Kein einziger Baum ist wie der andere, Bruder“, erklärt Tuff weiter, in seinen unnachahmlichen Fortbewegungsstil vorauslaufend.

Ich folge ihm stillschweigend, mich von dieser nahezu opulent wirkenden Vegetationswelt berieseln lassend. Wieder ist er mir einige Schritte voraus als er einen nächsten Stopp einlegt.

„Siehst du Bruder … dort drüben die beiden kleinen Bäumchen. Ist echt cool, yeah. Jetzt lebe ich schon eine Ewigkeit in diesem Wunderland und immer wieder finde ich eine Pflanzenart, die ich noch nicht kenne. Der eine mit den kreisrunden gestreiften Blättern, und gleich daneben, der etwas größere mit den jeweils doppelt übereinanderliegend angeordneten Ästen, die sich an den Enden gemeinsam ineinander verschlingen wie die Stricknadeln beim Sockenstricken, cool. Die hab ich erst in diesem Frühjahr entdeckt, ich muss mir noch einen Namen für die beiden Prachtstücke überlegen.“

Ist es die Vielfalt der Botanik, die mich in beeindruckender Ehrfurcht diesem mehr tanzend als humpelnd vorauslaufenden Rastaman stumm folgend fraglos lässt, oder meine automatische Schweigen-ist-Gold-Strategie? Wieder erreichen wir einen weiteren, diesmal aus Bambus geformten Torbogen. „Garden of Waters“ (Garten des Wassers). Die Üppigkeit der Schöpfung weist mich in die Schranken der eigenen Nichtigkeit, wenngleich das Wort Nichtigkeit an dieser Stelle noch eine weitere selbsterklärende sinnbildliche Bedeutung erlangt. Ich komm dem Geheimnis meiner Person nicht näher. Nur das Plätschern eines Wasserlaufs der über einer Reihe von Kaskaden dem Steg folgt, lenkt meine Gedanken wieder zurück auf die Einzigartigkeit der Natur und die Vielfalt deren spielerischen Variationen. Über eine kleine Hängebrücke überqueren wir den Bach, der sich hier entscheidet, seine Richtung zu ändern. Bald darauf tauchen beidseitig des Steges kleine Teiche auf, die mit weiteren kleinen stegartigen Holzbrücken versehen sind. Dazwischen hineingestreut kleine sanfte Grashügel, groß genug, um auf deren Anhöhe jeweils einen Baum mit ausladender Krone wachsen zu lassen. Darunter eine Sitzgelegenheit, ein Stein, ein Baumstock. An einer dieser Stellen entscheidet sich Schmetterlingsbein, den Steg zu verlassen. Zielsicher steuert er die Rückseite eines Hügels an, an der eine Quelle entspringt, die als kleiner Bachlauf nur wenige Meter später in einen weiteren Teich mündet. Handtuchgroße Blätter mit glänzend blauen Blüten übersäen die Wasseroberfläche und täuschen den Eindruck einer blauschillernden teppichartigen Wiese vor.

„Setz dich.“

Erst jetzt sieht er mich mit diesem strahlenden Leuchten seiner Augen an. Kurz darauf kneift er sie zu und taucht seine Hände in das glänzend schimmernde Wasser. Keine Ahnung, ob dieses schamanenartige Gehabe ein Ritual oder ein Spiel sein soll. Aber nur einen Bruchteil später gleiten seine beiden Hände an meinem schmerzenden Bein entlang ohne es zu berühren, begleitet von seinem Sing-Sang, das mir mittlerweile schon vertraut geworden ist. „Was ist mit deinem Bein passiert, Bruder?“

Ist das die ultimative Chance, meine Flaschenpoststory zu präsentieren? „Ich bin von der Mauer gesprungen…“

Seine Mimik wirkt jetzt abwesend, gedankenverloren. „Die höchste Mauer die es gibt ist in unserem Kopf, Bruder. Ich musste ein zweites Mal geboren werden, um meine Mauer zu überwinden. Wir sind zeitlebens gefangen in Mauern, und wir kapieren das nicht einmal. Die wirkliche Freiheit fängt erst hinter dieser Mauer im Kopf an Bruder. Komm, ich zeig dir noch was.“

Er nimmt Kurs zurück zum Steg. Mit der professionellen Routine eines Stadtgärtners, der seinen Gast durch die Parkanlagen führt, setzt Tuff seine Führung fort. Meine Mauergeschichte dagegen scheint ihn nicht sonderlich zu interessieren.

