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3 - St.Kassiansplatz
ОглавлениеStell dir vor, du findest ein Tagebuch. Es liegt geöffnet neben dir. Weit und breit ist keine Menschenseele zu sehen und du bist völlig unbeobachtet. Was würdest du tun? Würdest du es ignorieren und einfach unbeachtet liegenlassen? Würdest du fragen, wem es gehört und dich nach dem Eigentümer umsehen? Würdest du es der Bedienung geben in dem Cafe, wo du es gerade gefunden hast und von der du genau so wenig weißt wer sie ist? Oder würdest du einen kleinen, dafür aber heimlichen Blick auf ein oder zwei Zeilen werfen? Würdest du einen verstohlenen zweiten Blick riskieren? Und dann? Was würdest du dann tun?
… the answer my friend is blowin in the wind…
Dienstag, 7.April 2015
Sieben Monate vorher. Wie üblich, saß Peter an diesem Dienstag in seinem Cafe an seinem Platz. In der Zeitung las er von neuen Selbstmord-Hintergründen des Germanwings-Piloten zu dem spektakulären Flugzeugunglück vom 24. März, bei dem der Pilot das Flugzeug absichtlich in den französischen Alpen zum Absturz brachte. Erst als er die Zeitung beiseitelegte bemerkte er das Tagebuch, das neben ihm auf der Bank lag. Auf den ersten Blick sah es völlig unverfänglich aus. Peter hatte nicht einmal Ahnung, dass es sich um ein Tagebuch handelte. Es war aufgeschlagen. Fast so, als ob es sagen wollte „hey sieh mich an“. Peter tat es, ohne sich Gedanken zu machen. Es war ein einziger Satz der ihn in seinen Bann zog. Kein Satz im klassischen Sinn, sondern diese Textzeile, geschrieben an diesem Tag, genauer gesagt an diesem Morgen:
-when you`re down in troubles, and you need some love and care -and nothings, nothings goin right -close your eyes and think of me...
Peter konnte den Text in Gedanken weitersprechen ohne es lesen zu müssen. Zu gut kannte er den Song von Carole King, zu oft hatte er diesen früher gehört. Und doch war es kein Textbuch. In der nächsten Zeile hatte jemand aufgeschrieben:
Wenn ich einen einzigen Wunsch hätte, dann würde ich mir meine Stimme zurück wünschen.
Das war alles, was auf dieser aufgeschlagenen Seite stand. Aber für Peter ausreichend genug, um etwas in ihm zu wecken. Dieser Song erinnerte ihn an etwas von früher, was ihn bewegte ohne sich erinnern zu können, was es war. Nicht jetzt in diesem Moment. Vermutlich war es zu lange her und zu weit weg.
Bis zu diesem Augenblick hatte er nichts Verbotenes getan. Er hatte das Buch nicht berührt und nicht geblättert. Nur das gelesen, was offen zu lesen war. Dabei kam ihm spontan die schrille Idee, dass das so ein Ding mit einer versteckten Kamera sein könnte. Er hatte keine Ahnung. Seine Emotion war es nun, die ihm das Nachdenken abnahm und einfach eine Seite zurückblätterte ohne den Verstand zu fragen und die nächsten Zeilen in diesem Buch zu lesen.
6. April.15
...die Musik ist mein Blut, solange ein Funken Leben in mir ist. Nur die Musik hat mir in meinem Scheißleben geholfen, den ganzen Mist zu ertragen. Ohne Musik wäre ich längst vor die Hunde gegangen
War das eine Botschaft oder war das Zufall? Warum musste ausgerechnet er so etwas finden? Er, dessen Welt und dessen Leben von A bis Z aus Musik bestand.
-it`s a heartache, nothing but a heartache -hits you when when it`s too late -hits you when you`re down.
Natürlich erkannte Peter auch diesen Nummer-Eins-Hit von Bonnie Tyler an den beiden Textzeilen auf Anhieb. Die Emotion zwang Peter auch die nächsten Zeilen zu lesen.
5. April.15
...brauche Musik, sie ist mein Sauerstoff, den ich atme. Ein Leben ohne Musik ist kein Leben...
Wenn du einmal diesem Reiz erlegen bist, mit einer guten Band auf einer dieser großen Bühnen zu stehen und dein musikalisches Ich aus dir herauskommt, Besitz von dir ergreift, und dieser Funken auf das Publikum vor dir überspringt, die jedes Wort deines Textes mitsingt und im Beat mitgeht, dann ist es dieses Feeling, das Rainhard Fendrich in einem seiner Lieder so treffend beschrieben hat. Spätestens jetzt war es für Peter klar, dass dieser Mensch seine Hilfe in Sachen Musik brauchte. Und es war klar, dass er es war, der diesem Jemand mehr helfen konnte als jeder andere. An dieser Stelle wurde ihm aber auch bewusst, dass er gerade in das Privatleben eines fremden Menschen eingedrungen war. Gleichzeitig durchfuhr es ihn, dass die Person, der das Tagebuch gehörte, jeden Moment zurückkommen könnte um es zu suchen. Das war sogar ziemlich wahrscheinlich, vielleicht aber auch die Riesen-chance ins Gespräch zu kommen. Peter war unruhig und angespannt. Er konnte sich auf nichts anderes mehr konzentrieren, als ständig den Eingang zu beobachten und rechnete damit, dass jeden Moment die Tür aufgeht und dieser Tagebuch-Jemand nach seinem vergessenen Buch sucht.
Es war sehr ruhig an diesem Dienstag. Peter und zwei Omis waren die einzigen Gäste an diesem Vormittag gegen Neun. Er wartete ab, doch außer zwei asiatischen Studentinnen, die sich scheinbar etwas Süßes to go einpacken ließen, tat sich nichts Neues. Peter spekulierte fieberhaft nach einem Plan B. Einfach liegenlassen? Würde bedeuten, dass er dieser Person nicht helfen könnte. Bei der Bedienung abgeben? Würde bedeuten, einer wildfremden Person das Geheimnis eines ebenso wildfremden Menschen anzuvertrauen und auch nicht helfen zu können. Wenn er also helfen wollte, dann gab es nach seiner Einschätzung nur eine einzige Antwort, was zu tun war. Inzwischen waren mehr als zwei Stunden Ewigkeit vergangen. Das Tagebuch wurde scheinbar noch nicht vermisst und auch nicht abgeholt. Eigenartigerweise hatte er während der letzten beiden Stunden das Radioprogramm, das im Hintergrund lief, nicht wahrgenommen. Ausgerechnet jetzt drang John Lennons „Imagine“ in sein Ohr, so als ob es ein Zeichen wäre „stell dir vor...“ Für sein emotionales Ego war es das unmissverständliche Kommando, „nimm das Buch und mach dich vom Acker.“ Manchmal tust du einfach etwas, weil es der Zufall so will und du fragst dich nicht, ob das richtig oder falsch ist. Und das war genau eine dieser unkontrollierten Situationen.
Zwei Stunden nachdem er das Buch gefunden hatte lag es nun auf seinem Schreibtisch zu Hause. Er wusste nicht einmal, ob es sich um einen Tagebuchschreiber oder eine Tagebuchschreiberin handelte, obwohl er eine intuitive Vermutung hatte, dass es sich um eine Sie handeln könnte. Fest stand nur, dass der oder die Schreiberin Hilfe brauchte. Alles andere würde sich ergeben, irgendwie. Den Rest wollte er herausfinden indem er sich in aller Ruhe damit beschäftigte.
Und doch, je länger er das neben ihm liegende Buch betrachtete, kroch allmählich ein wirklich beschämendes Gefühl in ihm hoch. Was hatte er sich eigentlich dabei gedacht? Jetzt, wo es mehr als zu spät war, war da plötzlich eine gewaltige Portion schlechtes Gewissen, die an ihm nagte. Was war mit seiner Moral und mit dem Respekt einem fremden Menschen gegenüber? Selbst dass er nach seinem Abi zwei Semester Psychologie studiert hatte, gabihm keinen Funken Recht dazu in eine seelische Intimsphäre einzubrechen. Je länger er sich darüber einen Kopf machte, um so mehr wurde ihm klar, dass er gerade einen großen Fehler gemacht hatte. Er musste es zurückgeben. Vertraulich und ohne großes Aufsehen natürlich. Am besten dorthin legen wo er es gefunden hatte und ohne ein Wort darüber zu verlieren. Diskret versteht sich, sehr diskret. Morgen.
Nächster Tag, Mittwoch, 8. April 2015
Ein sehr kühler Aprilmorgen, es hatte sogar Nachtfrost gegeben. Peter wollte es an diesem Morgen zurück-bringen und er war jemand, der das tat, was er sich vorgenommen hatte. Er wollte das corpus delicti einfach wieder loswerden, es ungeschehen machen, zurückbringen in das Cafe. Unauffällig und dorthin, wo er es gefunden hatte und dann seinem Schicksal überlassen. Ja das war sein Plan gewesen an diesem Mittwoch. Natürlich konnte er nicht damit rechnen, dass das Cafe ausgerechnet an diesem Tag Ruhetag hatte. Und nun, was sollte er nun tun? Er wirkte hilflos und unbeholfen wie ein kleiner Junge, der ein Spielzeugauto geklaut hatte und es nun zurückbringen wollte.
Das Ganze machte ihn sichtlich nervös. Obwohl Peter im Grunde jemand war, der die Ruhe in Person ist und jemand, den nicht viel aus dieser Ruhe bringen konnte. Ein Mann, Anfang Fünfzig, sportlich, lebenserfahren und mit einem Stück harmonischer Ausgeglichenheit. Dieser aus-geglichene Mensch hatte nun ein kleines Problem in der Größe DIN A 5, schwarz mit roten horizontalen Streifen an den Außenrändern, äußerlich völlig unauffällig. Aber es war der Inhalt, von dem man das nicht behaupten konnte. Nicht das übliche Liebeskummer-Bla-bla, was sonst so häufig in individualisierte Heftchen gekritzelt wird. Das was er gefunden hatte war ein Stück Lebenstragödie, wie sich noch herausstellen sollte, das nichts mit einem Kindergeburtstag zu tun hatte. An diesem sonnigen aber kühlen Mittwoch blieb ihm allerdings nichts anderes übrig, als dieses Stück aufgeschriebenes Stück Leben wieder mit nach Hause zu nehmen. Es lag auf seinem Schreibtisch wie am Tag zuvor und starrte ihn an, zumindest empfand Peter es so. Die Versuchung war einfach zu groß. Nicht seine pure Neugier, nein es war die Botschaft, die ihn erreicht hatte und die ihn einfach nicht mehr los ließ. Es war Nachmittag geworden und er konnte das Tagebuch nicht länger neben sich liegen lassen, ohne dort weiterzulesen, wo er am Morgen aufgehört hatte. Typisch wie es für ihn war, begann er nicht mit ersten Seite und dem ersten Datum, sondern mit der letzten Seite genauso wie er auch die Tageszeitung las.
4. April
Hab geträumt, dass ich Autogramme geben soll, aber meinen Namen nicht mehr schreiben kann. Muss dran arbeiten, dass diese Ängste weggehen.
3. April
Karfreitag, wieder einer dieser Feiertage die ich so hasse
-strumming my pain with his fingers -singing my life with his words -killing me softly …
29. März
Nicht singen zu können, ist für mich wie einem Vogel das Fliegen zu Verbieten. Zumindest im Traum kann ich es noch...
Der Manager kommt zu mir und fragt mich, warum ich ein rotes Mikrophon habe. Ich zeige ihm mein rotes Kleid und das Publikum klatscht begeistert in die Hände und schreit Zugabe.
Tatsächlich, es war eine Sie, so wie Peter es vom ersten Moment an vermutet hatte, und Peter musste dabei an seinen ersten Auftritt mit seiner Schülerband denken. Zuerst das Lampenfieber, dann der Applaus, der alle Aufregung nach dem ersten Song weggefegt hatte. Die Musik hatte ihn bereits als kleiner Junge begeistert. Er hatte sich nie etwas anderes vorstellen können als Musiker zu werden. Das war für ihn so definitiv sicher, wie das Ende einer Landebahn. Das war nicht nur so ein Kleiner-Jungen-Traum . Es war seine Bestimmung, so zumindest hatte er es damals betrachtet und daran hatte sich auch bis heute nichts geändert.
27. März
Arschloch-Traum: Er ist im Gefängnis. Ich bin in seiner Zelle und er will mit mir schlafen. Ich habe ein Messer im Aktenkoffer versteckt. Er sagt, dass ich unterschreiben muss, dass er unschuldig ist.... Heute ist der Tag der Rache du Scheiß-Typ...
26. März
War heute bei Mister Anwalt. Sieht nach neuer Riesen-Scheiße aus. Hab nicht alles mitbekommen, zuviel Paragraphen-Chinesisch. Soll Mister Anwalt mit seinem Fachkollegen klären...