„Riechst du was Bruder?“

Soll ich wahrheitsgetreu antworten?

„Was soll ich denn riechen?“

„Nicht möglich. Bruder. Ich dachte, du bist auf dein Bein, und nicht auf deine Nase gefallen.“

Mein Bein? Fuck, ist ja echt verblüffend. Ich hab gar nicht mehr daran gedacht, als ich ihm nachgeeilt bin. Der Schmerz ist verschwunden, ich hab ihn vergessen. Dann war das Hokuspokus vorhin also doch kein Spiel und Rastaman ist so was wie ein Insel-Medizinmann.

„Du meinst diesen scharfen Geruch Mann?“

„Ich weiß nicht, was du unter scharfem Geruch verstehst Bruder, aber in meiner Nase riecht es wie ein scheißübler Gestank.“

Die Öffnung des nächsten Torbogens führt zur Quelle des ekelerzeugenden Geruchskonzentrats. Daran beschönigt auch der Schriftzug „Garden of life“ (Garten des Lebens) nichts, der in Mosaikarbeit aus kleinen bunten Glasstückchen in den Steinbogen eingearbeitet ist.

Doch Tuff hält genau an dieser Stelle abrupt inne, wie urplötzlich von spirituellem Wahnsinn erfasst. Augenblicke vergehen.

„Das ist mein wahres Mekka, Bruder!“

Und wieder vergehen weitere Augenblicke, in denen er vermutlich seinen spirituellen Einklang sucht, bevor er endlich den Torbogen in andächtiger Haltung durchschreitet.

Fast beiläufig höre ich ihn fragen: „Glaubst du an Wunder, Bruder?“

Eine überraschende Frage, bin ich doch die letzten Tage von einer unerwarteten Situation in die nächste gestolpert, war kurz davor, mein over and out zu akzeptieren um im nächsten Augenblick dem Sensenmann dann doch wieder von der Exodus-Schippe zu springen.

„No Mann, aber ich glaub dass es Glück gibt, jede Menge sogar. Selbst da, wo weit und breit keine Hoffnung mehr ist.“

Schmetterlingsbein hört mir gar nicht zu, oder ist er noch mitten in seiner Meditationsnummer?

„Das Wunder das ich meine hat einen Namen: Makani. Er hat mich gelehrt, die eigene Nichtigkeit zu akzeptieren und mich ihr zu unterwerfen. Ich war dazu geweiht, meine nicht verkrebsten Körperreste dem Siechtum zu überlassen als ich hierher gekommen bin. Es sollte meine letzte Station auf der Reise ins Licht sein. Er hat es verhindert. Über den Tod hat er gesagt -solange ich da bin, ist er nicht da, und wenn er da ist, bin ich nicht mehr da-. Guter alter Makani.“ Tuff humpelt dem nach gärender Fäulnis riechenden Ziel voraus. Auf dem Rundweg sind rechtsseitig Hochbeete angelegt. Sie sind durchnummeriert wie die Sitzreihen in einem Charterflugzeug. Links ist nur eine große Wiese, verstreut wachsende Blumen, ein riesiger Baum mit überdimensional weit ausgestreckten Ästen und einer Krone, die einen kompletten Marktplatz bedecken könnte. Nur wenige Meter seitlich vom Stamm ein auffälliger Hügel auf dem ein gewaltiger Steinbrocken ruht. Ohne dass Rastaman in seinem Rücken erahnen kann, worauf meine Augen gerade gerichtet sind, erklärt er in sanftmütigem Ton: „Sein Garten, sein Vermächtnis und sein Platz.“

Zwei seltsam anmutende Vögel sitzen regungslos auf einem der knorrigen Äste. Stolz scheinen sie den Hügel zu bewachen.