Warum schreibt jemand Träume auf? Manchmal brauchst du Träume und Visionen. Wenn du aufhörst zu träumen, dann hörst du auf zu leben. Peter hatte immer einen Traum, es war sein Traum. Es hat ihm die Kraft gegeben weiterzumachen, nie aufzugeben, wo ein anderer längst hinschmeißt. Gerade als Musiker bist du nur einer von vielen tausenden, die tausendmal besser sind. Aber das musst du wegdrücken, du musst an dich glauben. Als Musiker träumst du natürlich davon, einmal berühmt zu werden. Und du träumst davon Erfolg zu haben. Peters Traum war einfach Musik zu machen. Dafür lernte er wie verrückt, Piano zu spielen . Wäre da nicht dieses Klavier im Wohnzimmer der Eltern herumgestanden, vergewaltigt als Möbelstück, weil es die Vorbesitzer des Hauses als Platz-gründen nicht mitnehmen konnten, und wäre da nicht sein Schulkamerad Roland gewesen, der ihm die Grundbegriffe am Klavier beigebracht hatte. Aber sie waren da, das Klavier und Roland und Peter hatte nichts anderes zu tun, als zu üben. Und das tat er auch, wie ein Besessener.
14. März
-it`s the heart afraid of breaking, that never learns to dance -it`s a dream afraid of waking, that never takes the chance -it`s the one who won`t be taking, who cannot seem to give -and the soul afraid of dyin, that never learns to live
Ich shaffe es trotzdem nicht, es gibt eine unsichtbare Hand, die mich immer wieder in den Dreck hinunterzieht....
Auch in Peters Leben hatte es natürlich viele dieser Phasen gegeben, an denen er sich an eine Hoffnung klammern musste. Seine Laufbahn im Musikgeschäft war nicht nur Sonnenschein. Es war auch seine Existenz, die immer wieder mal auf der Kippe stand und er kannte den bitteren Geschmack der Niederlage. Und doch hatte er sein Ziel unbeirrbar verfolgt und sich davon leiten lassen, dass nach einem Tief zwangsläufig auch immer wieder ein Hoch kommt.
12. März
wann hören diese Träume auf?
9. März
…..soll ich dieses Arschloch erschießen lassen, damit diese Träume endlich aufhören?
8. März
Mir ist nicht gut. Diese scheiß Einsamkeit frisst sich wie ein gefräßiger Parasit in mich hinein genauso wie diese scheiß Träume von ihm...
Peter las langsam, er wollte verstehen, was da alles passiert war. Diese Vermischung von Erzählungen und Träumen und dann wieder Textzeilen konnte er nicht deuten. War da überhaupt ein Hauch von Wirklichkeit, oder alles nur ge-träumt, Fiktion, Phantasie oder eine Junkiestory, ge-schrieben im Delirium? Alles war denkbar. Peter holte sich einen Cognac. Seine Gedanken waren auf einmal weit weit weg in seiner eigenen Jugend, der eigenen Sturm- und Drangzeit und alles was dazugehörte. Peter legte das Buch zur Seite und entschied sich dafür, sich vom TV-Programm berieseln zu lassen.
Zwei Tage später, Donnerstag, 9. April 2015
Die Nacht hatte ihm keine Antworten gegeben. Diesmal war er es, der wirre Träume hatte, an die er sich aber nicht mehr erinnern konnte. Es war der zweite Tag, nachdem er dieses mysteriöse Büchlein gefunden hatte. Und wieder hätte Peter an diesem weitgehend sonnigen aber immer noch zu kühlem Tag die Gelegenheit gehabt, es zurück-zubringen. Er tat es nicht. Dieses Buch hatte etwas angestoßen in ihm, was er nicht stoppen konnte, so als ob er nach einzelnen Puzzle-Teilen suchte, um daraus ein Bild zu machen, aber ohne zu wissen, wie das Bild überhaupt aussehen sollte. Bisher war er nicht weit gekommen. Mit der Ausnahme, dass er wusste, dass es sich um eine Frau handelte gab es keinen Hinweis, keinen Namen, kein Nichts. Am Abend blättere er weiter.
28. Febr.
….Muss an Mam denken
-winter, spring, summer or fall, all you got to do is call -and I`ll be there, yes I will, you`ve got a friend …
24. Febr.
Bin im Traum wieder mit Mam auf dieser Wiese. Jemand streichelt mich und sagt dass ich schön bin. Dann beginnt es zu regnen, aber ich werde nicht nass. Mam sagt „komm wir gehen in den Wald“. Auf einmal ist sie verschwunden. Ich bin allein und habe Angst. Finde nicht zurück. Es blitzt und es donnert wie bei einer Explosion. Ich stürze und falle auf den Boden. Die Erde zittert wie bei einem Erdbeben. Es riecht nach verbranntem Holz. Sehe dieses dunkle Tor vor mir. Will da nicht hinein gehen. Dann höre ich Mam`s Stimme „komm“. Aber sie ist nicht hier....
Da ist diese unbekannte Frau, die scheinbar ihre Mam vermisst. Und Peter? Seine Eltern? Peter hatte sich mit Neunzehn mit seinen Eltern verkracht. Zuerst hatte er sein Studium geschmissen, das er ohnehin nie ernsthaft wollte. Danach hatte er sich mit Aushilfsjobs über Wasser gehalten, bis ihm so ein Typ in einer Bar eines Abends diesen Amerika-Floh ins Ohr gesetzt hatte. Zu viel für seine Eltern, und genau das Ding für ihn. Er musste selbst auf die Schnauze fallen und selbst lernen dass du im Land der unbegrenzten Möglichkeiten auch nur ein Niemand bist, solang du dir deine Kohle in angestaubten Clubs quer durch das Country verdienen musst. Immerhin, er hat es gesehen und erlebt, hatte seine Lebenserfahrungen gemacht, hatte die von so vielen Menschen ersehnten Städte wie Chicago, Memphis, Nashville, New Orleans, Los Angelos, San Franzisco und Las Vegas gesehen, aber auch die kleinen weniger bekannten Orte wie Bakersfield, Springfield, Natchez, Cape Girardeau, Vixburgh, und andere No-name-Citys.
Peter hätte vielleicht den ein oder anderen gut gemeinten Ratschlag seiner Eltern auch angenommen, wenn sie nur ein bisschen auf ihn und seine Fähigkeiten eingegangen wären. Als Hobby haben sie es akzeptiert. Aber auch nicht mehr. Sie hatten mit Musik einfach nichts am Hut. Da waren zwei gegensätzliche Welten aufeinander getroffen. Er hatte es seinen Eltern lange nicht verzeihen können, dass sie ihn nicht seinen Weg gehen ließen und es hatte einige Jahre gedauert, bis er wieder Kontakt hatte. Er hatte nie viel über seine Eltern nachgedacht, dafür war er zu sehr mit seiner Leidenschaft namens Musik beschäftigt.
Der harmonische Teil von Peter war es, der die Zeit der Versöhnung kommen ließ. Und trotzdem haben sie es nie verstanden, warum er sich so in seine Musikwelt stürzte, statt wie andere Söhne richtig sesshaft und erwachsen zu werden, einen Beruf mit regelmäßigen Arbeitszeiten zu haben und eine Familie zu gründen. Und doch hatten sie ihm nach dem Tod ein Stadthaus in Regensburg hinterlassen.
Montag, 23. Febr.
hab nicht gewusst, warum ich den ganzen Mist aufschreibe. Anfangs hab ich es aus Hass gemacht vielleicht aus Selbstmitleid. Jetzt sehe ich nicht nur das Negative sondern auch was Positives....
-some say love, it is a river, that drowns the tender reed -some say love, it is a razor, that leaves your soul to bleed -some say love, it is a hunger, an endless aching need -I say love, it is a flower, and you it`s the only seed
Peter hatte selbst nie ein Tagebuch geschrieben. Dafür liebte er es Texte zu schreiben, da kam sein philosophisches Talent zum Vorschein. Seine kreativste Zeit waren seine Jahre als Berufsmusiker auf den Kreuzfahrtschiffen. Hier hatte er tagsüber Zeit in Hülle und Fülle.
Auch dieses Kapitel in seinem Leben war geprägt von der Illusion, dass das Leben eines Musikers auf einem dieser Luxusliner wie Urlaub mit ein bisschen Musikmachen ist. Die Wirklichkeit ist allerdings dann doch eher ein Job, bei dem du zur Crew gehörst und nicht auf der Passagierliste stehst. Was das heißt? Das heißt eine circa Acht-Qua-dratmeter-Kabine mit einem Musikerkollegen teilen zu müssen, keinen Zugang zum Passagierbereich zu haben, lediglich Abends in der Bar oder in der Lounge dein Musik-programm Abend für Abend abspielen zu müssen für Leute, die sich nicht für die Musik interessieren, sondern lediglich für die Cocktails an der Bar. Auf der positiven Seite steht dafür, dass du nach zwei Wochen so viel Routine hast, dass du dein Programm auswendig im Schlaf rückwärts spielen kannst, dass du den ganzen Tag frei hast und dass du vernünftiges Geld verdienst, ohne wirklich Ausgaben zu haben. Und wenn du ein bisschen Glück hast, dann gibt es auch die ein oder andere allein reisende weibliche Gelegenheit, die gegen eine Affäre nichts einzuwenden hat. Und wenn du dann noch etwas mehr Glück hast, dann triffst du ab und an auch mal Leute, die wirklich was von Musik verstehen, aus der Branche sind und dir später mal auf die Sprünge helfen können.
20. Febr.
Hat mich wieder total aufgewühlt dieser Traum von letzter Nacht: Sehe lauter kranke Kinder, sie sehen mich an. Dann bin ich ans Bett gefesselt. Fühle diesen stechenden Schmerz im Magen, rufe um Hilfe. Niemand kommt, ich pinkle mich ab....
13. Febr.
sie hat auch zu viel mit meinem Leben zu tun, meine verhasste Tante mit einem Herz aus blankem Eis. War es ein Traum oder war es ein deja vu?: Höre ihre schrille Stimme. Die Türen fallen zu und ein eiskalter Wind geht durch das ganze Haus. Sie kommt in mein Zimmer und nimmt mir alle meine Platten weg. Dann muss ich was essen. Es ist altes hartes Brot. Ich muss es aufessen. Meine Nase blutet und sie lacht. Ich laufe davon, kann den Ausgang nicht finden.
War da eine weitere Gemeinsamkeit? Es gab da seine beiden Tanten, um die er bereits als kleiner Boy lieber einen Bogen gemacht hatte. Zwar konnte er nicht behaupten, dass er sie hasste, aber eben auch nicht in Freudentränen ausbrach, wenn Sie zu Besuch kamen. Das war alles, was er an Familie anzubieten hatte. Seine Familie war dafür die Musik. Alle seine Freunde und Bekannten hatten irgendetwas mit Musik zu tun. Das war seine Welt, seine Nahrung, sein Zuhause, sein Leben. Er hatte sich damit beschäftigt seit er denken konnte. Das war sein Metier und hier war er der Profi und Spezialist, der alles über die Musik wusste, jeden Text der Klassiker auswendig kannte und nahezu jeden Titel der in den internationalen Charts der Siebziger Jahre und der Achtziger Jahre gelaufen ist am ersten Ton erkannte.
7. Febr.
Meine Platten. Sie sind mein heimlicher Schatz. So wertvoll, weil sie mir die schönen Erinnerungen zurückbringen
Das Plattensammeln gehörte ebenso zu seiner musikalischen Welt, für das er bereits als Schüler sein ganzes Taschengeld ausgegeben hatte. Dass es diese schwarzen Scheiben aus Vinyl heute wieder gibt, die man mit Erfindung der CD totglaubte, ermutigte Peter auch noch in der Zeit der digitalen Musikdateien eine Neuerscheinung immer noch lieber als Schallplatte zu erwerben statt als CD oder noch abwegiger als MP3-Download. Da steckte auch noch ein Nostalgiker in ihm. Wenn Peter auch Stück für Stück musikalische Gemeinsamkeiten aus den Tagebuchzeilen herauslesen konnte, legte er ihr Buch nach drei Lesetagen Tagen ein weiteres Mal beiseite, ohne wirklich mehr zu wissen als am ersten Tag. Doch es hatte nichts an seiner magischen Anziehungskraft verloren. Es war Donnerstagabend.
Tag Drei nach dem Tagebuch-Fund, Freitag 10.April 2015
Peter hatte wieder schlecht geschlafen und schlecht geträumt. Er hatte vor, ein paar Dinge in seiner Agentur zu erledigen. Er blätterte noch unkonzentriert in der Mittelbayerischen Zeitung, wo vom Prozessbeginn über die fehlerhaften Brustimplatate berichtet wurde, ohne dass ihn dieser Artikel ansprach, und machte sich dann auf den Weg. Aber wohin er auch unterwegs war, die Sache mit dem Tagebuch ging ihm nicht mehr aus dem Kopf, seit dem Moment, als er die erste Zeile gelesen hatte. Sein Kopfkino spielte schon wieder diesen Film ab, wo er auf der Suche nach der Sängerin letztendlich erfolgreich war und dann zum guten Ende sogar noch einen Song für sie schrieb. Doch die augenblickliche Realität sah so aus, dass er meilenweit davon entfernt war, eine Spur oder einen Anhaltspunkt zu haben. Wo waren die Antworten, die er bisher nicht gefunden hatte? Waren sie auf den nächsten Seiten zu finden? Peter konnte gar nicht anders, als am Nachmittag, an dem es endlich frühlingshaft warm geworden war, weiterzulesen.