„Sie haben ihm Unrecht getan, diese Idioten.“

Mit der Rhetorik eines erleuchteten Predigers beginnt Rastaman eine Laudatio. „Makani ließ sich aber den Mund und seine Meinung nicht verbieten. Der arme Teufel konnte nicht mal lesen und schreiben. Und trotzdem hat er es geschafft den zweifelhaften Ruhm einer persona non grata zu erlangen, und sich und seiner Familie dafür die Umsiedlung hierher -im sogenannten Interesse des Vaterlandes- eingehandelt. In Wahrheit war er genial, zu genial. Ein medizinisches Universum, obwohl er Analphabet war. Er wusste alles über die Heilkraft von Kräutern und Pflanzen, die noch nicht einmal in der Fachwelt bekannt waren.“

„An den Gestank gewöhnst du dich, Bruder.“

Beet Nummer sechs. Mit dem Finger an den Mund fassend bedeutet er mir still zu sein.

„Ich kann sie singen hören!“

Dreht Tuff jetzt komplett durch? Er wiegt tatsächlich seinen Rastakopf so täuschend echt im Rhythmus, als ob diese Pflanze eine imaginäre Melodie ausströmen würd. Aber ich schenk es mir besser ihn zu fragen ob er eventuell gerade chilling me softly hört. Ziemlich abgefahren, die ganze Show hier. Ich hab von Leuten gehört, die Geister sehen. Nun ja, der hier hört Pflanzen singen. Für ihn wahrscheinlich so normal wie Kerzenausblasen.

„Er nannte sie Kaiulani

Wir stehen vor einer wulstartigen Pflanzengattung, die sich wuchernd auf Bambusrohren hinaufkriechend dem Sonnenlicht entgegenräkelt. Sie ist die absolute Atommutter aller Stinkbomben. Spiralförmige rote Früchte hängen glänzend an den wulstigen Blättern.

„Das bedeutet so was wie Königin.“ Wieder schließt Rasta seine Augen und … meditiert er gerade?...

„Seine Verbannung war meine Rettung. Alle diese studierten Ärzte auf der ganzen Welt, die sich Kapazitäten nennen. Und wenn du dann wirklich fällig bist deinen Löffel für eine beschissenen Krankheit abzugeben, dann ziehen sie alle den Schwanz ein. Dann ist es plötzlich vorbei mit ihrer Schulmedizin-Weisheit und du bist mit deinen Metastasen so was von allein wie der ürbiggebliebene Schuhabdruck von Armstrong auf dem Mond. Aber dieses stinkende Zeug hier heilt das, was kein Medikament und keine Chemobehandlung kann. Das ist ein echtes Wunder, Bruder.“

Tuff hatte Recht, ich nehme den penetranten Gestank nur mehr am Rande wahr.

„Das hier ist sein Vermächtnis, Makani, ein einfacher kiffender Kräuterguru, den man hierher verbannt hat. Dieser ganze botanische Park hier ist sein Werk. Er hat das alles angelegt, mit seinen eigenen Händen. Ich habe es nur noch ausgebaut, vervollständigt. Makani hat mir alles gezeigt, was man über das Grünzeug wissen muss. Habe lange gebraucht, aber dann hatte ich endlich den Dreh raus. Du könntest ein unvorstellbares Vermögen in der Welt da draußen machen. Aber die Pharmaindustrie, die Ärzte, die Kliniken und alle anderen, die davon profitieren, was meinst du würden sie machen Bruder, hm? Glaub mir, es …“ Tuff sprach nicht weiter sondern drehte sich um und ging schweigend auf dem Steg zurück.