31. Jan.
warum habe ich Angst, warum lässt mich meine Kindheit nicht einmal im Traum zur Ruhe kommen? Ein Telefon läutet. Ich mache die Haustüre auf. Da steht ein schwarzer Mann. Er weint und geht wieder. Er hat eine Schachtel auf den Boden gestellt. Mam`s Plattenspieler ist in der Schachtel. Ich schalte den Plattenspieler ein und höre Mam. Sie weint. Ich kauere mich zusammen. Eine Kirchenglocke läutet, kann mein Herz fühlen wie es mit jedem Glockenschlag sticht bis es endlich still ist.
27. Jan.
-goodbye ruby tuesday, who`s gonna hang a name on you -and when you change with every new day, still I`m gonna miss you
Es war ein Dienstag, als ich die schlimmste Nachricht in meinem jungen Leben erfahren habe. Angst kann so grausam sein.
Peter konnte sich mit Ausnahme an die Zeit, als seine große Liebe in Scherben zerbrach, an keine extremen „ruby tuesdays“ in seinem Leben erinnern. Wahrscheinlich hatte er einfach Glück. Dass es die ein oder andere Enttäuschung gegeben hatte, das war so natürlich, wie es wohl zu jedem einzelnen Leben dieser Menschheit gehört. Er hatte sein Leben selbst so betrachtet, dass er die meisten Tage seines Lebens auf der Sonnenseite verbrachte und eher die Leichtigkeit des Seins empfunden hat als die schwere Last eines Lebens tragen zu müssen.
Auf der Schattenseite seines Lebens stand der Tod seiner Eltern, die zwar beide jenseits der Achtzig waren, aber mehr oder weniger doch überraschend verstorben sind und beide kurz hintereinander. Er war damals knapp Vierzig und zu dieser Zeit auf einer seiner Kreuzfahrten als Musiker an Bord eines Atlantikliners engagiert. Er schaffte es trotzdem, sein Engagement kurzfristig abzubrechen und sich um die ganzen Formalitäten der Bestattung zu kümmern. Das war er seinen Eltern schuldig und es war ihm auch klar. Der plötzlich Herztod seines besten Freundes Bobby nur drei Jahre später war allerdings so tragisch wie überraschend.Bobby war ein Freund, der ihn nie im Stich ge-lassen hatte und ein Musiker mit dem er viele Jahre zusammen immer wieder Musik gemacht hatte. Und dann gab es noch Bobbys damals vierundzwanzigjähriger Sohn Tommi, der nicht nur der Sohn eines Freundes war, sondern für ihn eher der Sohn war, den er selbst nie hatte und den er bereits kannte, als dieser noch ein kleiner Junge war.
23. Jan.
hab von diesem Arschloch geträumt: Ich bin in einer Hotelhalle. Da sind laute nackte Männer. Einige kenne ich, andere nicht. Sie gehen in verschiedene Zimmer. Auf dem Boden steht eine große Schachtel. In der Schachtel befinden sich lauter Zettel mit Nummern. Ich muss mir einen Zettel nehmen und in das Zimmer mit dieser Nummer gehen. Die Männer liegen nackt auf einem Bett. Zuerst erregt es mich. Hinter meinem Rücken habe ich ein Messer versteckt, sie können es nicht sehen. Ich setze mich auf ihren Bauch und verbinde ihnen die Augen. Dann schneide ich ihnen die Hände ab. Dann gehe ich in das nächste Zimmer. Am Ende ist er im Zimmer. Ich will ihm die Hände abschneiden. Es geht nicht, das Messer ist zu stumpf. Der Anwalt steht vor mir und fragt mich, ob ich ein Geständnis machen will.....
Frauentechnisch gesehen reichten ihm kurze Affären völlig aus um seinen Liebesbedarf zu decken. Es gab immer wieder Gelegenheiten, die er bei Bedarf durch-aus nutzte und die er zu genießen gewusst hatte. Natürlich waren im Lauf der Jahre auch Beziehungen entstanden, die länger als eine Nacht andauerten. Seine letzten beiden Geschichten namens Jaqueline und zuletzt Issi, die er erst im Januar dieses Jahres vor die Tür gesetzt hatte, hatten ihm allerdings dann doch die Lust auf derartige Beziehungen gründlich vermiest und in ihm den Vorsatz reifen lassen, sich auf nichts mehr einzulassen, was den geringsten Beigeschmack von Beziehung hat.
Auch eine große Liebe hatte es in seinem Leben gegeben. Es war die einzige große Liebe in seinem Leben und er war unerfahrene Neunzehn. Und dann diese noch größere Enttäuschung, über die er lange nicht hinweggekommen war. Vielleicht war das der Grund, warum er eine wahre Beziehung nicht mehr zulassen konnte und wollte. Vielleicht war es aber auch schlicht die Tatsache, dass seine wahre Liebe der Musik gehörte.
20. Jan.
hab gestern Post von Mister Anwalt bekommen. Ich soll mich nochmal melden. Soll ich? Er sieht nicht übel aus.
-you just call out my name, and you know wherever I am -I`ll come runing to see you again -winter, spring, summer and fall -all you got to to is call and I`ll be there -yes I`will, you`ve got a friend-
Seine finanziellen Verhältnisse waren nicht existenzgefährdend, aber auch nicht immer rosig gewesen. Jede Selbständigkeit, auch in der Musikbranche bringt finan-zielle Risiken mit sich, die in gewissen Phasen einfach mehr oder weniger automatisch auftreten. Er hatte sich zumindest nie soweit aus dem Fenster gelehnt, dass unüberwindbare Schuldentürme entstanden waren. Eher nannte er diese Phasen Sauere-Gurken-Zeiten, die er einfach mit Gürtelengerschnallen wieder in der Griff bekommen hatte und ohne dass Gerichtsvollzieher oder andere unangenehme Zahlungseintreiber auf seiner Matte standen.
15. Jan.
warum lässt mich meine Kindheit nicht los, warum träume ich von Mam? Sie hält mich in ihren Armen. Ich kann ihre warme Haut fühlen, kann sie riechen. Fühle ihr dunkles Haar das auf meine Schultern fällt. Ich kann ihren Herzschlag spüren. Sie singt mir ihr Lied vor. Dann werden ihre Hände kalt und sie sagt „mein Flugzeug geht gleich“. Dann ist sie verschwunden. Ich bin allein. Kann nicht aufhören zu weinen.
Für einen Familienleben war Peter zu viel unterwegs gewesen die ganzen Jahre. Für ihn war das alles nicht vorstellbar, gebunden zu sein, für jemand sorgen zu müssen und sich und seine eigenen Bedürfnisse zurücknehmen zu müssen. Er konnte es selbst nicht sagen, warum er diese Einstellung hatte. Peter hatte sich immer treiben lassen und dabei nie das Gefühl gehabt einsam zu sein. War es Gewohnheit geworden?
12. Jan.
Muss wieder mal raus an die frische Luft. Hänge nur zwischen Couch meinen Platten und dem kleinen Laden an der Ecke rum.
Mein Äußeres hat auch schon mal besser ausgesehen. Hatte früher jede Menge Verehrer. Konnte sie alle um den Finger wickeln. Und ich tat es auch. Warum sollte ich ein braves Mädchen bleiben auf alle Ewigkeit, wenigstens das hab ich ausgiebig genossen
-just remember in the winter -far beneath the bitter snow -lies the seed, that with the sun`s love -in the spring becomes the rose
Frischluft hatte er weiß Gott genug bekommen, als er damals auf den klassischen Kreuzfahrt-Routen als Bord-Musiker unterwegs war. Auch an weiblicher Abwechslung konnte er sich nicht beklagen. Aber es war auch die Zeit in der Peter die Einsamkeit kennengelernt hatte. Wenn du da draußen auf diesem verdammt großen Ozean namens Atlantik bist und nichts anderes siehst als Wasser vom Sonnenaufgang bis zum Sonnenuntergang, dann wird dir erst bewusst, wie klein du als Mensch bist. Dann hast du unendlich viel Zeit nachzudenken und den Dingen, die dir bisher so wichtig erschienen sind, den angemessenen Raum zu geben. Und du stellst aufs Neue fest, dass es viele Dinge gibt, die du so akzeptieren musst wie sie sind. Du bist viel zu klein und bedeutungslos um den Horizont zu verändern. Das was du sehen kannst sind die Schaumkronen der Wellen auf der Wasseroberfläche, aber alles was darunter liegt, ist viel mächtiger und gewaltiger als du dir es jemals vorstellen kannst. So ist es auch mit unseren Gedanken, mit dem was wir zu wissen glauben und dem, was wir nicht wissen können, weil es außerhalb unserer menschlichen Vorstellungskraft liegt.
25. Dez.
mein Gott wie ich diese Feiertage hasse. Ich hasse sie seit ich Kind bin. Ich hasse sie seit es keine Familie gibt. Ich hasse es seit dreißig Jahren. Sei mir nicht böse Mam
-cause I`m leavin on a jet plain -dont know when I`ll be back again -oh Babe, I hate to go
23. Dez.
Wieder so ein Tag wo ich zu wenig Kraft habe, dagegen anzukämpfen. Mam hilf mir doch. Sing mir was vor, so dass ich es hören kann
Weihnachten hatte Peter überall auf der Welt erlebt, aber am wenigsten zu Hause. Als er noch ein Kind war, sind immer seine beiden Tanten gekommen und haben ihr Sprüchlein „ja mei, schau, wie der Peterle schon groß geworden ist“ aufgesagt. Er hatte das schon immer gehasst und musste dabei schön und artig antworten und zwei Tanten-Küsschen über sicher ergehen lassen, wie das brave Jungen halt so tun sollen. Später hatte Peter sich dann immer sobald die Geschenke ausgepackt waren auf sein Zimmer verdrückt und sich Platten angehört. Das eigentlich und wirklich Schöne an Weihnachten für Peter war, dass Ferien waren, dass er Musik machen konnte, und dass er meistens eine oder zwei Schallplatten geschenkt bekam, halleluja.
22. Dez.
Fühl mich kotzübel, komme nicht auf die Füße. Alles dreht sich. Mein Inneres scheint nur mehr aus den Bruchstücken eines zerfallenen Herzens zu bestehen
Peter war an diesem Freitagabend längst klar geworden, dass ihr nicht nur das Leben übel mitgespielt hatte, sondern das alles zurückging bis in ihrer Kindheit. Was mag da wohl passiert sein mit ihr? Was war eigentlich mit ihrem Vater, den sie nie erwähnte? Peter hatte immer noch keine Ahnung, wer sie war. Auch jetzt nicht, nachdem er seit vier Tagen in ihrem Buch gelesen hatte. Das was er sich erhofft hatte, nämlich Hinweise zu finden und etwas über ihre Geschichte zu erfahren, das lag alles weiter in einem dichten undurchdringlichen Nebel.
Samstag, 11. April 2015
Peter hatte keinen Funken Motivation die Suche nach dieser geheimnisvollen Frau, die ein Tagebuch schreibt das aus Träumen, Erzählungen und Textzeilen besteht, fortzusetzen. Vielleicht war die ganze Sucherei ohnehin so aussichtslos, als ob er herausfinden wollte, was hinter der untergehenden Sonne kommt. Der Tag verging ohne dass Peter das Buch auf seinem Schreibtisch beachtete. Es war möglicherweise besser, wieder mal in seine Stammkneipe zu gehen und mit ein paar Kumpels ein paar Bier zu trinken, statt sich weiter den Kopf zu zerbrechen und Columbo zu spielen. Und das tat er auch, ziemlich ausgiebig sogar. Das war wieder der Peter, den man kannte. In der Stammkneipe erfährt man natürlich immer das Neueste. An diesem Abend war auch Rudi in der Kneipe. Rudi war ein Ur-Bayer wie es typischer nicht geht. Aufgewachsen in Straubing und über Umwege in Regensburg gelandet. Mit ihm hatte er zuletzt zusammen Musik gemacht, zu zweit, kleinere Engagements, Geburtstagsfeiern, bis diese blöde Sache mit Issi dazwischen gekommen war. Rudi war inzwischen nicht mehr sauer auf ihn, dass er damals Issi einfach als Band-Mitglied aufgenommen hat, ohne ihn zu fragen und dass sie die Gagen durch drei teilen mussten. Es ging ohnehin nicht lange gut. Und letztendlich taten sich dann Rudi und Issi zusammen und Peter war raus. „Na wie läufts bei Euch?“ fragte Peter nach. „Du moanst doch net mit der Issi, oder?“ „Wen sonst, fragte Peter zurück“ „Du woaßt doch selber, dass des Busnluder an gewaltigen Dachschadn hat. Hat genau vier Wochn funktioniert und dann hab i de Nosn voi ghabt, von dera damischn Dschicksn“
Peter musste lachen und gab eine Runde Cognac aus, die nicht die einzige blieb. Der Stammkneipen-Abend hatte ihn endlich wieder auf andere Gedanken gebracht. Den Rest erledigte der Alkohol. Und auch das war unter diesen Umständen gar nicht das Schlechteste, denn so verkatert, wie er sich am nächsten Tag fühlte, so wenig hatte er Lust, sich am nächsten Tag zu konzentrieren, um nur irgend eine einzige Zeile in diesem rätselhaften Tagebuch begreifen zu wollen.