Wir passieren noch einige andere Gärten, wie den Garden of flowers (Garten der Blumen), den Garden of silence (Garten der Ruhe) und den Garden of senses (Garten der Sinne). Ich bin wieder in meiner eigenen Gedankenwelt angekommen und frag mich, ob das alles reell ist, oder ob ich von dem Duft des Grünzeugs bekifft bin. Ich versuch mir wieder klar zu machen, dass ich vor gerade mal ein, zwei Stunden mehr oder weniger wie ein lahmer Vogel mit einem gebrochenen Flügel auf einer bunten Parkbank gesessen bin und jetzt einem ebenfalls fußlahmen Kerl nachlaufe, der mir vom achten Weltwunder erzählt. Warum fragt er mich nichts, why? Und wo ist eigentlich in dieser medizinischen Schatzkammer der Garten der Erinnerung? Als ob Schmetterlingsbein Gedanken lesen könnte bleibt er kurz stehen, schaut mir mit seinem Begrüßungsgrinsen in meine fragenden Augen, und deutet mit seinen Fingern zurück zum Garten der Sinne.

Janet, Lucy, Cindy, Yvette, Patrica … habe ich alle selbst gezüchtet. Da drinnen ist der Kreiß-Saal meiner Babys, da werden sie gezüchtet, gebrütet und aufgepäppelt, gefüttert und veredelt, und dann kommt gelegentlich jemand mit dem Kinderwagen vorbei um sich eines meiner Edel-Küken abzuholen. Im Haus bekommst du eine Kostprobe von meiner ganz neuen Sorte.“

„Kokain, Marihuana?“

„Du wolltest doch eine Zigarette, oder nicht?“

„Egal Mann, Hauptsache, es ist was zum Rauchen.“

„Hey Bruder, das ist besser, als nur irgendwas zum Rauchen. Das sind Glücksbabys, verstehst du?“

Natürlich versteh ich nichts, aber ich behalts lieber für mich. Tuff verzichtet auf eine weitere Erklärung. Er deutet nach rechts und ergänzt es mit einem Nicken seines Kopfes in die gleiche Richtung „Cedella!“

Soviel ist sicher, Tuff ist ein Pflanzenflüsterer, eine sonderbare Marke der Typ. Aber andererseits, wenn mir irgend jemand helfen kann mein Gehirn wieder zum Funktionieren zu bringen, dann müsst ich bei ihm eigentlich in besten Händen sein.

„Das Haus, Bruder, Cedella.“

Nach wenigen Schritten stehen wir vor einem auf Stelzen stehenden bunten Holzhaus im Kolonialstil. Es ist mindestens so bunt wie die Parkbank. Die Veranda gibt einen herrlichen Fernblick in das Tal und einen noch deutlich herrlicheren in die zum Greifen nahen Berge der Westrock-Mountains frei. Müdigkeit überkommt mich, als ich mich in einen der Veranda-Sessel hineinfallen lasse. Als ich wieder meine Augen öffne, ohne zu ahnen ob ich geschlafen habe oder nur ein kurz eingenickt bin, sehe ich abermals in ein neues Gesicht. Sie ist bildhübsch, dunkle Haare, zierliche Figur. Sie ist dabei, ein Tablett mit einem Glas blutrotfarbigen Getränkes vor mir abzustellen.

„Trink Bruder“ höre ich die Rasta-Stimme hinter mir, ohne ihn sehen zu können.

„Hey, ist echt fein“, ergänzt das Mädchen um die Zwanzig und verschwindet mit ihrem mir zugewandten knackigen Hinterteil im Haus.

Meine Unwissenheit verwirrt mich für einen Moment, in dem ich zaghaft versuche, das gerade Erlebte auf den Prüfstand der Realität zu stellen. Paradies, oder Himmel, Traum oder ein Trip?

„Bruder du hast geschnarcht wie ein Pandabär.“

Die nächste Feststellung, mein Bein ist verbunden und die Sonne beginnt sich hinter den Bergzacken zu verabschieden.

„Hat dich wohl beeindruckt, die kleine Tour durch die lebendige Apotheke, was?“ Tuff setzt sich neben mich, den Blick in die untergehende Sonne gerichtet. „Ich liebe die Sonnenuntergänge hier, jeden einzelnen. Dieses überragende Naturschauspiel, wenn die Sonne ihre Farbe in ein weiches Rot ändert und das Haus dabei noch kurz anleuchtet wie eine Kerze in der beginnenden Dunkelheit, bevor sie sich hinter den Bergen zurückzieht.“

Rasta beginnt wieder sein typisches Kopfwackeln, als ob er sich zu einer unhörbaren Musik bewegen würde. Er ruft nur „Mary!“ Kurz darauf balanciert Mary ein neues Tablett heraus auf die Veranda, das nach einem herrlichen Fischgericht duftet.