Eine Woche danach, 14. April 2015
Auch am nächsten Sonntag und Montag hatte er kein Verlangen verspürt, in dem Buch der Fragezeichen zu lesen. Er nutze die Zeit lieber, um ins Freie zu kommen, die Augen zu öffnen und den Kopf frei zu machen. Erst an diesem Dienstag, genau eine Woche nach dem Fund war es wieder ausgebrochen, das Fieber, nach weiteren Puzzle-Teilen zu suchen. Es war sein erster Gedanke an diesem milden Dienstagmorgen als er die müden Augen öffnete. Dabei war ihm die Idee gekommen, dass MissTagebuch möglicherweise jemand war, der an einem bestimmten Wochentag ins Cafe zu ging. Aus seiner Sicht keine schlechte Idee es auf einen Versuch ankommen zu lassen. Peter hatte dabei nichts zu verlieren. Es gehörte ja zwei bis dreimal zu seinem wöchentlichen Programm ins Cafe zu gehen. Peter schaffte es unter diesen besonderen Umständen tatsächlich, um mehr als eine halbe Stunde früher im Cafe zu sein als für ihn üblich. Sein Platz war frei gewesen. Und das war das erste Mal und wahrscheinlich das einzige Mal, dass er sich darüber nicht freute. Peter setzte sich an seinen Tisch und schlug seine mitgebrachte Zeitung auf. Seine Aufmerksamkeit galt weniger der Überschrift, dass der Autor Günter Grass gestorben war und dass Hillary Clinton für die nächste Präsidentenwahl kandidierte, sondern sein Interesse galt den wenigen Menschen, die im Cafe waren und den ebenfalls wenigen Menschen, die im Laufe diese Vormittages noch kamen. Mit dem stoischem Blick einer Schlange, die ihre Beute beobachtet, versuchte er jeden zu identifizieren, der nur an-nähernd in sein imaginär es Verdachtspersonen-Profil passte. Auch wenn er jedes Mal zuckte, sobald sich an der Eingangstüre etwas tat, gab es keinerlei verdächtige Tagebuchfrauen. Auch in den nächsten beiden Stunden nicht. Peter musste an diesem Tag ein weiteres Mal kapitulieren und seine Mission Impossible erfolglos abbrechen. Ein weiteres mal mehr war er unschlüssig, ob es überhaupt einen Sinn hatte, noch weiterzumachen. Es gab einfach keine Anhaltspunkte. Das Tagebuch bestand nur aus Wiederholungen von wahnsinnigem Hass, der Sehnsucht nach ihrer Mam und den Horror-Träumen. Das Tagebuch war verrückt, die Suche war verrückt, das was er tat war verrückt. Es kamen die Momente, wo er sich vorkam als hätte er einen Fluch auf sich gezogen.
Am Abend wollte er Rudi treffen, der heute in einer kleinen Bar am Stadtrand von Regenburg als Alleinunterhalter für einsame Herzen spielte. Aber dann kam wieder dieses unergründbare Verlangen zurück, das Tagebuch zu studieren, um endlich den entscheidenden Hinweis zu finden. Es musste doch irgendeinen Hinweis geben. Er wollte es nicht glauben. Und dann setzte er sich doch wieder an seinen Schreibtisch und blätterte weiter im Logbuch, um endlich diesen Hinweis zu finden, nach dem er suchte. Er wollte es diesen Dienstagabend zu Ende bringen, egal wie spät es werden sollte und begann weiterzulesen. Es war wieder eine dieser Traumgeschichten:
18. Dez.
wieder schlecht geträumt: Sitze mit meinen Eltern in einem eigenartigen Zug, Mam sagt „spring“ zu mir. Ich habe einen Fallschirm und springe. Ich erreiche den Boden nicht. Dann ist es kalt, ich friere. Bin in einer großen Halle und warte auf meine Eltern, aber sie kommen nicht....
17. Dez.
Hab nur meine Platten gehört, nichts gegessen nichts getrunken, fühle keinen Hunger keinen Durst . Fühle gar nichts. Ein Universum voller Leere
Wie alt wird sie wohl sein? Die Songs der Textzeilen haben wohl schon dreißig und mehr Jahre auf dem Buckel, und bei ihren Platten wird es nicht anders sein. Aber auch das hatte nichts zu sagen, auch Peter hatte ein Faible für Songs, die man eigentlich Oldies nennt. Und da war er nicht der einzige Musikbegeisterte, der nicht mit diesen Musiktiteln aufgewachsen ist und trotzdem die alten Platten hörte. Für Peter selbst war die Musik sowieso zeitlos und die Musikepoche der Siebziger und Achtziger eine absolute Kultangelegenheit. Vielleicht war auch das einer der Gründe, warum Peter sich so seelenverwandt angezogen fühlte.
13. Dez.
Wenn Hass stark macht, dann will ich ihn abgründig tief hassen.
11. Dez.
Ich hasse dich, wie man einen Menschen nur hassen kann. Mache nicht den Fehler, mir eines Tages über den Weg zu laufen. Ich kann für nichts garantieren. Ich habe schon meine Tante gehasst, weil sie mir meine Jugend zerstört hat, dich hasse ich noch tausendmal mehr, du hast meine Lebens-Existenz und noch viel mehr zerstört
Wie kann man nur so hassen? Das einzige was Peter hasste, war ein Spießerleben zu führen mit einer Vielzahl von Regeln und einem schnöden Langeweile-Eintagstrott. Per-sönlich kam er mit den meisten Mensch klar. Und er hatte viele Menschen getroffen. Sicher musst du manchmal hart sein und hart bleiben, wenn es um geschäftliche Dinge geht. Aber es gibt immer diesen Punkt, wo du wissen solltest wann und wo die Grenze ist. Als Lebens-Lektion hatte Peter gelernt, Menschen zu akzeptieren wie sie sind. Du kannst Menschen nicht ändern, aber du kannst einen Bogen um sie machen. Mit dieser Devise, hatte Peter es sich im Leben relativ einfach gemacht, Menschen die ihn negativ beeinflussten aus dem Weg zu gehen. Auch das war die Freiheit seines Lebens, dass er sich sein Umfeld aussuchen konnte.
10. Dez.
Ich war einfach scheißblöd. Wie konnte ich ihm nur so vertrauen so ohne wenn und aber, so verdammt gutgläubig sein? In mir ist purer Hass, nichts als Hass. Was wäre aus mir geworden...
8. Dez.
Bin eine Kämpferin. Hab mich schon als Kind nicht unterkriegen lassen, nicht von diesem Eisblock in Person, die mir alles verboten hat was ich gerne gemacht habe und nicht von den Lehrern, den Therapeuten und all den anderen, die es angeblich immer nur gut mit mir gemeint haben...
-when people can be so cold -they`ll hurt you and desert you -and take your soul if you let them -oh, but dont you let them-
Auch Peter hatte gekämpft, allerdings nicht gegen unbesiegbare Feinde. Er hat gekämpft um seine eigenständige Existenz, gekämpft um oder gegen die Vorurteile seiner besorgten Eltern, gekämpft, um seine Visionen Wirklichkeit werden zu lassen. Und letztendlich hatte sich sein Kampf, so wie es jetzt gerade aussah, endlich gelohnt. Der Auftrag, auf den er jahrelang gewartet hatte, eine Produktion zu fertigen, eine Titelmelodie und den dazugehörigen Soundtrack für eine Fernsehserie, war so gut wie fix. Die Vorschusslorbeeren der Produktions-leitung waren viel-versprechend. Eine Co-Produktion des BR mit 3Sat. Endlich wegkommen von seinem No-name-Werbesong-Image oder der Vielzahl von Vertonungen für Reportagen, wo der Ton-Produzent nichtssagend im Hintergrund verschwindet. Vielleicht stand er jetzt kurz vor seinem Durchbruch, für den er so lange gekämpft hatte.
19. Nov.
Bin auf standby, kann nicht nachdenken, keine Kraft, nur diese lähmende Leere in mir, die alles auffrisst, was nach Gefühl schmeckt
16. Nov.
Einfach unbegreiflich. Scheiße und nochmal Scheiße. Wie soll ich das alles durchstehen? Nur der Teufel persönlich kann so ein mieses Schwein sein. Mam kannst du mich hören? Manchmal rede ich mit dir, warum höre ich dich nicht? Sag mir wie mein Leben weitergehen soll. Ich weiß es nicht, ich weiß gar nichts mehr.
5. Nov.
-when you`re down in troubles -and you need some love and care -and nothing, nothings goin right
Möchte singen, so wie früher. Kann nicht. Meine Stimme ist gebrochen wie alles in mir.
Es gibt diese Momente im Leben, wo man an einer Wand steht, die unüberwindlich ist. Und doch, diese Momente gehen vorüber. Peters Antwort darauf war: Musik. Mit Musik die Menschen einen Song lang die Welt um sich herum vergessen lassen, war seine musikalische Philosophie. Aus einzelnen Tönen eine Melodie zu machen die im Ohr bleibt, ein Traum, und einen einzigen Hit zu schreiben, der einmal die Woche im Radio zu hören ist ein Wunder. Musik ist der Ausdruck von Emotionen für den, der sie entstehen lässt und eine wohltuende Medizin für den, der sie in sich eindringen lassen kann.
3. Nov.
Es ist ein Versuch. Hab niemand zum Reden. Vielleicht ist es gut, meine Gedanken aufzuschreiben so wie damals. Dieser ganze scheiß Wahnsinn. Alles wegen diesem gottverdammten Arschloch. Wann geht dieser Albtraum endlich zu Ende?
Hier hatte sie also begonnen, im November letztes Jahr, ihre Gedanken in das Logbuch ihrer Seele, wie sie es als Überschrift bezeichnete, aufzuschreiben. Was war vorher passiert? Manchmal sind unsere Gedanken eingesperrt wie in einem Gefängnis. Und nur, wenn man den richtigen Schlüssel findet, werden die Gedanken endlich frei. Was war ihr Gefängnis gewesen, was und wo war ihr Schlüssel zur Freiheit? Jede Nacht hat ein Geheimnis. Dieses Tagebuch hatte nur Nächte.
Es war spät geworden, als er das Tagebuch zu Ende gelesen hatte. Peter war benommen von diesem Cocktail aus Zweifel und Hoffnungslosigkeit und dem geträumten Wahnsinn von Angst, Schmerz, Einsamkeit und Hass, die wie Szenen aus einem Horrorstreifen wirkten. Aber eine Antwort auf seine Fragen gab es auch jetzt nicht.
Seine musikalische Philosophie und die vielen Stellen mit diesen Parallelen waren der wahre Grund gewesen, warum er sich auf dieses rätselhafte Tagebuch eingelassen hatte. Zu gut konnte sich Peter an gewissen Stellen des Tagebuches in sie hineinversetzten, was in ihr vorgehen musste und nur zu gerne hätte er die Botschaft dieser Textzeilen verstanden, falls das der Schlüssel gewesen ist.
Seine Gedanken formulierten folgenden Steckbrief :
Name: unbekannt
Alter: entweder oder...
Haarfarbe, Augenfarbe, Größe und Gewicht: unbekannt
Hobby: singen
Kontaktdaten: unbekannt
Beruf: unbekannt
Sternzeichen: unbekannt
besondere Kennzeichen: gebrochenes Herz, zerbrochenes Vertrauen
Was waren nun seine Anhaltspunkte nach den letzten Zeilen? Es gab keine. Das einzig Reelle, was wirklich existierte waren nur diese Textzeilen von Carole King, Bonnie Tylor, und Melanie. Der Rest waren Vermutungen, vielleicht Visionen, vielleicht auch alles Hirngespinste einer Verrückten oder ein Drehbuch für einen Steven-King-Film. Doch genauso gut konnte es auch ein Hilferuf sein. Alles war möglich und doch hatte er nichts in der Hand, so sehr er es wollte, und so sehr er versucht hatte irgendeinen Hinweis zu finden. Da war nicht der Hauch einer Spur, nicht ein mikroskopisch kleiner Strohhalm, an den er sich klammern konnte. War er bereits am Ende der Suche, oder war es erst der Anfang? Kein anderer als Bob Dylon war es, der ihm die Antwort auf seine Frage gab: „The answer my friend is blowin in the wind“ klang aus dem Radio seines Lieblingssenders Bayern 1 im Hintergrund, als Peter die letzte Tagebuchseite gelesen hatte.