„Du bist mein Gast, Bruder, lass es dir schmecken, hau rein.“

Ich bin tatsächlich in der Lage eine Portion for two zu essen, ohne darüber nachzudenken, was ich da genau zu mir nehme. Egal, es ist eine kulinarische Köstlichkeit. Am Ende komm ich mir vor wie ein Plüschtier, das man mit der doppelten Füllmenge an Watte ausgestopft hat.

Tuff beeindruckt das nicht sonderlich. Dafür beobachtet er mich unablässig wie eine seiner singenden Pflanzen.

„Du siehst ein bisschen abgenutzt aus.“

„Oh no, ich brauch nur eine Zigarette, Mann.“

„Klar, ich hab was neues. Ist so harmlos wie coffeinfreier Kaffee. Geiles Zeug, Bruder. Du chillst trotzdem weg, als ob du nicht von dieser Welt wärst.“

„Okay. Cool Mann. Und … so wie ich dich einschätz, hast du auch bestimmt eine Pille für Leute mit Gedächtnislücken in deiner grünen Apotheke.“

Ein mehr als mitleidiger Blick trifft mich. „No Pill, no cry! Meine Regel, Bruder. Auch keine Methusalem-Pillen. Ich habe zuviel von diesem Mistzeug bekommen und genommen. Alles nur Shit, da backe ich lieber chinesische Glückskekse mit dir.“

„Willst du mich auf den Arm nehmen, Mann?“

Zunächst schweigt Tuff. Es sieht aus, als ob er nachdenken würd.

„Was ist mit deinem Gedächtnis, Bruder?“

„Es ist weg, Mann. Ich hab es vergessen.“

„Was hast du vergessen?“

„Soviel, dass ich nicht weiß, ob ich verrückt bin.“

„Wir sind doch alle verrückt. Manche Menschen können den Regen spüren, andere werden nur nass.“

Okay, dann kann ich mir wenigstens denken, dass ich derjenige bin, der nur nass wird. Aber seine philosophische Antwort hilft mir ziemlich wenig. Er bleibt konsequent bei seiner Taktik, mir keine direkten Antworten auf meine Fragen zu geben.

„Mein Universum hat mich zu meinem Glück hierher gezwungen und etwas zu machen, was ich schon immer machen wollte, Menschen zu helfen. Dort zu helfen, wo andere kläglich versagen oder kein Interesse haben. Das ist meine Mission Bruder. Ich hatte das one-way-Ticket für meinen Tod in der Tasche. Aber nicht nur das eine Mal. Manchmal denke ich, dass ich eine Katze bin, mit mehreren Leben, verstehst du?“

„Kommt mir irgendwie bekannt vor.“

„Zuerst ein Attentatsversuch, dann eine Notlandung und zuletzt meine unheilbare Krankheit. Aber du siehst, ich lebe Bruder, und wie ich lebe. Dafür gebe ich jetzt das zurück, was mir gegeben wurde, das ist was Spirituelles.“

Ich kann mir keinen Reim darauf machen, was er mir mit seinem philosophischen Gefasel sagen will. Doch endlich rückt er einen Glimmstingel raus.

„Hier, das versprochene Glücksbaby. Entspann dich, Bruder.“

Die Zeit bleibt stehen, alles wird leicht. Falle ich oder schwebe ich? Ich kann es nicht unterscheiden. Zugleich werd ich müd, sehr müd. Eigentlich möcht ich nur schlafen, jetzt auf der Stelle. Kann Tuff auch diesmal meine Gedanken lesen? Ein Wink genügt und ein schmächtiger Junge taucht aus der Dunkelheit auf, um mich nach oben in ein Zimmer zu führen. Der Rest eines letzten Gedankens ruft ins Universum hinaus „lass mich erst wieder aufwachen, wenn ich weiß, wer ich bin!“

Als ich erwache, fühle ich etwas kühles am Bein. Mache ich jetzt die Augen auf und erkenne wo ich bin? Ich habe Angst, die Augen zu öffnen. Da ist jemand im Zimmer, ich kann es hören. Der Raum ist hell, die Sonne blinzelt durch die Ritzen der geschlossenen Fensterläden. Allerdings kann ich niemanden im Raum sehen. Der Verband ist verschwunden, dafür klebt eine weiße klebrige Paste auf meinem lädierten Bein und der Schmerz ist völlig verschwunden. Da taucht wieder ein vorbeihuschender Schatten an der Tür auf. Es ist der Junge, der mich gestern abend hier heraufgebracht hat. Er hat dasselbe Rastaman-Grinsen wie Tuff. Unaufgefordert hat er mir ein Glas desselben fruchtigen Getränkes gebracht, das ich bereits am Nachmittag zuvor von …. wie hieß sie? … ach ja … Mary, von Mary bekommen habe. Es schmeckt erfrischend, ohne dass ich die geringste Vorstellung hab, was es sein könnte. Diese ausgesprochene Willkommenskultur beeindruckt mich wirklich. Wieder finde ich frische Sachen zum Anziehen neben meinem Bett. Und doch wirkt das alles wie ein bedrückender Spuk, der die Frechheit hat, nicht vorbeigehen zu wollen. Ein neuer Tag steht bevor, und wieder wird eine automatische Fernsteuerung mit mir machen, was sie will.

Ein opulentes Frühstück wartet auf mich. An diesem Morgen ist es Mary, die mir eine ganze Litanei aufzählt, ohne dass ich das geringste verstehe ….Hala-Kahiki, Ipu, Kai moana, Kai o te ata, Manako, Uala … Alles sieht fantastisch aus, auch wenn ich davon nur die Eier mit Speck auf dem Tablett erkenne. Mein Appetit hält sich in Grenzen, irgendwie sind meine Gedanken bereits wieder auf der Reise und rufen eine nicht unterdrückbare Unruhe in mir aus. In einer Ecke der Veranda entdecke ich eine Gitarre, die ein gelangweiltes Dasein zu führen scheint. Tuff bemerkt meinen Blick und ohne fragen zu müssen erklärt er „wenn dich die Musik berührt, dann spürst du keinen Schmerz Bruder. Die Gitarre war damals mein Ausweg, heute ist sie nicht mehr als ein Erinnerungsstück. Hier sind es meine Wunder-Pflanzen mit denen ich den Menschen helfen kann. Das wird eines Tages mein Vermächtnis sein Bruder.“

Er beobachtet mich lange, ohne weiter zu sprechen. Mittlerweile bin ich mir sicher, dass er nicht nur ein Insel-Doc ist, sondern auch ein Gedankenleser. Wenigstens kann er meine Gedanken lesen wie ein offenes Buch.

„Du kannst meinen Wagen haben Bruder.“

„Wow, okay Mann. Wirklich?“

„Kein Problem, alles cool, ist nicht mehr das jüngste Modell und abhauen kannst du ja nicht, ist eine Insel hier.“

Tuff hat mindestens zwei Mal Recht, Insel ist Insel, und nicht mehr das „jüngste Modell“ ist eine wahrlich respektable Untertreibung. Die Karre hat locker ein halbes Jahrhundert auf dem verblasstem Restlack.

„Wie sieht es mit ein paar Glücks-Babys für unterwegs aus, Mann?“

Schmetterlingsbein zuckt nur mit den Schultern und setzt abermals sein schelmisches Grinsen auf. „Bis Sonntag!“

Bis Sonntag? Ich weiß verdammt ja nichtmal, welcher Tag heute ist. Warum bis Sonntag? Mary winkt mir wie ein kleines Mädchen, als ich wegfahre. Tuff ist von der Bildfläche verschwunden.

Beinahe komme ich mir vor, wie bei einer Abreise in den Urlaub, nur mit dem nicht unbeträchtlichen Unterschied, dass ich mein Ziel nicht kenne.

Baker Island

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